Kinder- und Kindheitsforschung sind ein einschlägiges und interdisziplinäres Forschungsfeld, das zentrale theoretische Figuren und Schlüsselthemen im deutschsprachigen Raum seit den 1980er Jahren ausdifferenziert. Es verweist auf neuere childhood studies und erziehungswissenschaftliche Kernthemen und untersucht auf unterschiedliche Weise Kinder und den Wandel von Kindheit(en). Das Hauptaugenmerk der Kindheitsforschung liegt seit den letzten Dekaden auf Kindern als Akteuren, die „früh eine ‚agency‘ entwickeln“ (Behnken und Zinnecker 2001, S. 11) und sich eigenwillig handelnd mit den gesellschaftlichen Bedingungen und normativen Vorgaben von dem, was Kinder in einem bestimmten Alter sind und sein sollten, auseinandersetzen (Abels et al. 2008). Sie bewegen sich zwischen elterlicher Autorität, Abhängigkeit und pädagogischer Regulierung auf der einen und Selbstgestaltungsmöglichkeiten auf der anderen Seite (Scherr 2018). Das Aufwachsen bleibt an grundlegende Fragen gebunden, nämlich die, „wie wir werden, was wir sind, und wie das unser Bild von uns selbst beeinflusst“ (Abels 2008 et al., o. S.). Es geht um die Produktion und Reproduktion sozialen Lebens (Tronto 1996), die Kindheit(en) als eine Lebensphase der Weltaneignung, der Suche nach Handlungsfähigkeit durch Kommunikation, Bildung und Lernen, Erziehung, Experimentieren, Partizipation oder Sich-Einüben in gesellschaftliche Mitgliedsrollen im Zusammenspiel komplexer gesellschaftlicher, kultureller und sozialer Bedingungen adressiert. Überdies werden in der kindlichen „Selbsthervorbringung durch Weltauseinandersetzung“ (Ricken 2019, S. 110) Alltagserfahrungen, Lebensverläufe, Ausdrucks-, Tätigkeits- und Erlebniswelten von Kindern (Krüger und Grunert 2022) zu einem relevanten Gegenstand für das kindliche (Er)Leben. Zugleich spiegelt sich in ihnen die Vielfalt von Kindheit(en), die uns sowohl historisch als auch gesellschaftlich in verschiedenen Lebenswelten in unterschiedlicher Gestalt begegnen (vgl. Behnken und Zinnecker 2001, S. 12).

Veranschaulichen möchten wir den einleitenden Problemaufriss mit einem Auszug aus der literarischen Erzählung von Zsuzsa Bánk, die eindrucksvoll und bildhaft Die hellen Tage einer Kindheit in einer süddeutschen Kleinstadt beschreibt und das Aufwachsen der drei Freunde Seri, Aja und Karl in den Mittelpunkt einer Kindheitsgeschichte stellt. Seri, eine der jungen Protagonistinnen, führt ein Gespräch mit sich selbst. Rückblickend bilanziert sie das Aufwachsen und thematisiert eine für das Erwachsenwerden zentrale Frage:

„Ich habe mich oft gefragt, wann wir begonnen haben, die zu werden, die wir als Erwachsene sind. Wer unsere Mütter waren, bevor sie anfingen, so zu sein, wie wir sie kannten. […]. Ob an einem bestimmten Tag unserer Kindheit etwas in uns wusste, was wir später einmal sein wollten“ (Bánk 2011, S. 257).

Wenn auch aus der Retrospektive auf den Lebensverlauf blickend, sucht Seri nach Antworten auf Perspektivierungen ihrer Kindheit. Wenngleich sie im Zitat keine Erwiderung auf die Frage formuliert, so wird deutlich, dass sie sich als Gewordene ihrer kindlichen Entwicklung adressiert und auf ihre Handlungsfähigkeit als Seiende Bezug nimmt. So ist die sich darin entfaltende theoretische Figur der Akteurschaft konzeptionell wie auch empirisch mit agency und der Handlungsgenese im Kindesalter verbunden. Sie unterstreicht eine entwicklungs- und handlungstheoretische Perspektive und betont, dass Kinder ihre eigene Entwicklung in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Anforderungen (mit)gestalten und zur Ordnung von Gemeinschaft und Gesellschaft beitragen: Kinder lernen sich zu orientieren und zu positionieren, sich zu erproben und widerständig zu zeigen; sie arbeiten sich an (normativ gesetzten) Entwicklungsaufgaben ab und beginnen eigene Werte und Ideale zu verwirklichen und Teil der Gemeinschaft zu sein; sie entwickeln neue Formen praktischen und moralischen Tuns, um eine „konkrete oder zumindest imaginierte Gemeinschaft“ (Behrend und Zizek 2019, S. 13) mitzugestalten.

