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Zweiter Weltkrieg Rudolf Heß

So starb Hitlers wahnsinniger „Stellvertreter“

Am 17. August 1987 beging der ehemalige „Stellvertreter des Führers“ im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis Selbstmord. Stoff für Verschwörungstheorien, wie sein berühmt-berüchtigter England-Flug 1941.
Leitender Redakteur Geschichte
ARCHIV - Der einstige Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, 1946 als Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt, heimlich fotografiert bei einem Spaziergang im Hof des Kriegsverbrechergefängnisses in Berlin-Spandau (undatiertes Archivbild). Das Grab von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß im bayerischen Wunsiedel ist knapp 24 Jahre nach seinem Tod aufgelöst worden. dpa (nur s/w; zu dpa 0947 vom 21.07.2011) +++(c) dpa - Bildfunk+++ | ARCHIV - Der einstige Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, 1946 als Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt, heimlich fotografiert bei einem Spaziergang im Hof des Kriegsverbrechergefängnisses in Berlin-Spandau (undatiertes Archivbild). Das Grab von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß im bayerischen Wunsiedel ist knapp 24 Jahre nach seinem Tod aufgelöst worden. dpa (nur s/w; zu dpa 0947 vom 21.07.2011) +++(c) dpa - Bildfunk+++ |
Eines der ganz wenige Fotos von Rudolf Heß aus seiner 40-jährigen Haft im Kriegsverbrechergefängnis Berlin-Spandau, heimlich aufgenommen mit einem Teleobjektiv Mitte der 80er-Jahre
Quelle: picture alliance / dpa

Schön kann der Anblick nicht gewesen sein: Der alte Mann mit dem verhärmten Gesicht hing, ein Elektrokabel um den Hals geschlungen, am Fenster des Gartenhäuschens im Hof des ziegelroten Gefängnisses. Trotz seiner 93 Jahre und ansonsten schlohweißen Haares war er mit den tief liegenden Augen und den immer noch schwarzen buschigen Augenbrauen so unverkennbar wie ein halbes Jahrhundert zuvor.

Rudolf Heß, der letzte noch lebende Mann aus dem engsten Kreis um Adolf Hitler, starb am Nachmittag des 17. August 1987 an den Folgen dieser Strangulation. So folgte er durch eigene Hand nach 41 Jahren früheren Kampf- und Parteigenossen, so überzeugten Nationalsozialisten wie Julius Streicher oder Fritz Sauckel, die im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zum Tod durch den Galgen verurteilt worden waren.

Rudolf Hess Germany / Mono Print |
Rudolf Heß als Angeklagter im Nürnberger Gefängnis 1945/46
Quelle: picture-alliance / United Archiv

Seit 1966 bestand das trotz Kalten Krieges von allen vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs gemeinsam betriebene Gefängnis in Berlin-Spandau nur noch wegen Heß. Denn nach 20 Jahren Haft waren seine letzten Mitgefangenen Albert Speer und Baldur von Schirach entlassen worden.

Viermal hatte der 1893 geborene ehemalige „Stellvertreter des Führers“ in allen Angelegenheiten der NSDAP bereits versucht, sich das Leben zu nehmen; beim fünften Mal gelang es ihm. Natürlich bestritt sein Sohn Wolf-Rüdiger, dass der Vater Selbstmord begangen haben könnte. Vielmehr sei Rudolf Heß vom britischen Geheimdienst ermordet worden, um das Geheimnis des berühmt-berüchtigten „England-Flugs“ 1941 zu bewahren.

Menschlich mag man Verständnis für diesen Irrglauben haben; historisch waren die Behauptungen Wolf-Rüdiger Heß’ immer bedeutungslos. Denn es gab und gibt keine wirklichen Geheimnisse um die vielleicht verrückteste Aktion, die im Zweiten Weltkrieg geschah.

Rudolf Heß kannte Hitler seit 1920, diente ihm seit 1924 als „Sekretär“ in der Funktion eines persönlichen Referenten und leitete seit 1933 faktisch die NSDAP. Trotz dieser Vertrauensposition war er in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1941, mitten im schwersten Bombardement der Luftwaffe gegen London, mit einem eigens modifizierten Langstreckenjäger nach Schottland geflogen.

Zuvor hatte er noch einen wirren Brief an Hitler geschrieben, in dem er seinen Entschluss begründete: Er wollte einen Frieden zwischen Deutschland und Großbritannien vermitteln.

Diese von vornherein aussichtslose, im engeren Sinne wahnsinnige Mission überraschte den „Führer“ ebenso wie Joseph Goebbels’ Propagandaapparat, der hilflos reagierte. Heß habe unter „geistiger Zerrüttung“ gelitten, sei das „Opfer von Wahnvorstellungen“ geworden und vermutlich abgestürzt, hieß es in einem Kommuniqué. Es wurde am 12. Mai 1941 über den Reichsrundfunk verbreitet und am folgenden Tag in den meisten deutschen Zeitungen abgedruckt.

Doch die BBC verbreitete wenige Stunden später, der Minister ohne Geschäftsbereich in der Reichsregierung sei gar nicht „verunglückt“, wie der „Völkische Beobachter“ verkündet hatte. Vielmehr sei Heß desertiert und befinde sich wohlauf in britischer Hand. Diese Meldung sorgte für die bis dahin schwerste Vertrauenskrise des NS-Regimes bei der Bevölkerung.

