„Nahschuss“ mit Lars Eidinger – Trailer und Kritik - WELT
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Film „Nahschuss“

Wenn Wessis sich über den Osten unterhalten

Filmredakteur
„Nahschuss“ mit Lars Eidinger als Stasi-Mitarbeiter

In der DDR lässt es sich für den bekennenden Kommunisten Franz Walter (Lars Eidinger) gut leben. So kommt es für ihn wie gerufen, als er nach seiner Promotion an der Berliner Humboldt-Universität ein Jobangebot beim DDR-Auslandsnachrichtendienst erhält.

Quelle: Alamode Film

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In Franziska Stünkels Kinofilm „Nahschuss“ spielt Lars Eidinger einen Ost-Berliner Ingenieur, der sich von der Stasi anwerben lässt und zum letzten Hingerichteten der DDR wird. Es schnürt einem die Kehle zu. Doch das ist nicht das Problem.

In den Siebzigerjahren, als 35 europäische Staaten in der Schlussakte von Helsinki die universelle Gültigkeit der Menschenrechte anerkannten, geriet die Todesstrafe in Verruf. Dies stellte die DDR, die die Schlussakte mit unterzeichnet hatte, vor ein Problem. Sie hatte bereits mehr als 150 Menschen hingerichtet – NS-Verbrecher, Mörder, Sexualtäter, politische Gegner – und wollte auf diese Sanktion nicht verzichten.

So beschloss sie, stillschweigend weiterzumachen, die Tötungen wurden nun als „Herzversagen“ deklariert. Weil die Guillotine – da mechanisch – als zu unsicher eingeschätzt wurde, erhielten die Delinquenten einen Kopfschuss. Durch einen Henker, der sich von hinten anschlich.

Franz Walter ist davon so weit entfernt, wie er nur sein könnte. Am Anfang von „Nahschuss“ steht er nackt vor einem Fenster und sieht in die Nacht hinaus. Dann geht er ein paar Schritte in den Raum hinein, legt sich zu seiner Freundin und macht ihr einen Heiratsantrag. Spontan malen sie sich mit Kugelschreiber Ringe an die Finger.

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Walter ist Ingenieur, hat gerade an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin promoviert und hofft, die Nachfolge seiner Professorin antreten zu können. Er ist auf dem Weg zu einem Entwicklungshilfeinsatz in Äthiopien, als er ein verlockendes Angebot erhält: Nur ein Jahr sich bei der Hauptverwaltung Abwehr verpflichten, dem Auslandsgeheimdienst der Stasi, dann die Professur.

Dieser Walter – Lars Eidinger als Idealbesetzung – ist kein skrupelloser Typ, nicht einmal ein Opportunist. Was ist ein kleiner Umweg von einem Jahr! Er ist intelligent, ist eloquent. Ein bisschen labil und ein wenig naiv vielleicht, wie ein Frosch, der in einen Topf mit lauwarmem Wasser springt und gar nicht wahrnimmt, wie es sich immer mehr erhitzt. Nicht so viel anders als die meisten von uns.

Luise Heyer und Lars Eidinger als Franz Walter und seine Freundin in "Nahschuss"
Luise Heyer und Lars Eidinger als Franz Walter und seine Freundin in "Nahschuss"
Quelle: Franziska Stünkel

„Nahschuss“ ist vor allem eine Studie der schleichenden Vereinnahmung. Erst die schick eingerichtete Wohnung, an die ein DDR-Normalbürger nie gekommen wäre; dann die Hochzeit, bei der keine alten Kumpel mehr anwesend sind, nur noch Stasi-Kollegen; dann die enge Beziehung mit seinem Führungsoffizier Dirk; schließlich die aufregende Dienstreise in das verruchte Hamburg, wo er sonst nie hingekommen wäre.

In Hamburg beginnt Walter zu spüren, wie das Wasser sich erwärmt. Es geht für die Stasi darum, einen geflüchteten Fußballnationalspieler zur Rückkehr in die DDR zu bewegen. Dafür „zersetzt“ sie in bewährter Weise dessen Umfeld: Informanten berichten über sein Privatleben, ihm werden Sex-Fallen gestellt, seine im Osten zurückgebliebene Frau erhält vom Arzt eine falsche Krebsdiagnose.

Einmal Stasi ist immer Stasi

Franziska Stünkels Film handelt davon, wie lange man wegschauen kann und wann das einfach nicht mehr möglich ist. Und davon, wie lange man noch eine Wahl hat. Als Walter und seine Freundin sich Kugelschreiberringe um die Finger stecken, witzelt er, so könne man jeden Tag unter der Dusche neu die Entscheidung treffen, ob man zusammenbleiben wolle.

Doch einmal Stasi ist immer Stasi, es gibt kein Wegwaschen, keinen Weg ins Freie. Stünkel baut klaustrophobische Räume, stattet sie mit (aus heutiger Sicht) grausligem Mobiliar aus, filmt in der echten Stasi-Zentrale in Berlin-Hohenschönhausen, malt mit beige-grau-düsterer Palette. Manchmal übertreibt sie die Symbolik auch etwas, mit einem gefangenen Vogel und dem lustvoll mephistophelischen Devid Striesow als Dirk.