In der Auseinandersetzung mit sich Selbst und der Welt werden Erziehungs- und Bildungsprozesse, eingelassen in Generationenverhältnisse, vollzogen (Hornstein 1999). Diese implizieren die intergenerationale Zuweisung von Rechten und Pflichten, die Zuschreibung von Bedürfnissen und Fähigkeiten (Bühler-Niederberger 2005) ebenso wie die Aushandlung „unterschiedlicher machtvermittelter Positionen in Gesellschaft, Politik, Kultur sowie in alltäglichen Handlungskontexten wie Familie, Schule und anderen öffentlichen Orten“ (Bühler-Niederberger und Mierendorff 2009, S. 450), aber auch spezifische Vorstellungen von Kindern und Kindheit(en). Hierin zeichnet sich eine zweite, zentrale Theoriefigur ab, die der generationalen Ordnung Diese betont – gewissermaßen auch als Antithese zur Akteurschaft von Kindern – die asymmetrischen und ungleichen Machtbeziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen und ihre gesellschaftlich subordinierte Positionierung. Mit der Theoriefigur generationaler Ordnungen rücken „die machtbezogene Relation von älteren auf jüngere Generationen ins Zentrum der Betrachtung, Praktiken der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen sowie die soziale Ordnung“ (Butschi und Hedderich 2021, S. 37). Beide Theoriefiguren und ihre empirische Erkundung stellen wir mit dem Band zur Diskussion. Darüber hinaus werden Kindheit(en) in ihrer theoretischen und gesellschaftlichen Konstruktion behandelt und die Bedingungen des Aufwachsens und die Lebenslagen von Kindern mit Bezug zur Forschung zu(m) Kind(ern) und Kindheit(en) reflektiert.

Von der Idee zum Projekt – Zur Entstehung des Bandes

Während der Coronavirus-Pandemie waren Kinder in öffentlichen Debatten deutlich wenig(er) hör- und sichtbar als Erwachsene, obwohl sie von der globalen Gesundheitskrise in besonderer Weise betroffen waren: Krippen, Kindertagesstätten und Schulen wurden geschlossen. Sie öffneten während der Lockdownphasen vielerorts nur zur Notbetreuung. Persönliche Kontakte sollten auf ein Minimum reduziert und auf das Private beschränkt werden. Zu beobachten waren auch die kindlichen Lebenswelten durchdringenden Widersprüche, die den Alltag von Familien belasteten und die familiale Lebensführung in Frage stellten. Mit der sich entspannenden pandemischen Lage wurden Kontaktbeschränkungen und die Schließungen pädagogischer Einrichtungen, aber auch von Spielplätzen, Sportstätten und Freizeiteinrichtungen schrittweise aufgehoben. Dabei orientierten sich viele Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie am Gemeinwohl und weiniger an den Interessen der primär betroffenen Kinder. Eine Stimme haben ihnen die Erwachsenen nicht gegeben. Sie haben es versäumt, Kinder in die Diskussion gesellschaftlich relevanter Fragen und Entscheidungen miteinzubeziehen. Stattdessen wurden ihre Rechte auf frühkindliche und schulische Bildung, soziale Kontakte, Spiel und soziale Teilhabe, wenn nicht verletzt, so doch massiv beschnitten. Die Retrospektive auf die pandemische Lage führt einmal mehr die Machtasymmetrie und ungleiche Positionierung von Kindern und Erwachsenen vor Augen, die ihren Alltag auf kontaktbeschränkten Alltagsinseln bewältigen mussten.