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Da man darüber nicht offen diskutieren konnte, ohne Gefahr zu laufen, wegen Defätismus denunziert zu werden, machten viele Menschen ihrem Unmut mit Flüsterwitzen Luft. Beispielsweise dichtete ein unbekannter Witzbold das „Matrosenlied“ von Hermann Löns mit dem berühmten Refrain „Denn wir fahren gegen Engeland“ passend um: „Es geht ein Lied im ganzen Reich/ Wir fahren gegen Engeland/ Doch wenn dann wirklich einer fährt/ So wird er für verrückt erklärt.“

Andere Flüsterwitze gingen zum Beispiel so: „Dass unsere Regierung verrückt ist, das wissen wir schon lange; aber dass sie das zugibt, das ist neu.“ Ein weiterer Scherz bezog sich auf die vergleichsweise nüchternen Kriegsberichte des deutschen Dienstes der BBC, der weiterhin häufig gehört wurde, wenngleich nur im Verborgenen: „Radio London teilt mit – weitere Einflüge von deutschen Ministern fanden heute Nacht nicht mehr statt.“

Nach einem oft erzählten Bonmot soll Churchill Heß bei ihrer ersten Begegnung (die übrigens nie stattgefunden hat) gefragt haben: „Also, Sie sind also der Verrückte?“, worauf der abtrünnige NSDAP-Funktionär geantwortet habe: „Nein, ich bin der Stellvertreter.“ Auch fein erfundene Anekdoten erfreuten viele Deutsche. Einer zufolge habe Hitler an Heß telegrafiert: „Kehre zurück – alles verziehen.“ Heß habe jedoch geantwortet: „Ich bin doch nicht verrückt.“

Beunruhigt registrierte der Inlandsnachrichtendienst SD, dass „seit dem Fall Heß bestimmte militärische und politische Tatbestände offenbar aufgrund eines stärkeren Abhörens ausländischer Sender“ bekannt würden, bevor der deutsche Hörfunk und die Zeitungen sie selbst veröffentlichten. In vielen Städten monierten die Menschen, insbesondere „ungünstige Meldungen“ würden zu spät verbreitet, was nicht zur „Stärkung des Vertrauens in die eigenen Propagandamittel“ beitrage.

ARCHIV - Das Grab von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, aufgenommen am 30.10.2010 auf einem Friedhof in Wunsiedel (Oberfranken). Das Grab von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß im bayerischen Wunsiedel ist knapp 24 Jahre nach seinem Tod aufgelöst worden. Foto: David Ebener dpa/lby +++(c) dpa - Bildfunk+++ |
Die Gruft der Familie Hess in Wunsidel, wie sie bis 2011 aussah
Quelle: picture alliance / dpa

Heß war möglicherweise vom britischen Geheimdienst mit Desinformation versorgt worden. Aber sicher nicht, weil sich der MI 6 vorstellen konnte, ihn damit zum Flug nach Großbritannien zu bewegen. So etwas wäre vorab wohl nicht einmal den unkonventionellen Londoner Agenten eingefallen.

Indirekt hatte die völlig verrückte Aktion allerdings doch erhebliche Folgen: Stalin nämlich glaubte, zwischen Großbritannien und dem Dritten Reich könnte sich ein Bündnis andeuten. Unter anderem deshalb nahm er die Warnungen vor deutschen Angriffsvorbereitungen nicht ernst. Erst am 22. Juni 1941 erkannte er, dass Hitler falsch gespielt hatte, nicht der Antikommunist Churchill.

Heß blieb in Haft und erkannte offenbar, dass er den bewunderten „Führer“, geblendet von Wahnideen, verraten hatte. Er kompensierte das mit einem umso radikaleren nationalsozialistischen Fanatismus. Das und die Tatsache, dass er formal der höchste jemals bestrafte Nationalsozialist war, machten eine vorzeitige Entlassung aus Gesundheitsgründen unmöglich.

Die Stelle, an der sich bisher das Grab von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß (1894-1987) auf dem Friedhof in Wunsiedel (Oberfranken) befand, ist am Donnerstag (21.07.2011) mit Erde bedeckt. Mehr als zwei Jahrzehnte lang war das Grab von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß in Wunsiedel ein Wallfahrtsort für Rechtsradikale. 24 Jahre nach seinem Tod ist es nun aufgelöst worden. Seine Gebeine sollen verbrannt und die Asche im Meer verstreut werden. Foto: David Ebener dpa/lby (zu dpa-lby vom 21.07.2011) +++(c) dpa - Bildfunk+++ |
Sie wurde 2011 nach Ablaufen des Pachtvertrages beseitigt
Quelle: picture alliance / dpa
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Da es keine Geheimnisse gab, die Heß hätte verraten können (wieso sollte er sie nicht auch längst seinem Sohn bei einem von dessen vielen Besuchen im Gefängnis erzählt haben?), gab es überhaupt kein Motiv für irgendjemanden, Heß gerade im August 1987 umzubringen. Verschwörungstheoretiker ließen und lassen sich aber natürlich grundsätzlich nicht überzeugen – sie werden weiterhin an einen Mord an Rudolf Heß glauben, weil sie daran glauben wollen.

Jahrzehntelang pilgerten deutsche Neonazis auf den Friedhof in Wunsiedel, wo Heß 1987 beigesetzt worden war. Weil das die Gemeinde in schlechtes Licht rückte, wurde das Grab zum frühestmöglichen Zeitpunkt 2011 abgeräumt, die Gebeine des treulosen Vertrauten eingeäschert und auf hoher See verstreut.

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Dieser Artikel wurde erstmals im August 2017 veröffentlicht.

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