1 Einleitung

Der Volksmund sagt „Lügen haben kurze Beine“. Dieses Sprichwort suggeriert: Lügen lohnt sich nicht, am Ende kommt jede Lüge raus. Aber stimmt das wirklich?

Zwar heißt es schon in den 10 Geboten der Bibel „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, dennoch zeigen Studien, dass Lügen einen überraschend großen Bestandteil unserer Konversationen ausmachen. In etwa 20 % aller sozialen Interaktionen wird gelogen oder getäuscht (DePaulo et al. 1996). Dies erhöht sich sogar auf 60 %, wenn wir mit fremden Personen interagieren (Feldman et al. 2002). Mit dem Erreichen des 60. Lebensjahres hat eine Person – konservativ gerechnet – im Durchschnitt bereits 43.800 Lügen erzählt (Anthony u. Cowley 2012).

Aber was zählt als Lüge? Und wann sagen wir die Wahrheit? Wichtig und gleichzeitig schwierig ist die Definition von Lügen. Denn Lügen können egoistisch sein, um andere hinters Licht zu führen. Sie können aber ebenso altruistisch sein, um beispielsweise andere zu schützen. Es kann sich um kleine Alltagslügen handeln oder um schwerwiegende Vergehen wie Betrug. Bislang gibt es in der Forschung keine einheitliche Definition. Einige Forscher gehen davon aus, dass Lügen ein bewusster Prozess ist und intentional geschieht. Andere definieren eine Lüge als „die bewusste oder unbewusste Abwendung von der Wirklichkeit“ (Stiegnitz 1997, S. 11).

Aber was ist dran an dem Sprichwort „Lügen haben kurze Beine“? Wie gut sind wir beim Entdecken von Lügen, und ist Lügen immer schlecht? Oder gilt „Ehrlich währt am längsten“? Im Folgenden werden diese Aspekte genauer beleuchtet und der Wahrheitsgehalt beider Sprichwörter untersucht, wobei erstgenanntes im Vordergrund steht. Daneben gibt es zahlreiche weitere Sprichwörter und Lebensweisheiten rund um das Thema Lügen, die in diesem Kontext ebenfalls kurz angeschnitten und durch psychologische Befunde erklärt werden. Im Anschluss an die Diskussion der Hauptsprichwörter werden Möglichkeiten und Ansatzpunkte zur Verbesserung der Lügendetektion aufgezeigt.

Begonnen wird jedoch damit, die verschiedenen Lügenarten zu kategorisieren und deren Hintergründe zu beleuchten. Denn die zugrunde liegenden Motive sind sehr differenziert und stellen eine wichtige Grundlage für das Verständnis der Sprichwörter dar.

2 Kategorisierung und Motive von Lügen

Es wurde bereits festgestellt, dass Menschen relativ häufig lügen. Aber was sind die Gründe? Lügen sind nicht gleich Lügen. Denn gelogen wird aus den verschiedensten Gründen.

DePaulo et al. (1996) unterscheiden Lügen beispielsweise darin, wer von ihnen profitiert, ob diese selbst- oder fremddienlich sind. Selbstdienliche Lügen werden aus egoistischen Motiven erzählt, beispielsweise aus materiellen oder auch aus psychologischen Gründen, um sich selbst positiv darzustellen. Fremddienliche Lügen hingegen sind oftmals altruistisch, ohne dass man selbst einen Vorteil daraus zieht. In ihrer Studie fanden DePaulo et al. (1996) heraus, dass in Gesprächen doppelt so häufig selbstdienliche wie fremddienliche Lügen erzählt werden. Gegenstand ist zwar häufig die Vertuschung von Fehlern und die Verheimlichung von Plänen oder Aufenthaltsorten, die meisten Lügen betreffen jedoch die Gefühle der Personen – nach dem Motto „Nein, ich bin nicht eifersüchtig“ oder „Ja, es geht mir gut“.

Aber es gibt auch andere Kategorisierungsmöglichkeiten. Im folgenden Kapitel wird Bezug genommen auf die Kategorisierung von McLeod und Genereux (2008). Diese unterscheiden verschiedene Arten des Lügens, die sich durch ihre Motive voneinander abgrenzen. Ihnen zufolge gibt es die Geltungslüge, um von anderen gemocht zu werden, die prosoziale Lüge, um anderen zu helfen oder sie zu beschützen, die Selbstlüge, bei der man sich bewusst oder unbewusst selbst belügt, und die antisoziale Lüge, um anderen zu schaden oder sich einen Vorteil zu verschaffen.