Die aktuellen Ereignisse, die pandemische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf Kinder, Jugendliche und ihre Familien warfen verstärkt Fragen zur Lebensführung auf und rückten somit auch Fragen nach der Handlungsfähigkeit und Lebensbewältigung von Kindern in den thematischen Fokus des am Lehrgebiet Allgemeine Bildungswissenschaft an der FernUniversität in Hagen vertretenen Arbeits- und Forschungsschwerpunkts. Wir, die Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes, die zu diesem Zeitpunkt gemeinsam an der FernUniversität in Hagen beschäftigt waren, wollten eine Plattform für aktuelle kindheitsbezogene Themen und die Sichtbarmachung von theoretischen und methodischen Zugängen und Fragestellungen zu Kindern und Kindheit(en) bieten, um kindheitsspezifische Problemstellungen zu erkunden und zu diskutieren. Im Sommer 2020 haben wir mit der Planung und Organisation einer Vortragsreihe mit dem Titel Kind(er) und Kindheit(en) im Blick der Forschung begonnenFootnote 1, die im Wintersemester 2020/21 digital stattfand. Neben einer Vielzahl Studierender der FernUniversität in Hagen nahm auch eine große Anzahl von Kolleg:innen unterschiedlicher Universitätsstandorte teil, um Vorträge zu historischen, theoretischen und empirischen Perspektiven auf Kind(er) und Kindheit(en) zu hören, sich mit den Lebenslagen von Kindern, den sich verändernden Bedingungen des Aufwachsens und aktuellen Bezügen zu gesellschaftlichen Transformationen auseinanderzusetzen und spannende Diskussionen anzuregen, die im nun vorliegenden Band in Hinblick auf zentrale theoretische Figuren und ihre empirische Erkundung aufgegriffen und weiter (aus)geführt werden.

Mit der Vortragsreihe wurde deutlich, dass sich Kinder- und Kindheitsforschung der Vielfalt und Vielschichtigkeit der Entwicklung kindlicher Lebensverläufe und ihrer komplexen Lebenslagen verpflichtet, sich mit Normierungen und der Institutionalisierung von Kindheit, der Gestaltung von Generationenverhältnissen, Gerechtigkeit, Ungleichheit und Differenz sowie mit Risiken von Kindheit(en) befasst. Zudem kristallisierte sich heraus, dass die Sichtbarkeit von Kindern als eigenständige Gruppe sozialer Akteure und ihre Positionierung in Gemeinschaft und Gesellschaft ein kollektives Anliegen der Kindheitsforschung darstellt, und dass sowohl im Hinblick auf theoretische Positionen als auch durch die Nutzung unterschiedlicher Feld- und Forschungszugänge und Forschungsmethoden. Akzentuiert wurde, dass kreative und aktuell vor allem partizipative Methoden entwickelt werden, um Erlebnisse, Erfahrungen und Perspektiven von Kindern in ihren unterschiedlichen Lebenslagen zu erforschen und „ihren Status als soziale Akteure und ihren Umgang mit sozialer Kompetenz und ihren Handlungszielen zu entziffern“ (Moran-Ellis 2013, S. 319). Bedeutsam ist dabei, „das Leben von Kindern, wie es von Kindern in der Gegenwart erfahren wird, einzubinden, um darauf Pläne und Aktionen aufzubauen, die ihr Leben und die Bedingungen für die ganze Gesellschaft verbessern“ (ebd.). So soll der Titel des Sammelbands, der beide – sowohl Kinder als auch Kindheiten im Plural anspricht – nicht nur die Themenvielfalt und die unterschiedlichen kinderbezogenen Problemstellungen der aktuellen Kinder- und Kindheitsforschung markieren, sondern er verweist implizit auch auf die unterschiedlichen methodisch-methodologischen Betrachtungsweisen zur Erschließung von Kindheit(en) als (eigenständige) Lebensphase. Themen wie Autonomie und Handlungsfähigkeit, Chancengleichheit, Bildung und Erziehung, Partizipations- und Ressourcengerechtigkeit, Wohlbefinden, Kinderrechte oder Kinderschutz werden damit nicht mehr alleinig als eine Frage der Ermöglichung seitens einer Erwachsenengesellschaft diskutiert, sondern auch unter dem Aspekt der wechselseitigen Wahrnehmung, Bearbeitung und Bewältigung von Disparitäten in Auseinandersetzung mit Kindern und Kindheit(en).

Die im Band vertretenen Autor:innen greifen die mit der Online-Reihe gesetzten Schwerpunkte auf. Sie setzen Impulse für aktuelle Entwicklungen im Fach und stecken das Feld der Kinder- und Kindheitsforschung ‚neu‘ ab. So vereint der Band entlang aktueller Forschungsperspektiven und Befunde aussagekräftige und originelle historische, theoretische wie empirische Beiträge aus den Geschichts-, Sozial- und Erziehungswissenschaften, die die besonderen Lebenslagen von Kindern in den Fokus rücken und den Eigenwert von Kindheit(en) herausstellen.

