Konkurrenz belebt das Geschäft – normalerweise. Aber wenn es um wirklich raren Stoff für Experimente auf höchstem wissenschaftlichen Niveau geht, so kann die Aufteilung auf unabhängige Forschergruppen kontraproduktiv sein. Genau das scheint beim deutschen Atomprogramm im Zweiten Weltkrieg geschehen zu sein; darauf jedenfalls weisen Ergebnisse hin, die jetzt ein Forscherteam um Jon Schwantes und Brittany Robertson vom Pacific Northwest National Laboratory (PNNL) auf der Herbsttagung der American Chemical Society vorgestellt hat.
Die US-Wissenschaftler untersuchten mehrere der sogenannten Heisenberg-Würfel – an jeder Seite nur fünf Zentimeter lange Stücke aus Natururan, die trotzdem jeweils 2,5 Kilogramm schwer sind. Mit ihnen hatten Physiker des Kaiser-Wilhelm-Instituts um den Nobelpreisträger Werner Heisenberg noch im Frühjahr 1945 im schwäbischen Haigerloch einen Forschungsreaktor bestückt.
Dazu hatten sie 664 solche Würfel an 78 Drahtseile gehängt und in einen mit Graphit-Ziegeln ummantelten Tank mit schwerem Wasser getaucht. Anschließend beschossen sie das Uran mit Neutronen und hofften, so eine kontrollierte Kettenreaktion in Gang zu bringen. Doch das gelang nicht.
Am 23. April 1945 traf die Alsos-Mission in Haigerloch ein. Es handelte sich um ein Spezialkommando des Manhattan-Projekts, des US-Atomprogramms. Die Kleinstadt südwestlich von Stuttgart war am Tage zuvor von französischen Truppen besetzt worden, doch deren Offiziere wussten nicht, was sich in einem ehemaligen Brauereikeller unter der Schlosskirche befand.
Im Gegensatz zu den Alsos-Spezialisten um den Kernphysiker Samuel Goudsmit: Sie hatten schon Ende März erfahren, dass der wichtigste (und letzte) Versuch des deutschen „Uranvereins“ um Heisenberg kurz zuvor in Haigerloch stattgefunden hatte. So gelang es dem gemischt amerikanisch-britischen Team rasch, die Höhle zu finden. Sie wussten auch, dass die Uran-Würfel, der wesentliche Teil des Versuchsaufbaus, auf einem nahegelegenen Acker vergraben worden waren.
Die Mitglieder des Spezialkommandos griffen sich Spaten und Schaufeln. Nach kurzer Zeit hatten sie 659 der 664 Würfel geborgen. Die restlichen blieben verschwunden – bis auf einen, den spielende Kinder knapp zwei Jahrzehnte später in der Nähe von Heisenbergs Wohnhaus fanden. „Als die Kinder ihn über die Straße rollten, schlug er Funken“, berichtete der Kernchemiker Klaus Mayer. Denn ähnlich wie Magnesium können sich Uransplitter entzünden, wenn sie mit Sauerstoff in Berührung kommen. Anschließend verschwand dieser Würfel erneut und tauchte erst in den 1990er-Jahren in einem Keller wieder auf.
Die neuesten Untersuchungen des PNNL-Teams und korrespondierender Wissenschaftler an einigen weiteren Uran-Würfeln, die sich in den USA befinden, ergaben nun interessante Ergebnisse. Das wichtigste: Offenbar wurden in Haigerloch, also dem Experiment von Heisenbergs Gruppe, auch Uran-Würfel der zweiten deutschen Kernphysiker-Gruppe um Kurt Diebner verwendet.
Darauf jedenfalls deuten unterschiedliche Beschichtungen der Würfel gegen Oxidation: Heisenbergs Würfel hatten eine Schutzschicht auf Zyanid-Basis, während Diebners ansonsten identische Uran-Stücke mit Kunststoff ummantelt waren. An einem der jetzt untersuchten Würfel fanden sich Spuren dieses Polystyrol. Das zeigte den PNNL-Forschern zufolge, „dass einige der Würfel aus Diebners Gruppe an Heisenberg geschickt wurden, der versuchte, mehr Brennstoff für seinen Reaktor aufzutreiben“.
Schon nach den Alsos-Berechnungen von 1945 war die Uranmenge in Heisenbergs Experimentalreaktor zu gering, um eine kontrollierte Kettenreaktion aufrechtzuerhalten – es hätten etwa anderthalbmal soviel Natururan-Würfel benutzt werden müssen. Der untersuchte Würfel ist ein Hinweis darauf, dass die an sich konkurrierenden Gruppen um Diebner und Heisenberg zumindest Anfang 1945 Material austauschten.
Kurt Diebner (1905 bis 1964) steht im Mittelpunkt der meisten Spekulationen, Hitler-Deutschland habe erfolgreich eine funktionsfähige Atombombe entwickelt und eventuell sogar gezündet. Obwohl es keinerlei konkrete Indizien dafür gibt, werden entsprechende Behauptungen immer wieder verbreitet.
Die neuesten Ergebnisse der US-Forscher zeigen, dass es zumindest für einen funktionsfähigen Reaktor in Deutschland Anfang 1945 genügend Uran und eine geeignete Anordnung gab. Wenn das Material von Diebners (der in seinem Labor in Stadtilm in Thüringen über einige hundert Uran-Würfel verfügte) und von Heisenbergs Gruppe vollständig zusammen genutzt worden wäre, hätte in Haigerloch wohl eine kontrollierte Kettenreaktion erzeugt werden können. Das wäre die Voraussetzung für die Herstellung waffenfähigen Kernbrennstoffs gewesen.
Das US-Atomprojekt erreichte diesen Durchbruch schon am 2. Dezember 1942: Nobelpreisträger Enrico Fermi und seinem Team gelang es am Versuchsreaktor Chicago Pile Nr. 1, mit 5,4 Tonnen Natururan eine kontrollierte Kettenreaktion in Gang zu bringen. Danach dauerte es trotz praktisch unbegrenzter Mittel noch zweieinhalb Jahre, bis die USA eine funktionierende Atombombe zur Verfügung hatten.
„Ich bin froh, dass das NS-Kernwaffenprogramm am Ende des Krieges nicht so weit fortgeschritten war, wie sie es wollten“, bilanzierte Brittany Robertson den historischen Aspekt der neuen Forschungen: „Sonst wäre die Welt ein ganz anderer Ort.“
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