Sollte alles, was man sagt, wirklich immer wahr sein? Oder kann es unter Umständen manchmal besser und sinnvoller sein, zu lügen? Da die Arten und Motive des Lügens sehr unterschiedlich sind, müssen auch ihre psychologischen Erklärungsansätze differenziert betrachtet werden. Im Folgenden werden die Geltungslüge, die prosoziale Lüge, die antisoziale Lüge sowie als zusätzlicher Punkt die Selbstlüge genauer betrachtet und deren Hintergründe durch psychologische Theorien erklärt.

2.1 Geltungslüge

Verschleierungen, Beschönigungen, Übertreibungen – Menschen lügen, um andere zu beeindrucken. Die Geltungslüge entsteht häufig vor dem Hintergrund, anderen zu gefallen und den eigenen Selbstwert zu steigern (Leary u. Kowalski 1990). Denn drei wichtige motivationale Grundmotive des Menschen sind das Streben nach einem positiven Selbstbild und Anerkennung, das Streben nach Kompetenz und Kontrolle und das Streben nach Zugehörigkeit (Smith u. Mackie 2007). Um diese Ziele zu erreichen, wird daher öfter zu Techniken des Lügens und Täuschens gegriffen. Nicht um anderen zu schaden, sondern um bei dem Gegenüber einen positiven Eindruck zu hinterlassen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn es um Gesprächspartner des anderen Geschlechts geht (Feldman et al. 2002).

Aufbauend auf diesen drei motivationalen Grundprinzipien entwickelten Forscher die Impression-Management-Theorie , die die Hintergründe der Geltungslüge erklären (Tedeschi et al. 1971, zitiert nach Leary u. Kowalski 1990). Diese geht davon aus, dass das eigene Selbstbild vor allem durch die Bewertung anderer bestimmt wird. Daher sind Menschen darum bemüht, den Eindruck, den sie auf andere machen, aktiv zu steuern und zu kontrollieren, indem sie lügen, um sich in einem besseren Licht darzustellen. Dies tritt immer dann auf, wenn Situationen soziale Interaktionen erfordern, sei es bei einem Vorstellungsgespräch, beim Treffen mit Kollegen und Freunden oder bei einer Verabredung (Leary u. Kowalski 1990).

2.2 Prosoziale Lüge

Lügen sind der Schmierstoff der Kommunikation. Die Menschen wollen oftmals nicht die Wahrheit hören, sondern etwas, mit dem sie sich gut fühlen. […] im Alltag sind wir oft mit einer Lüge glücklicher. (Robert F. Feldman im Interview mit Tobias Hürter 2012, S. 1)

Genau diesen Schmierstoff stellen prosoziale Lügen dar. Meist sind es kleine Schwindeleien, um anderen Sorge zu ersparen, ihnen eine Freude zu machen oder um Konfrontationen und Verletzungen zu vermeiden (DePaulo et al. 1996). Diese Lügen werden auch oft als weiße Lügen bezeichnet. Sie werden als ethisch korrekt angesehen und daher auch eher akzeptiert, da ihnen keine egoistischen Motive zugrunde liegen (Levine u. Schweitzer 2014).

Studien zeigen, dass Menschen, die prosozial lügen, als sympathischer wahrgenommen werden. Nach dem Sprichwort: „Alles was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles, was wahr ist, solltest du auch sagen“, soll man zwar immer die Wahrheit sagen, aber es deutet ebenfalls an, dass es nicht immer sinnvoll ist und man je nach Situation auch darauf verzichten sollte. In diesem Sprichwort steckt viel Wahres. Denn es zeigt sich, dass gute Lügner den meisten Menschen sympathischer sind als Personen, die immer die Wahrheit sagen (Hürter 2012). Vor allem Menschen mit einer hohen sozialen Intelligenz nutzen prosoziale Lügen. Sie können sich in andere hineinversetzen, Situationen adäquat analysieren und haben ein Gespür dafür, was der Gesprächspartner gerne hören möchte. Sie sind daher in der Lage, zu unterscheiden, wann man die Wahrheit sagen sollte und wann es besser ist, prosozial zu lügen (Hürter 2012). Darüber hinaus zeigen Studien, dass durch prosoziale Lügen das Vertrauen in einer Beziehung gestärkt werden kann. Für das soziale Miteinander kann es daher sogar vorteilhaft sein, prosozial zu lügen. Denn wenn die Wahrheit dem anderen schadet, werden prosoziale Lügen der Wahrheit vorgezogen (Levine u. Schweitzer 2015).

