Wenn man nicht weiß, wie etwas geht, schaut man ein Video. Auch das neue Album von Christina Aguilera wird im Internet von einem kurzen Film erklärt. Unter dem Titel „Where’s Maria? (Liberation by Christina Aguilera)“ zeigt die Fotografin Zoey Grossman, wie die Platte zu verstehen ist. Als Manifest der inneren Freiheit und des selbstbestimmten Lebens: So sagt es die Sängerin, die, als das 21. Jahrhundert angebrochen war, den alten Beinamen „The Voice“ auftragen durfte, während sie dabei im Gras liegt, auf dem Wasser treibt, einen Kristall berührt und Kerzen für sich anzündet. Sie rekelt sich im Bett und sitzt auf der Toilette. „Ich bin ich“, sagt sie.
Das Album „Liberation“ fängt mit „Liberation“, einer gleichnamigen Ouvertüre für Klavier und Kinderlachen, an. „Wo bist du?“, fragt Christina Aguilera: „Bist du da?“ Das zweite Stücke heißt „Searching for Maria“ und ist ein Choral. Im dritten Stück, „Maria“, spielt ein Cembalo, sie selbst singt zu einem Marienlied von Michael Jackson etwas aus dem Musical „The Sound of Music“. Die Maria, die sie sucht und findet, ist sie selbst. Maria ist ihr zweiter Vorname.
Sehnsucht nach Achtsamkeit
Im Video, im Tutorial zum Album, blättert sie durch ihre Tagebücher und erklärt, dem „Journaling“ als Mädchen schon gefrönt zu haben. Sie sagt wirklich „Journaling“. Ein neues Wort fürs Tagebuchführen, um „Journaling“-Produkte zu vermarkten, Hefte, Stifte, Klebebilder und Schablonen – wie man als Erwachsener nicht einfach Bücher ausmalt, sondern „Adult Coloring“ betreibt und Frühaufstehen heute als „Miracle Morning“ zelebriert. Bei ihrem „Journaling“ entschuldigt sich Christina Aguilera schriftlich bei sich selbst für jede Sommersprosse, die sie überdeckt und jede Narbe, die sie vor der Welt verborgen hat. Am Ende ihres Videos zeigt sie ihren manikürten Mittelfinger.
Alle Welt sehnt sich nach Achtsamkeit, nach „Mindfulness“, nach einfachen Verrichtungen im komplizierten Dasein, um den ökonomischen und kulturellen Zwänge zu entkommen. Doch dann landen alle immer nur im Seminar für „Digital Detoxing“ oder beim „Journaling“.
Aber dann ist das eben auch Christina Maria Aguileras Geschichte: Als sie Kind war, war sie eine der Dressurnummern in Disneys „Mickey Mouse Club“, neben Ryan Gosling, Britney Spears und Justin Timberlake. Sie musste zum Erwachsenwerden nicht, wie Britney Spears, den Umweg über würdelose Handyfotos in sozialen Netzen und Entzugskliniken nehmen. Ihre Stimme war ihr Schutz.
Sie konnte „Genie in the Bottle“ im Bikini singen und mit 25 Jahren ihren Abschied vom Musikgeschäft verkünden mit „Back to the Basics“, einem Album, das die Gründerzeit der Popmusik aufleben ließ, die Ära zwischen Großer Depression und Weltkriegsende. Die Musik klang wie die altmodischen Hüte, die sie dazu trug. Wenn schon Christina Aguilera alle Hoffnung fahren ließ, hatte der Popsong als sich stetig selbst verjüngendes Medium keine Zukunft mehr.
2010 kehrte sie mit „Bionic“ aus dem Ruhestand zurück als übermenschliche Maschinenfrau. Sie war Fritz Langs Maria aus „Metropolis“, eine mechanische Figur, wie von Fritz Kahn gezeichnet, ein Geschöpf wie aus den Schriften von Julien Offray de La Mettrie: „Der menschliche Körper ist eine Maschine, die selbst ihre Federn aufzieht.“ Da war auch der Popsong als Perpetuum mobile zurück. Mit einem Meisterwerk.