Zum Aufbau des Bandes

Im ersten Teil werden Kindheiten aus historischer Perspektive betrachtet. Den Auftakt macht Martina Winkler mit ihrem Beitrag Kinder, Kindheiten, Kindheitsgeschichte, in dem sie sich historischen Fragen widmet, in denen Kinder eine zentrale Rolle spielen und Kindheit als historische Kategorie sichtbar wird. Diese dezidiert historische Perspektive setzt sich mit den Entwicklungen der Kindheitsgeschichte als eine der Modernisierung in Europa und Nordamerika auseinander, und behandelt daran anschließend aktuelle Herausforderungen der Kindheitsforschung. Sie widmet sich nicht nur der Forschungsgeschichte, sondern gibt darüber hinaus auch einen Einblick in kontroverse historische Debatten, die sie abschließend sowohl mit dem aktuellen Forschungsstand als auch mit neuen Fragestellungen und Ansätzen in Verbindung bringt. Der daran anschließende Beitrag widmet sich ebenfalls der historischen, sozialen und kulturellen Abhängigkeit von Kindheit (Winkler 2017) und behandelt das Leben von Straßenkindern zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Kristina Schierbaum arbeitet heraus, wie sich um Stadtkindheit(en) ein disziplinäres erziehungswissenschaftliches Gedächtnis herausgebildet hat und welche Vorstellungen von proletarischer und ostjüdischer Kindheit sich als aufschlussreich erweisen. Dem Topos Straßenkindheit als Form urbaner Kindheit geht sie in ausgewählten Schriften Janusz Korczaks nach und zeigt, wie der Kindheitsforscher die Lebenssituation von Straßenkindern in Warschau beschrieben hat. Daran anschließend beantwortet sie die Frage, inwiefern die Archivierung der Kinderbeobachtungen Korczaks einen Beitrag zur Geschichte der Kindheit leistet.

Der zweite Teil des Bandes widmet sich zentralen Theoriefiguren und theoretischen Diskursen in der Kinder- und Kindheitsforschung. In ihrem Beitrag Kindheitsrhetorik revisted nehmen Andreas Lange und Nicole Svorc eine kritische Position gegenüber den childhood studies und der soziologischen Reflexion zu Kindheit ein. Sie bauen ihre Argumentation auf die in die 1990er Jahre zurückreichenden rhetorik- und diskursanalytischen Überlegungen zur Repräsentation von Kindheit auf und nehmen eine explizit wissenschaftssoziologisch motivierte interdisziplinäre wie integrative Perspektive auf das Sein und Werden (das being und becoming) von Kindern in einer spätmodernen Gesellschaft ein. Daran anschließend analysieren sie exemplarisch ausgewählte Kindheitsrhetoriken und -diskurse und sie reflektieren interdisziplinäre Herausforderungen einer integrativen Kindheitswissenschaft. Der Autor und die Autorin sprechen sich für eine sich „öffnende und weniger ‚arkanhaft-agonal‘ argumentierende Soziologie der Kindheit“ (Lange und Svorc i. d. B.) aus.

Die folgenden Beiträge behandeln zentrale Theoriefiguren und Positionen, die das gegenwärtige Forschungsfeld bestimmen: Kinder als soziale Akteure, Agency und generationale Ordnung kennzeichnen die ‚neue sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung‘, die von der Soziologie und der Erziehungswissenschaft mitgetragen werden. Darüber hinaus werden Child Well-being und Konzepte von generationaler Ungleichheit als Zugänge zu Lebenswelten und Lebenslagen von Kindern erörtert und kritisch diskutiert. Zwei Beiträge bündeln die disziplinären und gegenstandstheoretischen Bezugnahmen zu Kindern als Akteuren und beschreiben aus (kindheits)soziologischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive das Agency-Konzept: Dominik Farrenberg und Marc Schulz beleuchten in ihrem Beitrag Children’s agency die disziplinären Betrachtungsweisen von Kindern als Akteuren und fragen nach deren Wirkung und Grenzen. Stichhaltig werden zwei Perspektiven dargelegt und mit Blick auf den theoretischen Diskurs systematisiert: Zum einen werden Kinder als Akteure aus (kindheits)soziologischer Perspektive charakterisiert – hier sind „vor allem die ontologische Unterscheidung zwischen substantialistischen und relationalen Agency-Konzepten wegweisend“ (Farrenberg und Schulz i. d. B.). Zum anderen führen sie aus, weshalb aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive noch immer Kindheit mit dem Erwachsenwerden verknüpft wird und die (Macht)Asymmetrie zwischen Erwachsenen und Kindern das Verhältnis von Erziehung und Bildung bestimmt. Darüber hinaus betrachten sie erkenntnistheoretische und empirische Problemstellungen einer agency-bezogenen Forschung zu Kindern und Kindheiten. Auch Aytüre Türkyilmaz und Rita Braches-Chyrek nähern sich Agency in der Kindheitsforschung interdisziplinäran. Sie skizzieren basierend auf aktuellen Diskursen theoretische Reflexionen und Herausforderungen in der forschungspraktischen Anwendung des Agency-Konzepts. Die Autorinnen diskutieren diese im Hinblick auf ihre Bedeutung für eine soziologische und erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung und behandeln die Frage nach sozialer Kompetenz und ihrer Bedeutung für Kindheit(en) und Kinderleben. Mit ihrem Systematisierungsversuch Agency in der Kindheitsforschung revisited – eine interdisziplinäre Annäherung akzentuieren sie, dass sich Kinder auf unterschiedliche Weise ihre Welt handelnd aneignen und Akteurschaft unter Beweis stellen, die, so die Autorinnen, „stets Bezüge zu ihrer Position in generationalen und gesellschaftlichen Ordnungsgefügen aufweisen“ (Türkyilmaz und Braches-Chyrek i. d. B.).

