Margot Käßmann, Deutschlands bekannteste Theologin, legt in ihren Predigten und Büchern, ihren Reden, Interviews und Podcasts immer wieder Zeugnis ab von ihrem unerschütterlichen christlichen Glauben. Welches Verhältnis aber hat sie zur Musik? "Ich kann mir ein Leben ohne Musik nicht vorstellen. Musik trägt uns weit über den Alltag und alles Elend hinaus", sagt sie im Gespräch mit Rafael Rennicke und bindet ihr Wunschmusikprogramm ein in ein Nachdenken über Gott und unsere Welt. Die Musikliste reicht von Johann Sebastian Bach bis Konstantin Wecker, mit dem zusammen Margot Käßmann in diesem Jahr das Buch „Entrüstet Euch! Von der bleibenden Kraft des Pazifismus“ aus aktuellem Anlass neu herausgegeben hat.
Singen: Durch die Kehle kommt die Seele zum Tragen
„Ich bin keine Klassikexpertin, aber Theologie und Musik haben ja durchaus Berührungspunkte“, schrieb mir Margot Käßmann in ihrer spontanen Zusage für diese Sendung. Die alleräußerlichsten Berührungspunkte liegen auf der Hand: Der Berufsalltag der ehemaligen Gemeindepfarrerin, Bischöfin der größten evangelischen Landeskirche in Hannover und Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland war jahrzehntelang geprägt vom engen Zusammenhang zwischen Musik und Liturgie.
Wie prägend dabei schon die Jahre ihrer Kindheit für sie waren, erzählt Käßmann in dieser Sendung. Ihre Großmutter habe in der Küche alte Kirchenlieder gesungen – und das trotz zweier Weltkriege und existenzieller Leiderfahrung. „Ich denke, dass das Singen etwas mit der Seele zu tun hat. Im Hebräischen ist der Begriff für ‚Seele‘ derselbe wie für die ‚Kehle‘. Durch die Kehle kommt unsere Seele zum Tragen. Singen ist für mich auch Ausdruck des Glaubens und Teil der Spiritualität.“
Johann Sebastian Bach: Der fünfte Evangelist
Spiritualität sei für sie „die Erfahrbarkeit, die sinnliche Erlebbarkeit meines Glaubens“, so Käßmann.
„Musik lässt uns über das normale Leben hinaus etwas spüren. Das gilt sicher auch für Menschen, die keinen Glauben an einen Gott haben. Die sagen mir oft: In der Musik ist irgendwie auf einmal das Sinnliche dieser Welt erlebbar.“
Zum Beispiel auch im faszinierenden Klang der Orgel oder in der Musik Johann Sebastian Bachs – für Käßmann ist er unbestritten „der fünfte Evangelist“. Im Eröffnungschor der Reformationskantate „Ein feste Burg ist unser Gott“ BWV 80 zeige sich, wie großartig Bach mit musikalischen Mitteln Texte interpretiere, wie er in Tönen predige. „Mit einer so großen Leichtigkeit, Wärme und Lebenslust ist das vertont! Ich glaube, Luthers Text wird durch Bach auf eine Weise lebendig, die Luthers Intentionen entspricht.“
Besonders wichtig für die Gemeinschaft: Chöre
In ihrer Jugend hat Margot Käßmann auch eigene Musik-Erfahrungen an Instrumenten gesammelt. Die Faszination für die Blockflöte und Geige habe sich zwar in Grenzen gehalten, sagt sie schmunzelnd. Doch habe sie als Jugendliche mit großer Begeisterung im Posaunenchor ihrer hessischen Heimatgemeinde Stadtallendorf gespielt: „Für uns war die Kirchengemeinde das soziale Leben. Der Posaunenchor hat dabei eine große Rolle fürs uns gespielt. Das war eine Horizonterweiterung über die Musik, auch über das eigene soziale Umfeld! Und das wird bis heute oft unterschätzt: Chöre – egal ob instrumental oder vokal – sind auch Jugendarbeit! Sie integrieren in die Gemeinschaft.“
„Frieden ist keine Illusion, Frieden ist machbar“
Die Spuren ihrer musikalischen Faszination führen auch weit aus Gotteshäusern hinaus. Für die heute 64-Jährige ist immer auch die Musik ihrer Generation prägend gewesen – etwa Musik von Reinhard Mey oder Konstantin Wecker. Mit dem hat sich Käßmann 2015 zusammengetan und das Buch „Entrüstet Euch!“ herausgebracht, Untertitel: „Warum Pazifismus für uns das Gebot der Stunde bleibt“. Die Textsammlung erschien im Juli dieses Jahres erneut, als aktualisierte Neuauflage, und sie dürfte derzeit brisanter sein denn je. „Frieden ist keine Illusion, Frieden ist machbar“, heißt es darin.