Interessant ist, dass Menschen sich oftmals nicht darüber bewusst sind, dass sie lügen. In einer Studie nahmen Forscher die Konversation von sich fremden Gesprächspartnern auf. Etwa 40 % der Teilnehmer waren bei einer anschließenden Befragung der aufrichtigen Überzeugung, nicht gelogen zu haben. Als ihnen die Videoaufnahme vorgespielt wurde, waren sie überrascht, wie häufig sie kleine Unwahrheiten entdeckten (Feldman et al. 2002). So scheinen gerade sozial intelligente Menschen kleine Lügen als unbewusste Technik und „Schmierstoff“ zu nutzen (Hürter 2012, S. 1).

2.3 Antisoziale Lüge

Wenn wir an Lügen denken, denken wir vor allem an schwerwiegende Lügen, an Lug und Betrug, und an Lügen, die aus egoistischen, selbstbereichernden Motiven heraus entstehen. Lügen, um anderen zu schaden und sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen, das hat – wenn wir ehrlich sind – wahrscheinlich jeder schon einmal getan. Aber bei gewissen psychologischen Erkrankungen und Störungen tritt dieses Verhalten besonders stark auf und ist Teil des Krankheitsbildes. Das Sprichwort „Lügen, dass sich die Balken biegen“ trifft vor allem auf krankhaftes Lügenverhalten zu. Im Folgenden werden Krankheiten, die stark mit dem Lügen verbunden sind, kurz beschrieben und die dahinterliegenden Beweggründe erklärt.

Lügen als Krankheitssymptom

Lügen und täuschendes Verhalten ist ein Symptom zahlreicher psychologischer Krankheiten. Darunter fallen vor allem Persönlichkeitsstörungen wie die Borderline-, histrionische, narzisstische und antisoziale Persönlichkeitsstörung. Eine Person mit der Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung ist emotional instabil und zeigt eine mangelnde Impulskontrolle. Dadurch kommt es häufig zu gewalttätigem oder bedrohlichem Verhalten gegenüber anderen, aber auch gegenüber sich selbst. Der Grund für häufiges Lügen geht bei diesem Störungsbild zum größten Teil auf die Angst vor dem Verlassenwerden zurück (Wittchen u. Hoyer 2011). Die histrionische Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch starke Emotionalität, Theatralik und dem übermäßigen Streben nach Aufmerksamkeit. In dessen Folge kommt es oft zu Lügen und Übertreibungen, um im Mittelpunkt zu stehen (Wittchen u. Hoyer 2011). Narzissten hingegen zeichnen sich u. a. durch Durchsetzungsvermögen und Zielstrebigkeit aus. Allerdings auch durch egoistisch motiviertes, manipulatives und täuschendes Verhalten für den eigenen Vorteil, das mit Lügen einhergeht (Campbell et al. 2011). Lug und Betrug sind aber wohl am stärksten mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung verbunden. Merkmale sind dabei vorwiegend verhaltensorientiert wie wiederholte Taten, die mit dem geltenden Recht in Konflikt stehen, die Unfähigkeit von Reue sowie Reizbarkeit und Aggressivität (APA 2000). Dabei wird ebenso spezifisch von „Falschheit, die sich in wiederholten Lügen, dem Gebrauch von Decknamen oder dem Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen äußert“ (APA 2000, S. 706) gesprochen.

Beachtet werden sollte dabei, dass die antisoziale Persönlichkeitsstörung nicht gleichzusetzen ist mit der Diagnose der Psychopathie . Diese gilt als schwere Form der antisozialen Persönlichkeitsstörung, die durch spezifische Persönlichkeitszüge gekennzeichnet ist, besonders durch affektive Defizite wie dem Mangel an Empathie und Schuldbewusstsein, unzureichender Verhaltenskontrolle und betrügerischem und manipulativem Verhalten, aber auch durch oberflächlichen Charme und übersteigertem Selbstbewusstsein (Oggloff 2006).

Studien gehen davon aus, dass etwa 3–5 % der Menschen an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung leiden, wohingegen das Krankheitsbild des Psychopathen weniger als 1 % der Bevölkerung betrifft. In Gefängnissen liegt die Quote bei 50–80 % an Insassen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung, wobei auf 15 % die Diagnose Psychopathie zutrifft (Hare 2003, zitiert nach Oggloff 2006).