Doris Bühler-Niederberger gibt in ihrem Beitrag The normative pattern of ‚good childhood‘ and intergenerational relations einen Einblick in die Geschichte ‚guter‘ Kindheit. Sie widmet sich Vorstellungen guter Kindheit und stellt das ihr zugrunde liegende normative Muster ins Zentrum. Konkret geht sie der Frage nach, was es bedeutet, dieses Muster, welches immer auch auf Ungleichheit hin angelegt ist, global zu verbreiten. Aus ihrer Sicht ist es unbestreitbar, dass die internationale Gemeinschaft ihre Aufmerksamkeit auf die Kinder der Welt richten müsse, doch berge das normative Muster einer behüteten Kindheit zugleich Risiken, die in der Beziehung zwischen den Generationen ihren Ausdruck finden. Diese soziologische Perspektivierung regt dazu an, das Muster guter Kindheit, wie es öffentlich und wissenschaftsdisziplinär für selbstverständlich gehalten wird, zu überdenken und nicht durch die Abwertung alternativer Muster weiter zu verschärfen.

Susann Fegter und Tobia Fattore führen in die Child Well-being-Forschung ein, der sich auch die Erziehungswissenschaft in immer stärkerem Maße verpflichtet, um sich gezielt mit den Lebenslagen und Lebensräumen von Kindern mit Blick auf Vorstellungen von ‚guten‘ Kindheiten auseinanderzusetzen. Der Beitrag Child Well-being als Zugang zu Lebenswelten, Lebenslagen und Bildungsräumen behandelt das Forschungsfeld in seinen interdisziplinären Bezügen, steckt theoretische und methodologische Herausforderungen ab und markiert diese am Horizont der Kindheitsforschung. Überdies gehen die Autorin und der Autor exemplarisch auf Studien eines internationalen Forschungsverbundes ein, der explorativ die Fragen untersucht, wie Kinder Wohlergehen während der Corona-Pandemie erlebten, wie sie Wohlergehen für sich fassen und welche Rückschlüsse sich daraus für die Theorieentwicklung ziehen lassen. Zudem werden die Potenziale der Child Well-being Forschung für eine ungleichheitstheoretisch informierte Erziehungs- und Bildungswissenschaft herausgearbeitet. Susann Fegter und Tobia Fattore widmen ihren Beitrag der im Januar 2022 verstorbenen Christine Hunner-Kreisel, die sich mit Fragen des well-being of children, Rassismus und der Intersektionalität auseinandergesetzt und mit ihren Arbeiten maßgeblich zur Kinder- und Kindheitsforschung beigetragen und das Forschungsfeld geprägt hat.

