Oscar-Favorit „Close“: Männer werden auf dem Schulhof gemacht - WELT
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Kultur Oscar-Favorit „Close“

Männer werden auf dem Schulhof gemacht

Redakteur Feuilleton
Besondere Freundschaft: Léo (r.) und Rémi Besondere Freundschaft: Léo (r.) und Rémi
Besondere Freundschaft: Léo (r.) und Rémi
Quelle: Pandora Film
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Wie die Gesellschaft aus Jungs Männer macht und was Männer mit Männern machen, ist eines der zentralen Themen des Filmjahres. Lukas Dhont erzählt in „Close“ – Konkurrent von Edward Bergers „Im Westen nichts Neues“ um den Auslandsoscar – die Geschichte der tragischen Freundschaft zweier 13-Jähriger.

Draußen ist der Feind. Mindestens achtzig Mann stark. Eine Ritterarmee. Bleib hier, sagt Léo noch. Dann laufen sie los. Léo und Rémi. Immer schneller.

Es ist Sommer. Durch ein Blütenmeer laufen sie. Nicht im Wettkampf. Im Gleichklang. Sie sind 13. Ganz besondere Freunde. Seelenbrüder, Herzensbrüder. Blond der eine, dunkel der andere. Sie ergänzen sich, bedingen sich.

Rüstungen gegen die Welt da draußen brauchen Léo und Rémi nicht. Und keine Worte für das, was sie verbindet, was sie einander sind. Sie haben ihre Blicke. Ihre Nähe. Sie sind sich sicher.

Und niemand hat etwas dagegen. Sie schlafen im gleichen Bett, wenn Léo mal bei Rémi übernachtet. Für Rémis Mutter ist Léo das Herzenskind.

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So könnte es bleiben. Hätte es bleiben können. Dann geht das Schuljahr los, von dem der Belgier Lukas Dhont in seinem Film „Close“ erzählt, der mit Edward Bergers „Im Westen nichts Neues“ um den Auslands-Oscar konkurriert. Ein entscheidendes, ein tragisches Jahr.

Es ist immer noch Sommer, als es beginnt. Aber gesellschaftliche Schwerkraft befällt bald die Zeit der Schwebe. Léo und Rémi radeln zur Schule, immer schneller, aber mit dem zärtlichen Blick aufeinander ist es bald vorbei. Sie brauchen Rüstungen, Begriffe, Identitäten. „Close“ ist die Geschichte der Vertreibung aus einem Paradies. Dem Paradies der Kindheit.

Und alles geht los mit einer Frage, die vermutlich gar nicht mal gemein gemeint war, die spielerisch, geradezu unschuldig auf den Schulhof gestellt wird. „Seid ihr ein Paar?“, fragt ein Mädchen. Der war aufgefallen, wie nah sich Léo und Rémi sind. Nach der Frage ist nichts mehr, wie es war.

Die Familie von Léo führt ein idyllisches Gartenbauunternehmen
Die Familie von Léo führt ein idyllisches Gartenbauunternehmen
Quelle: Pandora Film

Lukas Dhont, selbst offen homosexuell, ist ein Identitätssucher. Er geht dafür immer an die Quellen, die Ursprünge. 2018 war er schon einmal Auslands-Oscar-Kandidat.

„Girl“ hieß der Film. Von Lara erzählt Dhont damals. Das war 15 und trans, wollte unbedingt Ballerina werden und wurde vom transphoben Mob ihrer Schule zu absurden Handlungen an sich getrieben. Auf der Schule als Zurichtungsstätte unserer Identität kennt sich Dhont ziemlich gut aus.

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Für „Close“ hat er seine alte Schule aufgesucht und seine Kindheit und Langzeituntersuchungen darüber gelesen, wie sich das Bewusstsein von Männlichkeit entwickelt. Wie Männer gemacht werden auf dem Schulhof. Wie die Welt, die Sprache, das Bewusstsein von Jungs sich da verändert, in Normen gepresst, verhärtet wird. Welchem Druck Jungs ausgesetzt sind, die scheinbar in kein Raster passen. Und mit welchen Folgen. Jungs wie Léo und Rémi.