2.4 Selbstlüge

„Sich in die eigene Tasche lügen“ – Jeder kennt dieses Phänomen. Manchmal passiert es bewusst, wenn man versucht, sich etwas ein- oder schönzureden. Meistens jedoch belügen sich Menschen selbst, ohne es zu bemerken. Es ist ein automatischer Prozess, der ganz selbstverständlich und unbewusst abläuft. Oftmals geht es darum, Informationen vor dem bewussten Ich zu verschweigen (Ekman u. Friesen 1969). Im Folgenden werden dazu zwei Phänomene kurz erklärt. Zum einen die unbewusste Änderung der eigenen Meinung aufgrund von kognitiver Dissonanz, und zum anderen die unbewusste Selbsttäuschung bei der Entscheidungsfindung durch Heuristiken.

Kognitive Dissonanz

„Jeder glaubt gar leicht, was er fürchtet und was er wünscht“ – zumindest der zweite Teil des Sprichworts kann durch das psychologische Phänomen der kognitiven Dissonanz von Festinger (1957; zitiert nach Smith u. Mackie 2007) erklärt werden. Dieses Phänomen bezeichnet einen kognitiven, unangenehmen Spannungszustand, der auftritt, wenn sich bei einer Person widersprechende Kognitionen einstellen.

Man hat sich beim Autokauf für die Marke A entschieden, aber Marke B wäre billiger gewesen. Laut der Theorie der kognitiven Dissonanz ergeben sich drei Reaktionsmöglichkeiten, um diesen Spannungszustand zu reduzieren. Eine ist die Änderung des Verhaltens. Da dieses meist jedoch nicht rückgängig zu machen ist, kommen die beiden anderen Möglichkeiten ins Spiel, die Rechtfertigung des Verhaltens durch Hinzufügen von bestätigenden Kognitionen oder durch Änderung der dissonanten Kognitionen. In beiden Fällen belügen sich Menschen unbewusst selbst, indem sie entweder ihre Einstellung abändern oder neue Informationen nur noch selektiv wahrnehmen, um die Entscheidung nachträglich zu unterstützen (Smith u. Mackie 2007). Im Falle des Autokaufs können wir unsere Kognitionen verändern, indem wir beispielsweise die Marke B abwerten oder neue selektiv gesuchte Informationen hinzufügen, wenn uns plötzlich z. B. nur noch gute Testberichte der Marke A ins Auge fallen.

Rekognitionsheuristik

Wenn es um Urteile und Entscheidungen geht, spielt uns unser Gehirn oftmals einen Streich, indem es zu kognitiven Heuristiken greift, die nicht immer den richtigen Weg weisen. Das Sprichwort „Die Menschen glauben viel leichter eine Lüge, die sie schon hundertmal gehört haben, als eine Wahrheit, die ihnen völlig neu ist“ greift diesen Umstand auf.

Tatsächlich zeigen Studien, dass Probanden Aussagen, die sie bereits gelesen oder gehört haben, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für wahr halten als solche, die sie zum ersten Mal hören (Dechêne et al. 2010). Grund dafür ist das implizite Gedächtnis und die Nutzung von kognitiven Heuristiken zur Entscheidungsfindung. Die Aussagen können zwar nicht bewusst erinnert werden, aber die Spur einer Erinnerung führt dazu, dass die Aussagen als wahr beurteilt werden (Dechêne et al. 2010).

Eine Heuristik, die diesen Effekt erklärt, ist die Rekognitionsheuristik. Sehen Menschen sich mit einer Aussage konfrontiert, über die sie kein bewusstes oder nur ein ambigues Wissen abrufen können, versuchen sie auf anderem Weg eine Entscheidung zu treffen. Bereits gelesene oder gehörte Aussagen führen zu einem Gefühl des Wiedererkennens. Dieses Gefühl aktiviert die Rekognitionsheuristik – „Ich erkenne die Aussage, also muss sie wahr sein“ – (Dechêne et al. 2010).

Dieser sog. Truth-Effekt wurde für wahrhaftige, aber auch für falsche Aussagen, für triviale Statements, für Produkteigenschaften und sogar Meinungsstandpunkte nachgewiesen (Dechêne et al. 2010). Menschen glauben daher Aussagen eher, wenn sie diese schon gehört haben, als einer Aussage, die ihnen völlig neu ist. Das gilt sowohl für die Wahrheit als auch für Lügen.

3 Gültigkeit des Sprichworts

Nach der Kategorisierung und differenzierten Betrachtung von Lügen, stellt sich nun die Frage: Was ist wirklich dran an dem Sprichwort „Lügen haben kurze Beine“? Lohnen sich Lügen, oder kommt am Ende doch jede Lüge raus?