Frauen beherrschen die Welt
Christina Aguilera machte sich im Klappentext des Albums 20 Jahre älter und erklärte, dass die Frauen die Welt beherrschen: „Wir gebären. Wir lassen Leben entstehen. Wir tun alles. Wir arbeiten, ziehen Kinder auf und halten die Stellung.“ Jede Frau sei eine Supernova. Ihren Sohn konnte man auf „Bionic“ nach ihr rufen hören, Mama hatte allerdings zu tun. Danach gab es das Album „Lotus“, auf dem sie aus einer Blüte neu geboren wurde, dann verschwand sie wieder, vor sechs Jahren. Seit zehn Jahren war sie auf keiner Tournee mehr.
„Liberation“ ist Christina Aguileras bisher wunderbarste Wiederkehr. Noch größer als ihr Präsidentschaftswahlkampf für Barack Obama, als sie sich von Herbie Hancock am Klavier begleiten ließ, noch größer als ihr legendärer Auftritt bei den Grammys, als sie „It’s a Man’s World“ von James Brown als Nachruf auf die Macht der Männer schmetterte. Noch größer als ihre Initiativen zur Welthungerhilfe und ihre Parfüms.
Man käme, um das Album so zu hören, wie sie es sich wünscht, auch gut ohne die Video-Anleitung zurecht. In „Like I Do“ singt sie, dass sie sich selbst genügt. In „Masochist“ klagt sie: „Ich war so masochistisch, mir selbst wehzutun auf meine Art.“ Auch wenn die Lieder von der Liebe handeln, von den falschen Männern und dem Unglück, das die Männer über alle Frauen bringen, die es sich gefallen lassen, geht es um das große Ganze. Wie im Soul, wo Liebeslieder immer Gotteshymnen waren. Bei Christina Aguilera ist die Liebe die Metapher für ihr eigenes Wohlbefinden.
Was ist der Preis?
So singt sie in „I Don’t Need It Anymore“, dass sie die falsche Liebe nicht mehr nötig habe, wie sie überhaupt nichts Überflüssiges mehr brauche. Shopping, früher einkaufen, sei sinnlos, weil es einen auch nicht von den Sünden reinwasche. Ein Song zum Downgrading, ein Lob der, wie es früher hieß, Genügsamkeit. Vom Brauchen kommt sie zum Verdienen: In „Deserve“ fragt sie, womit sie das verdient habe, ihr schlimmes Leiden, aber auch ihr schönes Leben mit Kaffee und Pfannkuchen zum Frühstück. „Twice“, das darauf folgende Lied, fragt nach dem Preis für alles.
Dass die Antwort auf Ökonomie immer Ökonomie lautet, ist das Dilemma, in dem jede Sinnsuche und jede Selbstbefreiung in der digitalen Industriegesellschaft endet. Coaching, Mindstyling, Journaling. Christina Aguilera sagt in ihrem Video zum Gebrauch des Albums, dass sie nicht so stark sei, wie ihre Musik vermuten lasse, sondern sensitiv, verletzlich und emotional. Sie schmollt mit ihrem frisch gemachten Entenmund, sie sieht sich Fotos ihrer schweren Kindheit an und weint.
Im Video zum Song „Fall in Line“ spielen zwei Mädchen unschuldig auf einer Blumenwiese. Sie werden von Schergen, die wie Daft Punk aussehen, entführt, in Frauen verwandelt und im Arbeitslager zum Gesang gezwungen. Die Blondine ist Christina Aguilera, die Brünette ist Demi Lovato, ihre etwas jüngere Kollegin aus dem Disney-Kosmos. Aber sie sind mächtig. Sie können dem Drill entfliehen und landen als Mädchen wieder auf der Wiese. „Dreamers“ heißt ein Zwischenspiel, in dem sich andere Mädchen dazu äußern, was sie einmal werden wollen: Löwin, Superheldin, Journalistin, Ärztin, unsichtbar, ihr eigener Boss und Präsidentin.
Eine wurde Sängerin, die vielleicht größte, die es in den Nullerjahren gab. Sie demonstriert auf „Liberation“, wozu ihre Stimme in der Lage ist, wenn sie ihr alles abverlangt und sich die Seele aus dem Leib singt: Sie beherrscht das Gospeln und das Growlen, Powerpop und Stadionrock, Ad libitum und A capella. Alles musikalisch eingehegt von Leistungs-Hip-Hoppern wie Kanye West. Es ist ein großartiges und tieftrauriges Album darüber, dass Freedom etwas anderes ist als Liberty und „Liberation“ das Versprechen einer Freiheit, deren Preis immer so hoch wie ihr Gewinn ist.
Christina Aguilera: „Liberation“ (RCA)