Oboe spielen als Liebesbeweis

„Close“, das soll zwischendurch schon mal gesagt sein, ist einer der (vermutlich, das Jahr ist ja noch lang) schönsten, zärtlichsten Filme des Jahres. Und einer der trotzdem psychologisch penibelsten. Ganz ohne Makel ist er nicht. Das hat etwas mit der Erzählökonomie zu tun. Und mit einer Entscheidung Dhonts, die verständlich, aber nicht folgenlos ist.

„Close“ ist nämlich nicht die Geschichte von Léo und Rémi, bleibt nicht die Hymne auf eine unbeschwerte Jungsfreundschaft. Von dem Moment an, als das Mädchen auf dem Schulhof seine Frage stellt, verschiebt sich das Gewicht zwischen den beiden Jungs und in der ganzen Erzählung.

Für Rémi, der Oboe spielt, der seinen Kumpel als höchsten Liebesbeweis sogar auf seinem Instrument spielen lässt, verändert sich anscheinend nichts. Er ist der freie Geist, er will schweben bleiben. Léo aber lässt ihn allein.

Er glaubt, sich entscheiden zu müssen. Er will nicht weich, will männlich scheinen, schließt sich den Bullys der Klasse an, geht ins Eishockey-Team. Da tragen alle Rüstungen, da geht’s körperlich zu, da dampft es vor Testosteron überm Eis. Dhonts Film, so zauberhaft, so zärtlich er ist, wird schon von einem arg simplen Schematismus grundiert.

Die Angst der Gesellschaft vor allem, was weiblich ist, was angeblich weich ist, hat Lukas Dhont als entscheidend ausgemacht für die Zurichtung von Jungs gerade in dem Alter von Léo und Rémi. Für die Prägung auf ein Männlichkeitsideal, das sich trotz aller Geschlechterrollen- und Männerdebatten des vergangenen halben Jahrhunderts vermutlich seit der Steinzeit nicht wesentlich verändert hat.

Wozu das führen kann, führt Dhont dann auch konsequent vor. Irgendwann ist Léo nämlich allein. Die Auflösung des symbiotischen Verhältnisses, die klammheimliche Aufkündigung der Freundschaft, den Zwang zur Festlegung auf einen Verhaltenskodex, die Aufkündigung einer Liebe, die niemand als solche bezeichnen würde. Und Frank van den Eedens Kamera, die ihn sowieso die ganze Zeit mehr geliebt hat als Rémi, folgt Léo in und durch eine existentielle Krise, die unbeschadet eigentlich keiner übersteht.

Männlicher werden: Léo (Eden Dambrine) spielt Eishockey
Männlicher werden: Léo (Eden Dambrine) spielt Eishockey
Quelle: Pandora Film
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Dass „Close“ einem so nah kommt, dass man irgendwann nicht mehr nachdenkt darüber, ob, was man da sieht, im Zeitalter von TikTok und Whatsapp überhaupt wirklich noch aktuell und nicht eine Geschichte aus der geradezu vorindustriellen, vorsocialmedianesken Zeit der Jugend von Lukas Dhont ist, auf die Idee kommt, nachzufragen, was Rémi nun wirklich zugestoßen ist, dass man Léo mit der Unbedingtheit folgt, die Dhont braucht und den Sog seines Films ausmacht, hat natürlich etwas mit Frank van den Eeden und seinen Bildern zu tun, die immer ganz nah bleiben an den Bewegungen, den Gesten, den Gesichtern.

Aber eben auch mit Eden Dambrine. Der ist Léo wie bisher kaum ein Junge im Kino ein Junge war Ein Junge von fast tadziohafter Schönheit und ziemlich erheblichem Tiefgang. „Close“ ist nicht perfekt. Rundet aber den Oscar-Jahrgang der Männer-Filme – „Banshees of Inisherin“ und „Im Westen nichts Neues“ – ab. Muss man alles sehen.

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