Der Beitrag von Anne Wihstutz fragt nach Ungleichheiten in der Kindheit. Sie führt in die Begriffssemantiken Ungleichheit, Unterschiedlichkeit und Ungerechtigkeit ein und erörtert kindheitstheoretische und intersektionale Ansätze der Ungleichheitsforschung. Bezugnehmend auf globale gesellschaftliche Krisen, wird im Beitrag Ungleichheit in der Kindheit entlang der Kategorien Alter, gender, race und soziale Herkunft differenziert und nach den Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe gefragt. Exemplarisch werden Schulleistungsbewertungen betrachtet und ungleichheitsproduzierende Effekte besprochen, die anschließend an die empirische Forschung zu Kindheit und Ungleichheit rückgekoppelt werden. Die Autorin greift verschiedene Konzepte der Kindheitsforschung unter ungleichheitstheoretischen Gesichtspunkten auf und stellt Intersektionalitätsansätze zur Diskussion. Sowohl der Beitrag von Anne Wihstutz als auch der von Susann Fegter und Tobia Fattore orientieren sich an der Frage, inwiefern die theoretischen Konzepte ihren Niederschlag in empirischen Studien finden. Die Autor:innen betrachten die Erträge und Einsichten, die sich daraus für das Forschungsfeld ergeben.

Der dritte Teil des Bandes behandelt den Schwerpunkt Kinderrechte, Kindeswohl und Kinderschutz und fragt nach Schutz- und Partizipationsrechten von Kindern, ihren Lebensbedingungen sowie Gefährdungen, die in einem Spannungsverhältis zwischen staatlichen und familialen, aber auch kindlichen Interessen stehen (Franzheld 2022). Mit dem ersten Beitrag richtet Stefan Weyers seinen Blick auf Kinderrechte zwischen Paternalismus und Autonomie und das Unbehagen an der Erziehung. Der Autor diskutiert und kritisiert Paternalismus im Anschluss an Ansätze pädagogischer Ethik, die Pädagogik Janusz Korczaks und die Rechtsstruktur der Kinderrechte. Dabei zeigt er nicht nur, dass das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des Kindes auf Selbst- und Mitbestimmung und der Verpflichtung Erwachsener das Kindeswohl zu schützen nicht aufzulösen ist, sondern auch, dass der verantwortliche und entwicklungsfördernde Umgang mit der Macht der Erwachsenen in Erziehungsfragen entscheidend sei. Im zweiten Beitrag werden Kindheitsforschung und Kinderschutz miteinander ins Gespräch gebracht. Dabei kommt dem Begriff des Kindeswohls eine zentrale Rolle zu: Auch wenn es in sozialpädagogischen Handlungsfeldern an theoretischen Rückversicherungen zum Kindeswohl fehlt und die Kinderschutzpraxis durch Defizitbetrachtungen auf sich aufmerksam macht, können kindheitstheoretische Perspektiven dazu beitragen, sowohl den normativen Gehalt des Kindeswohls als auch Kindeswohlgefährdungen neu zu ordnen, „insofern sich Kindheitsforscher:innen auf ein Gespräch über das Kindeswohl einlassen“ (Franzheld i. d. B.). Tobias Franzheld erkennt in seinem Beitrag das Potenzial einer Neuordnung der in der Kinderschutzpraxis typischen Defizitbetrachtungen durch die Kindheitsforschung, weshalb er den Versuch unternimmt, Kinderschutz und Kindheitsforschung zum Begriff des Kindeswohls zu befragen, um auszuloten, inwiefern Berufungen auf Theoriefiguren des Kindeswohls einen Austausch zwischen beiden Forschungsfeldern anstoßen. Der dritte Beitrag behandelt die Unsichtbarkeit der Kinder im Kinderschutz und erörtert den Befund, dass Kinder in Kinderschutzverfahren weder als Adressat:innen noch Empfänger:innen von Dienstleistungen wahrgenommen werden. Lars Alberth verweist auf eine „Wissenslücke in der Kinderschutzpraxis, die dazu beitragen kann, die Gefährdungslagen von Kindern zu verstetigen“ (Alberth i. d. B.). Diese nimmt er zum Ausgangspunkt, um in seinem Beitrag danach zu fragen, ob und wie zentrale Forschungsprogramme zum Kinderschutz die Unsichtbarkeit von Kindern reproduzieren.

Der vierte und letzte Teil des Bandes befasst sich dezidiert mit empirischen Perspektiven auf Kinder und Kindheit(en) und schafft in der Auseinandersetzung mit Forschungsmethoden und vielfältigen Projekten zu kindheitsrelevanten Themen einen Zugang zum Aufwachsen und den Lebensräumen von Kindern. Neben der Vorstellung von Erhebungs- und Auswertungsverfahren werden Ergebnisse quantitativer, triangulativ methodisch angelegter und qualitativer Studien dargelegt. Erörtert werden methodologische Fragen ebenso wie Entwicklungen und Potenziale, aber auch Grenzen einer gegenwartsbezogenen empirischen Kindheitsforschung: Was bedeutet es beispielsweise, Kinder als Co-Forschende einzubeziehen oder sie als Akteure zu befragen? Welche Chancen und Herausforderungen sind damit verbunden? Welche Forschungszugänge werden im Bereich der frühen Kindheit gesucht? Inwiefern unterscheiden sich diese von denen, die zur Erforschung später Kindheit genutzt werden?