Studien zeigen, dass Menschen schlecht bei der Erkennung von Lügen sind. Die meisten Menschen denken zwar, sie könnten Lügner erkennen. Dies ist jedoch oft nicht der Fall (Bond u. DePaulo 2006). Denn sie orientieren sich meist an dem vermeintlich stereotypen Verhalten von Lügnern: Lügner sind nervös, fassen sich an die Nase und können dem Gegenüber nicht in die Augen schauen (Hartwig u. Bond 2011). Studien zeigen jedoch, dass die Trefferquote bei der Entdeckung von Lügen nur bei 54 % liegt (Bond u. DePaulo 2006). Dies ist ein wenig beeindruckendes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass diese Entdeckungsrate nur geringfügig besser ist, als wenn jedes Mal eine Münze geworfen worden wäre (50%ige Chance). Sogar bei eigentlich geschulten Personen, die tagtäglich mit Lügnern zu tun haben, ist die Entdeckungsquote erschreckend gering. So lagen Polizisten ebenfalls nur bei 56 %. Allein Mitarbeiter des Geheimdienstes konnten eine Entdeckungswahrscheinlichkeit von 64 % vorweisen (Ekman u. O’Sullivan 1991). In der Forschung existieren zwei verschiedene Erklärungsansätze für die geringe Entdeckungsrate. Zum einen besteht die Möglichkeit, dass sich Menschen an falschen Lügenhinweisen orientieren, z. B. dem Vermeiden von Augenkontakt. Dieser Ansatz impliziert, dass die Lügenentdeckung verbessert werden kann, wenn auf die „richtigen“ Zeichen geachtet wird (Hartwig u. Bond 2011). Der zweite Erklärungsansatz, den Hartwig und Bond (2011) durch ihre Studie unterstützen, geht allerdings davon aus, dass dies nicht der Fall ist. Die Unterschiede zwischen Lügnern und ehrlichen Menschen sind oftmals so gering und individuell unterschiedlich, dass sie nicht wahrgenommen werden können. Es gibt demnach kein Verhaltensmerkmal, dass Lügnern immer zugeschrieben werden kann. Daher kann man Lügner nur schlecht entlarven (Hartwig u. Bond 2011).

Lügner sind egoistisch und auf ihren Vorteil bedacht, sie sind schlechte Menschen, und es ist demnach nicht wünschenswert ein Lügner zu sein. Auf schlechte Lügner mag das zutreffen. Allerdings haben schon die Ausführungen in Abschn. 11.2 gezeigt, dass Lügen oft nicht erkannt werden und es – je nach Art der Lüge – durchaus sinnvoll sein kann, zu lügen. Aber nicht nur werden Lügen oftmals nicht entdeckt, gute Lügner besitzen auch häufig positive Eigenschaften wie Intelligenz und Erfolg . Denn gute Lügner sind intelligent, sie sind – metaphorisch gesprochen – gute Schachspieler und strategische Denker, denken mehrere Schritte voraus und können sich in andere hineinversetzen (Marantz Henig 2006). Eine gute Lüge erfordert größere kognitive Anstrengungen, als die Wahrheit zu sagen (Vrij et al. 2008). Geht man einen Schritt zurück und erklärt dies evolutionär, zeigt sich, dass mit einem größeren Neokortex und damit mit einer höheren Intelligenz die Fähigkeit in Primaten steigt, täuschendes Verhalten zu zeigen (Byrne u. Corp 2004). Der Neokortex ist vor allem für höhere Funktionen des Gehirns zuständig wie für das Gedächtnis und die Sprache. Pathologische Lügner weisen einen erhöhten Anteil weißer Substanz im präfrontalen Kortex auf (Yang et al. 2005). Die weiße Substanz ist für die Vernetzung und den Informationsaustausch zwischen den Hirnregionen zuständig. Ein hoher Anteil weißer Substanz geht mit einer vereinfachten und schnelleren Informationsverarbeitung einher (Abe 2011). Und in der Tat zeigen pathologische Lügner eine höhere sprachliche Intelligenz als Kontrollgruppen.

