Schon seit Jahrtausenden erzählt Musik Geschichten mit rhythmisch strukturierten Klängen. Moderne (zeitgenössische) Musik verarbeitet für ihre Geschichten die Klangeindrücke der Gegenwart. Im Zentrum des gestrigen Konzerts des niederländischen Ensembles Asko|Schönberg im Muziekgebouw Amsterdam stand eine geniale Komposition mit Autohupen, Druckluftbremsen und aufgeschnappten Wortfetzen.

Loading image...
Asko|Schönberg mit Clark Rundell
© Félice Hofhuizen

Steve Reich verwendet in City Life (1995) neben herkömmlichen Instrumenten digitale Sampler mit einer Vielzahl von Geräuschen und Sprachsamples aus seiner Heimatstadt New York City und seinem eigenen Herzschlag. Der Einsatz der Sampler erweitert die Idee, Alltagsgeräusche in der Musik zu verwenden und ist Gershwins Ein Amerikaner in Paris, Varèses Sirenen und Antheils Flugzeugpropeller in der klassischen Tradition ebenso verpflichtet wie dem Rock'n'Roll und dem Rap. Reichs Technik der minimalistischen Verarbeitung der New Yorker O-Töne geht auf seine ikonischen frühen Tonbandstücke wie It's Gonna Rain (1965) und Come Out (1966) zurück. Reich entdeckte damals am Beginn seiner Karriere die hypnotische Wirkung einer konsequent minimalen Phasenverschiebung von ein und derselben Aufnahme.

Die fünf ineinander ohne Pause übergehenden Sätzen atmen hektische Lebendigkeit: In Check it out wird dieser kurze Satz so oft von verschiedenen Instrumenten rhythmisiert wiederholt, dass man sie am Ende mitsingen kann. Im dritten Satz It’s been a honeymoon spielt Reich mit Wortsilben, als wären es bunte Bälle und Kegel, die von einem Zirkusjongleur endlos lang elegant in der Luft gehalten werden. Die Musik pulsiert und überrascht durch ständig neue Entwicklungen und Impulse. Das groß besetzte Asko|Schönberg Ensemble fand in diesem Stück endlich zu seiner Form, auch wenn die Abstimmung zwischen den elektronisch verstärkten Instrumenten und dem dazu gemischten Bandmaterial nicht immer optimal war.

Von den drei Stücken vor der Pause stach vor allem das Musikvideo hervor. Appèl Interstellaire ist ein virtuoses Hornsolo aus dem großen Werk Des canyons aux étoiles von Olivier Messiaen. Die Aufnahmen für dieses Stück fanden vor der 87 Meter hohen Treppe von Krijn Giezens Kunstwerk Kijk Uit Attention im Skulpturengarten des Kröller-Müller-Museums statt. Es entstammt einer mittlerweile auf zehn Videos angewachsenen Anthologie mit dem vielsagenden Namen Stairway to Music. Entstanden in der Coronazeit ist auch diese Serie inspiriert von einer Geschichte: Wenn der Anfang 2020 verstorbenen Dirigent und Pianist Reinbert de Leeuw in seiner Wohnung Klavier spielte, setzten sich die Bewohner seines Wohnblocks oft schweigend ins Treppenhaus, um ihm zuzuhören. Unbemerkt teilte der Musiker so seine Klänge mit seinen Mitbewohnern. Die beeindruckenden filmisch kunstvoll in Szene gesetzten kurzen Musikvideos sind ein nachahmenswerter Schritt, um spannende Konzertmusik einer neuen Generation von Hörern digital schmackhaft zu machen.

Das Konzert begann mit Reichs Double Sextet (2007). Ausgeführt von zwei identischen Instrumentengruppen, erscheint die Musik wie ein Spiel, in dem die Gruppen sich gegenseitig Klangfelder wie Bausteinblöcke zuwerfen. Clark Rundell tanzte dirigierend elegant von einem Bein aufs andere. Dennoch gelang es ihm nicht immer alle Musiker im selben Puls zu halten. Obwohl das Ensemble nach kurzer Zeit immer wieder zusammen fand, raubten diese kleinen rhythmischen Störungen dem Stück den schwungvollen Fluss.

Tansy Davies schrieb Canopies of Liquid Light im Auftrag von Asko|Schönberg als Partnerkomposition zu City Life. Wie Reich ließ auch sie sich von dem inspirieren, was sie beobachtete, doch ihre Umgebung war eine ganz andere. Davies hielt sich nämlich während des Komponierens letzten Sommer in Südfrankreich auf. „Ich war von Bäumen umgeben, aber das Sonnenlicht war unglaublich hell”, sagt sie. „Zu dieser Zeit las ich viel über Sonneneruptionen und Quantenphysik, und mir kam der Gedanke, dass Musik und Licht Teil all dieser unsichtbaren Kräfte um uns herum sind.” Davies wollte diesen unsichtbaren Kräften des Kosmos eine musikalische Form geben. Eingebettet in das minimalistische Universum des amerikanischen Großmeisters kamen ihre Intentionen nicht überzeugend von der Bühne. Davies' Spiel mit Klangblöcken war zu durchschaubar. Auch beschränkte sich ihr Klangrepertoire auf zu wenig abwechslungsreiche Farben. Ihre Geschichte überzeugte gestern Abend nicht.

***11