Zu Beginn dieses Themenfeldes erarbeitet Iris Nentwig-Gesemann die Herausforderungen und Methoden zur Erforschung von Kinderperspektiven, die sie als einen Teilbereich der Kindheitsforschung markiert. Kinderperspektiven verlangen von Forschenden und Kindern das Hervorbringen einer ‚gelingenden‘ Forschungssituation und ein zumeist multimethodisches Vorgehen. Die Autorin gewährt in ihrem Beitrag Einblick in die von ihr durchgeführten Kinderperspektivenstudien in Kindertagesstätten, die in der Tradition einer praxeologisch-rekonstruktiven und dokumentarischen Kindheitsforschung stehen. Kinder werden als ‚Gewordene‘ adressiert, „deren Orientierungen in vielfältigen konjunktiven Erfahrungsräumen verwurzelt sind“. Mit der Rekonstruktion von Kinderperspektiven sind kindheitssoziologische und kindheitspädagogische Betrachtungsweisen zusammenzuführen. Dies kann, so die Autorin, „zu einer kinderperspektivisch sensibilisierten, professionalisierten frühpädagogischen Praxis beitragen“ (Nentwig-Gesemann i. d. B.).

Wiebke Waburg und Alexandra Haustov untersuchen in ihrem Beitrag das Aufwachsen in heterogenen Familien der Migrationsgesellschaft. Dazu greifen sie „die migrationsgesellschaftliche Realität heterogener Familien zwischen Anerkennung und Defizit-Zuschreibung auf“ und betrachten den pädagogischen Umgang mit jener Vielfalt in Kindertagesstätten. Die Autorinnen geben damit nicht nur einen Überblick über Prozesse der Normierung von Kindheit in Familien, sondern gehen auch auf die Wirkmacht von Normen ‚guter‘ Elternschaft ein. Sie schließen an die intersektionale Pädagogik an, die sie als einen Ansatz zum Umgang mit pluralen Familienformen in Kindertagesstätten vorstellen. Im Rahmen einer eigenen empirischen Analyse untersuchen und diskutieren sie exemplarisch ausgewählte Bilderbücher, fragen nach der Wahrnehmung von Normierungen im Umgang mit Pluralität und Ungleichheit. Die Autorinnen regen an, „eigene Privilegien und Benachteiligungen zu reflektieren“ (Warburg und Haustov i. d. B.).

Der Beitrag von Alexandra König und Jessica Schwittek behandelt das Thema Flucht, Ankommen und Integration. Auf einen multimethodischen Zugang aufbauend, rekonstruieren sie die Perspektiven geflüchteter Kinder auf den Prozess ihres Ankommens in Deutschland. Sie arbeiten in ihrer Forschung zu und mit geflüchteten Kindern mit egozentrierten Netzwerkinterviews, Gruppendiskussionen und gesprächsbegleitenden Zeichnungen. In ihrem Beitrag Gutes Ankommen – eine multimethodische Annäherung an die Perspektiven von geflüchteten Kindern stellen die Autorinnen erste Befunde vor und diskutieren, inwieweit durch die Methodenwahl je spezifische Adressierungen der Schüler:innen vorgenommen und unterschiedliche Daten, aber auch Befunde produziert werden. Daran anschließend, setzen sie sich mit der Frage auseinander, ob und wodurch die jeweiligen methodischen Zugänge zu einer Entschärfung von Machthierarchien in den Erhebungssituationen beitragen.