Lügner sind nicht nur intelligent, sie sind auch oftmals beruflich erfolgreich. So zählt die Fähigkeit, zu lügen, sich zu verstellen und Wahrheiten zu verdrehen zu einem der Hauptmerkmale erfolgreicher Präsidentschaften (Rubenzer u. Faschingbauer 2004). Auch neigen gerade besserverdienende Personen dazu, in Geschäftssituationen zu lügen. Die Bereitschaft dafür scheint jedoch nicht nur von der Person abhängig zu sein, sondern von den Wertvorstellungen der jeweiligen Gruppe, mit der sich die Person umgibt (Piff et al. 2012). Darüber hinaus findet sich in den Vorstands- und Managementetagen eine überproportionale Anzahl von Personen mit ausgeprägten narzisstischen Zügen (Campbell et al. 2011; vgl. Abschn. 11.2.3).

Intelligente und erfolgreiche Menschen sind meist extravertierte und redegewandte Personen. Sie sind möglicherweise deshalb gute Lügner, da sie selbst, wenn sie lügen, als tendenziell glaubwürdiger eingeschätzt werden als Personen, denen diese Fähigkeiten fehlen (Riggio et al. 1987). Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen ist der Halo-Effekt . Dieser beschreibt die kognitive Heuristik, von einer beobachtbaren Eigenschaft auf andere nicht beobachtbare Eigenschaften zu schließen. Personen, die hinsichtlich ihrer kognitiven Fähigkeiten positiv bewertet werden, werden auch positiv in ihrer Glaubwürdigkeit eingeschätzt. Hierbei wird häufig nicht zwischen der allgemeinen Glaubwürdigkeit und der situativen Glaubwürdigkeit der einzelnen Aussage dieser Person unterschieden (Riggio et al. 1987).

3.1 Auswirkungen von Lügen

Betrachten wir nun das Sprichwort: „Ehrlich währt am längsten“. Studien zeigen, dass Lügen schwerwiegende Folgen haben können. Denn schon wie das Sprichwort „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht“ andeutet: Wird eine Lüge erkannt, kommt es zu einem Glaubwürdigkeitsverlust . Studien zeigen darüber hinaus, dass auch die Sympathie verloren geht (Tyler et al. 2006).

In der Psychologie gibt es die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung (Bruner u. Postman 1951, zitiert nach Lilli u. Frey 1993), die dieses Sprichwort näher erklären kann. Denn laut dieser Theorie sind Menschen voreingenommen in der sozialen Wahrnehmung anderer Menschen, haben also immer eine bestimmte Erwartung bzw. Hypothese über die Situation, die Person oder die Handlung. Das bedeutet, dass wir alles, was wir wahrnehmen, im Kontext der dazu gebildeten Hypothese auffassen. Diese Hypothese wird mit der Wirklichkeit abgeglichen und kann sich ggf. ändern oder anpassen. Hypothesen bewirken jedoch eine selektive Wahrnehmung, d. h., sie sind aufmerksamkeitslenkend. Alle Aussagen und das Verhalten des Gesprächspartners werden im Licht dieser Hypothese betrachtet. Je häufiger eine Hypothese bestätigt wird, desto stärker wird sie. Und je stärker eine solche Hypothese verankert ist, desto weniger Informationen werden in der Folge benötigt, um sie zu unterstützen (Lilli u. Frey 1993). Bezogen auf das Lügen kann dies bedeuten, dass wenn man beim Lügen erwischt wird, sich bei dem Gesprächspartner die Hypothese von glaubwürdig zu unglaubwürdig ändert. Die weiteren Aussagen werden daher mit Skepsis betrachtet.

Darüber hinaus zeigen Studien, dass Belogene dazu tendieren, ihrerseits den Gesprächspartner im gleichen Ausmaß zu belügen. Frei nach dem Motto „Wie du mir, so ich dir“ kommt es zu einer Art negativen Reziprozität (Tyler et al. 2006).

Allerdings muss bei diesem Sprichwort das Lügen differenziert betrachtet werden. Denn im Gegensatz zu antisozialen und selbstorientierten Lügen können prosoziale Lügen die Kommunikation sogar erleichtern (Hürter 2012). Manche Forscher gehen sogar so weit, zu sagen, dass ohne diese kleinen Lügen, die Welt nicht die gleiche wäre. Denn soziale Lügen wirken sich positiv auf Gesellschaften aus und machen diese stabiler und komplexer (Iniguez et al. 2014). Auch können sie das Vertrauen in einer Beziehung stärken: Probanden vertrauten Personen, die prosozial logen, mehr im Vergleich zu Personen, die zwar die Wahrheit sagten, aber dadurch anderen schadeten (Levine u. Schweitzer 2015). Die Sprichwörter „Ehrlich währt am längsten“ und „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht“ treffen daher auf antisoziale, nicht aber auf prosoziale Lügen zu.