In dieser Sendung erzählt Margot Käßmann, was sie und Konstantin Wecker zusammengebracht hat und was sie miteinander verbindet. Weckers Anfang der 1980er-Jahre komponiertes Lied „Wenn unsere Brüder kommen“ sei, so Käßmann, „eine echte Provokation“, stehe aber für ihre pazifistische Überzeugung, auch und gerade in diesen Zeiten.
Käßmann spricht sich auch in dieser Sendung noch einmal entschieden gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und gegen das Aufrüsten der Bundeswehr aus: „Ich bin überzeugt: Wir sollten aufgrund unserer Geschichte eine andere Haltung haben. Dass der Konsens, keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete zu liefern, so schnell über den Haufen geworfen wird, hat mich erschüttert“, sagt sie und plädiert unverdrossen für Gespräche: „Deutschland könnte doch sagen: Wir haben Europa mit zwei Weltkriegen überzogen – wir sind jetzt diejenigen, die die ganz starken diplomatischen Initiativen ergreifen.“ Bildung, Aufklärung und Widerstand gegen Diktatoren sei nötig.
„Es ist wichtig, dass wir in Gesprächen bleiben – als Kirchen, als Städte- und Universitätspartnerschaften. Wir brauchen genau diese Kontakte, um die russische Zivilgesellschaft widerstandsfähig zu machen und diejenigen zu stärken, die aufbegehren.“
Glaube und Musik als Mittel gegen Krisen
Dem Gegenwind, der ihr in der öffentlichen Debatte immer wieder entgegenschlägt, hält Käßmann wie gewohnt Stand. Auch, weil sie um die stärkende Kraft der Stille weiß. „Wir leben in einer Ablenkungsgesellschaft, die Stille gar nicht mehr zulässt“, sagt sie und betont: „Nur wer Stille findet, kann hören lernen.“ Und sind die Ohren erst einmal derart sensibilisiert, kann auch Musik auf neue oder ganz andere Weise zu einer Offenbarung werden. „Wie können wir uns stärken, wenn unsere Seele leidet? Was können wir tun, wenn alte Gewissheiten weggebrochen sind?“
So fragt Margot Käßmann in ihrem Buch „Nur Mut!“, das die Zeit der Corona-Pandemie reflektiert. Es ginge jetzt, in dieser Krise, darum, Hoffnung zu verbreiten. Und für Käßmann steht fest: Es gibt den Glauben und es gibt die Musik, damit wir nicht verzagen müssen. Ganz im Sinne des Kirchenlieddichters Paul Gerhardt aus dem 17. Jahrhundert, den Margot Käßmann freundlich herbeizitiert: „Du, meine Seele, singe, wohlauf und singe schön…“
Liste der im Gespräch erwähnten Bücher von Margot Käßmann:
Entrüstet Euch! Von der bleibenden Kraft des Pazifismus
hg. mit Konstantin Wecker, Verlag bene!, Neuauflage 2022
Mit mutigem Schritt zurück zum Glück. Weil uns das Leben immer wieder überrascht
mit Andreas Helm, Verlag bene!, 2021
Stärkende Stille
Verlag Herder, 2020
Folge dem, was Dein Herz Dir rät. Biografie
von Uwe Birnstein, Verlag bene!, 2018
Entrüstet Euch! Warum Pazifismus für uns das Gebot der Stunde ist
hg. mit Konstantin Wecker, Verlag bene!, 2015
Hoffnung unterm Regenbogen oder: In der Not ein Halleluja singen
edition chrismon mobil, 2010