Nicoletta Eunicke nimmt in ihrem Beitrag zu Generationale Ordnungen zwischen Familie, Zuhause und Schule bildungspolitische Debatten in den Blick. Diese Debatten fordern, die Beziehungen zwischen Familie und Schule zu intensivieren und partnerschaftlich zu gestalten. Sie zeichnet nach, wie Aufmerksamkeiten und Sichtbarkeiten von Familie am Beispiel des schulischen Hausbesuchs aus der Position von Kindern und Lehrkräften verhandelt werden. Dennoch sind kindliche Erfahrungen mit schulischen Hausbesuchen und die Positionen von Kindern zu diesen bislang nicht untersucht worden. Vielmehr war die Wirkung von Hausbesuchen auf schulische Leistungen von Interesse. Ausgehend von diesen Beobachtungen fragt die Autorin, wie sich die Situierung von Kindern im Verhältnis von Familie und Schule ändern kann, wenn Lehrkräfte in ihr Zuhause kommen, und „wie Aufmerksamkeiten für Familie und Sichtbarkeiten von Familie am Beispiel des Hausbesuchs im Verhältnis von Familie und Schule verhandelt werden“ (Eunicke i. d. B.).

Florian Eßer, Sylvia Jäde und Judith von der Heyde setzen sich mit partizipativer Forschung auseinander und fragen, „wie partizipative Forschungsansätze für eine generational reflexive Kindheitsforschung produktiv genutzt werden können“ (Eßer et al. i. d. B.). Sie blicken in ihrem Beitrag Partizipative Forschung und Kindheitsforschung auf intergenerationale Forschungsbeziehungen, denen sie sich mit dem Konzept der commons annähern. An einem konkreten Beispiel aus ihrer eigenen Forschung zu Kindern als commoners im Feld der Scooter-Fahrer:innen-Szene arbeiten sie heraus, wie es Kindern und Erwachsenen aufgrund ihrer je spezifischen generationalen Positionierungen gelingen kann, gemeinsam einen Beitrag zu partizipativer Forschung zu leisten und Veränderungen anzustoßen. Spannend ist dabei, dass sie auch die eigene Position im Forschungsprozess ausloten und (kritisch) hinterfragen. Auch der daran anschließende Beitrag widmet sich partizipativer Forschung mit Kindern und formuliert entlang kindheitstheoretischer und forschungsethischer Reflexions- und Abwägungsprozesse ein Plädoyer für partizipatives Forschen. In ihrem Beitrag thematisiert Miriam Sitter die Informationsvermittlung und Aufklärung von Kindern im Kontext von Sterben, Tod und Trauer. Den frei gewählten Tod eines Familienangehörigen nimmt sie als Ausgangspunkt, um zu beschreiben, inwiefern sich (hinterbliebene) Erwachsene besorgt und hilflos fühlen, einem Kind wahrheitsgemäße Erklärungen für das suizidale Verhalten zu liefern. Daran anschließend setzt sich die Autorin mit der Schwierigkeit, Kindern die todesbezogene Wahrheit zu kommunizieren, auseinander. Sie legt die generationale Differenz als Bezugsproblem im und für den Trauerprozess dar und zeigt, wie partizipatives Forschen die Themen und Anliegen trauernder Kinder sichtbar macht.

Der Band schließt mit einem Beitrag von Miriam Diederichs und Marc Fabian Buck zur Ethnomethodologisch-videographischen Kindheitsforschung. Ausgehend von Überlegungen zum Stand der Forschung, fragen sie nach der Bedeutsamkeit videographischen Forschens in der Kinder- und Kindheitsforschung und verbinden Videographie, Akteurstheorien und ethnomethodologisches Forschen miteinander. An einer Szene aus einer Junior-Universität loten sie diese Kombination der Betrachtungsweisen empirisch aus und erörtern, wie im Rahmen ethnomethodologisch-videographischer Kindheitsforschung Akteurschaft und soziale Ordnung sichtbar werden. In ihrem Beitrag klären die Autorin und der Autor zentrale Begriffe und behandeln semantische Differenzen innerhalb des gesetzten theoretisch-methodischen Bezugsrahmens.

Wir freuen uns, dass der Band Kind(er) und Kindheit(en) im Blick der Forschung – Zentrale theoretische Figuren und ihre empirische Erkundung vorliegt und blicken auf zwei Jahre intensiven Austauschs zurück. Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die an der Gestaltung des Bandes mitgewirkt haben. Bedanken möchten wir uns besonders bei Dilara Diegelmann für das Lektorat der eingegangenen Beiträge, ihre Sorgfalt und ihre Unterstützung in der Manuskripterstellung. Außerdem danken wir Sabine Andresen, Susann Fegter, Melanie Kuhn und Claudia Machold für die Aufnahme in ihre Reihe Kinder, Kindheiten, Kindheitsforschung sowie Stefanie Laux, die den Band im Verlagsprogramm von Springer VS betreut hat.

Köln, im Juli 2023