Mephistofelischer Versucher: Devid Striesow als Dirk Hartmann in „Nahschuss"
Mephistofelischer Versucher: Devid Striesow als Dirk Hartmann in „Nahschuss"
Quelle: Franziska Stünkel
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Sie entwirft die Innenansicht einer Blase. Stasi-Sprech. Stasi-Feiern. Stasi-Kameradschaft. Auch „Das Leben der Anderen“ war eine Innenansicht, aber eine kontrastierende, einerseits die Staatssicherheit, andererseits die Bohème am Prenzlauer Berg. Das war tragisch und melancholisch.

In „Nahschuss“ dagegen schnürt sich die Kehle einem (und den Protagonisten) Zentimeter um Zentimeter zu, eine filmische Garrotte. Hier gibt es nur eine Menschenzermalmungsmaschine und kleinere oder größere Rädchen, die funktionieren – oder selbst zerrieben werden.

„Nahschuss“ ist eine Kombination aus zwei realen Fällen, dem des Finanzökonomen Werner Teske und dem des Fußballers Lutz Eigendorf. Allerdings ist „Nahschuss“, so detailliert er recherchiert sein mag, auch ein weiterer Beitrag zur filmischen Teilung Deutschlands. Es ist eine West-Produktion. Regisseurin und Drehbuchautorin Franziska Stünkel kommt aus Göttingen, Lars Eidinger wuchs im West-Berlin auf, die wichtigsten anderen Schauspieler sind Westgewächse (mit Ausnahme von Striesow, der die fieseste Rolle erhielt), die Produzenten stammen aus West-Biotopen.

Nun sollte man nicht dem Identitäts-Irrweg verfallen, wonach nur Schwule Schwule spielen dürfen und Schwaben Schwaben und Filme über die DDR nur aus den Neu-Bundesländern kommen sollten. Aber es ist nicht zu übersehen, dass mit der Herkunft weiterhin eine bestimmte Perspektive verbunden ist und der Osten wenig mit der westlichen Fixierung auf Stasi-Geschichten anfangen kann und der Westen wenig mit dem östlichen Beharren darauf, man habe sich im real existierenden Sozialismus ganz gut einrichten können. Es ist letztlich die Debatte über den (Un)rechtsstaat, und sie wird auch im Kino ausgetragen.

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Nach drei Jahrzehnten gesamtdeutscher Filme über die verblichene DDR muss konstatiert werden: Die deutsche Teilung setzt sich im filmischen Blick auf den Arbeiter- und Bauernstaat unvermindert fort. Man sieht es immer noch den allermeisten Filmen an, woher sie kommen, und im Wesentlichen haben sich vier Arten von Post-DDR-Filmen herauskristallisiert.

Die Aufarbeitung begann im Wiedervereinigungs-Wohlfühl-Modus: „Go, Trabi, go!“ (1991), „Sonnenallee“ (1999), „Goodbye, Lenin!“ (2003), „Kleinruppin Forever“ (2004), „Friendship!“ (2010). Die Komödien sprachen von dem simplen Glücksgefühl des Wiederbeisammenseins. Doch das Glück währte nicht lange, so wenig wie in der Treuhand-Realität.

2006 kam „Das Leben der Anderen“. Und seitdem ist es kaum mehr möglich, ein DDR-Thema zu verhandeln, ohne die Stasi einzubauen, ohne den Diskurs von Allmacht und Ohnmacht.

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Der dominierende westliche Blick auf den untergegangenen zweiten Staat ist einer des wohligen Grusels und der moralischen Überlegenheit: „Der rote Kakadu“ (2006), „Wir wollten aufs Meer“ (2012), „Barbara“ (2012), „Deutschland 83/86/89“ (2015-20), „Das schweigende Klassenzimmer“ (2018), „Ballon“ (2018). Bully Herbigs „Ballon“ war schon mehr Genre als Aufarbeitung, und „Nahschuss“ kann man durchaus auch als Horrorfilm sehen.

Es gibt ein paar Werke, die sowohl West als auch Ost problematisieren – „Die Stille nach dem Schuss“ (2000), „Westen“ (2013), „Freies Land“ (2020). Es gibt auch die Serie „Weissensee“ (2010-2018), ein seltener Fall mit einem aus dem Westen stammenden Konzept und einer kompletten Osrt-Besetzung.

Aber alle Filme, die sich dem Siegerblick verweigern, haben ihren Ursprung in dem Staat, den es nicht mehr gibt: „Helden wie wir“ (1999, nach dem Roman von Thomas Brussig), „Boxhagener Platz“ (2010, nach Torsten Schulz), „Der Turm“ (2012, nach Uwe Tellkamp), „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ (2017, nach Eugen Ruge) und vor allem „Gundermann“ (2018) von Andreas Dresen, der sich ganz bewusst nicht auf die IM-Tätigkeit seines Helden konzentriert, sondern auf dessen Zwiespalt zwischen Konformismus und Kommunismus.

Es sind sozusagen Ost-Unterhaltungen unter sich, der Westen sitzt nicht mit am Tisch, es sind Bilanzen der Dabeigewesenen, nicht der Eingeflogenen. Am „Nahschuss“-Tisch jedoch saßen Wessis.

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