3.2 Diskussion der beiden Sprichwörter

Das Kapitel zeigt, dass Lügen durchaus „lange Beine“ haben können. Denn Menschen sind sehr schlecht darin, Lügen aufzudecken. Trotzdem ist dieses Sprichwort fester Bestandteil der deutschen Sprachkultur. Denn nach der Theorie des doppelten Standards von Bond und DePaulo (2006) beurteilen Personen Lügen, die ihnen erzählt werden, strenger als die eigenen Lügen, die sie selbst erzählen. Für den Belogenen gilt oftmals das Credo „Du sollst nicht lügen“. Der Lügner jedoch differenziert zwischen beispielsweise antisozialen und prosozialen Lügen. Außerdem steht er oftmals einem Loyalitätskonflikt gegenüber. Wem soll er loyal sein? Sich selbst, anderen, die ihm etwas anvertraut haben, oder dem Gesprächspartner, den man nicht verletzen will? Der Lügner zieht daher vielfältigere Aspekte in Betracht als der Belogene. Wenn man das Thema Lügen differenziert betrachtet, sollte das Sprichwort eher lauten: „Egoistische und antisoziale Lügen haben kurze Beine“. Damit dies auch wirklich der Fall ist, können verhaltens- oder sprachorientierte Ansätze der Lügendetektion genutzt werden, die im nachfolgenden Kapitel beschrieben werden.

Wenn Lügen schon keine „kurzen Beine“ haben, währt dann Ehrlichkeit wenigstens am längsten? Dieser Aspekt muss ebenfalls differenziert betrachtet werden. Ehrlichkeit währt dann am längsten, wenn es sich um egoistische, antisoziale Lügen handelt, da die Glaubwürdigkeit und Sympathie sinken, wenn eine solche Lüge vom Gesprächspartner entdeckt wird. Der Glaubwürdigkeitsverlust hängt allerdings von der Art und Schwere der Lüge ab. So gilt dies vorwiegend für egoistische und antisoziale, nicht aber für prosoziale Lügen. Diese können sich sogar entgegengesetzt, nämlich positiv, auswirken.

4 Lügendetektion

„Lügen haben kurze Beine“ – der Abschn. 11.3 zeigt, dass dies nicht unbedingt der Fall ist. Wie ist es möglich, Lügen besser zu erkennen? Nicht nur im Alltag wünschen sich das viele, zumindest wenn es sich um antisoziale Lügen handelt. Warum nicht einfach einen Lügendetektor nutzen? Der im Sprachgebrauch als Lügendetektor bekannte Polygraf erfasst physiologische Parameter wie einen erhöhten Puls oder die Schweißbildung. Anhand dieser Veränderungen sollen Lügner erkannt werden. In Deutschland ist dieser Test jedoch verboten. Denn wie in Abschn. 11.3 beschrieben wurde, gibt es keine eindeutigen Lügenmerkmale. Der Polygraf ist in der Folge viel zu unzuverlässig, als dass er in wichtigen und heiklen Situationen, beispielsweise der Strafverfolgung, eingesetzt werden könnte (Seiterle 2010). In der Forschung gibt es daher andere zuverlässigere Ansätze der Lügendetektion.

Mikroausdrücke des Gesichts verraten die Wahrheit

Einer der wohl bekanntesten Lügenforscher ist Paul Ekman aus den USA. Bekannt wurde er durch seine Methode des Facial Acting Coding Systems (FACS), ein Kodierungssystem, mit dessen Hilfe Emotionen genauestens erfasst und erkannt werden können (Ekman u. Rosenberg 2005). Denn die Sprache der Emotionen wie Wut, Angst, Erstaunen, Freude, Überraschung, Trauer, Ekel und Verachtung sprechen alle Menschen (Ekman u. Rosenberg 2005). Wichtig für die Lügendetektion sind vor allem spontane Mikroexpressionen, die zwischen 40 ms und 4 s dauern können (Ekman 2003). Ekman (2009) postuliert, dass Lügner in diesen Bruchteilen von Sekunden ihre wahren Emotionen zeigen, bevor sie versuchen, diese zu verbergen. Lügner können demnach entlarvt werden, indem die unbewussten Mikroexpressionen der Emotionen erkannt und richtig interpretiert werden. Und hier sind wir bei dem großen Problem aller Lügendetektoren und auch des FACS angekommen, das von Ekman (2003) als Othello-Problem bezeichnet wurde.

Emotions do not tell you their cause. The fear of being disbelieved looks the same as the fear of being caught. (Ekman 2003, S. 218)

Ekman (2003) betont daher, dass nur durch eine weitere Befragung einwandfrei festgestellt werden kann, ob eine Person lügt. Damit es allen Menschen möglich ist, Mikroausdrücke zu erkennen, entwickelte Ekman ein einstündiges Kurztraining, das Micro Expression Training Tool (METT), das auch online verfügbar ist (Ekman 2009).

Auch Sprache kann Lügner entlarven

Lange Zeit fokussierte man sich vorwiegend auf nonverbales Verhalten. Auf eine neue Art der Lügendetektion haben sich Forscher aus Großbritannien spezialisiert. Sie analysieren die Sprache nach Lügenindikatoren. Die Methode Controlled Cognitive Engagement (CCE) stellt ein kurzes 3-minütiges Interview dar. Mithilfe dieser Methode konnten in einem Feldexperiment im Sicherheitsbereich von Flughäfen 66 % der Lügner entlarvt werden (Omerod u. Dando 2015). Grundlage der Methode ist es, dass Lügen kognitiv anstrengender ist, als die Wahrheit zu sagen. Die Fragen beziehen sich vor allem auf die Person und ihre Herkunft. Das Interview startet mit offenen Fragen und baut dann auf den jeweiligen Antworten auf, z. B. „Wo wohnen Sie? Wie viele Stationen brauchen Sie zu ihrer Arbeit?“ Omerod und Dando (2015) fanden heraus, dass Lügner im Verlauf des Interviews immer kürzere, weniger informative und oftmals widersprüchliche Antworten gaben.

Auch andere Forscher haben sich mit der Sprache als Lügenindikator befasst. Es zeigt sich: Lügner müssen sich kognitiv stärker anstrengen, daher sind ihre Aussagen kürzer, weniger elaboriert und wenig komplex. Sie übertreiben häufiger ihre Emotionen und verteidigen sich stärker bzw. zeigen größere Verärgerung, wenn sie der Lüge bezichtigt werden. Darüber hinaus verwenden sie weniger selbstreflektierende Redewendungen, z. B. „Ich nahm an … “ oder „Ich dachte … “ (Hauch et al. 2014).

Pinocchio-Effekt

Neben diesen Ansätzen gibt es ein interessantes Ergebnis neuerer Forschung. Spanische Forscher konnten die seit jeher propagierte Pinocchio-Nase nachweisen (Milán u. López 2012). Mithilfe der Thermografie konnten die Forscher zeigen, dass beim Lügen mehr Blut in die Nase fließt und sich dadurch die Durchblutung der Muskeln in der Nähe der Nase erhöht. Durch das Blut dehnt sich diese minimal aus. Gleichzeitig sinkt die Temperatur im restlichen Gesicht, da das Blut aus dem Gesicht ins Gehirn transportiert wird. Auslöser dafür, so vermuten die Wissenschaftler, ist eine Gehirnregion, die für Gefühlsempfindungen, aber auch für die Temperaturregulation zuständig ist. Die Pinocchio-Nase scheint demnach zu existieren, sie ist allerdings nur mit einer Wärmebildkamera sichtbar.

5 Fazit

In diesem Kapitel konnten einige Sprichwörter in Bezug auf das Lügen bestätigt werden. Es zeigt sich, dass das Thema Lügen sehr komplex ist. Lügen sollten zwar in den meisten Fällen „kurze Beine“ haben, aber dieser Anspruch ist nicht absolut zu sehen. Denn nicht immer ist es von Vorteil für alle Beteiligten, ständig die Wahrheit zu sagen und zu hören. Es ist zu bedenken, wie schwer die Lüge wiegt und aus welchen Gründen gelogen wird.

Oftmals stellen Lügen schlichtweg den einfacheren oder bequemeren Weg dar, bei dem unangenehme Wahrheiten oder unbeliebte Entscheidungen verschleiert werden. Trotzdem ist es wichtig und häufig auch notwendig, diese zu kommunizieren. Dies erfordert Mut, Sensibilität und soziale Fähigkeiten, zu denen auch eine „gute“, d. h. prosoziale, Lüge gehören kann. Eine noch höhere Kunst als die des guten Lügens ist es allerdings, unangenehme Wahrheiten mit Feingefühl anzusprechen, sodass negative Effekte gar nicht erst entstehen und der andere auch die Wahrheit annehmen kann.