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Adenauer nahm Methamphetamin – und 15 verschiedene Schlafmittel

Als er Bundeskanzler wurde, war Konrad Adenauer 73 Jahre alt, mit 87 verließ er das Kanzleramt. Wie „der Alte“ die Strapazen überstand, hat jetzt ein Historiker herausgefunden. Eine Notiz von dessen Sohn könnte das Rätsel von Adenauers erstaunlicher Leistungsfähigkeit klären.
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Konrad Adenauer (1876-1967), erster Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, aufgenommen Anfang 1966. Foto: Roland Witschel +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit Konrad Adenauer (1876-1967), erster Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, aufgenommen Anfang 1966. Foto: Roland Witschel +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit
Konrad Adenauer (1876–1967) nach seiner Amtszeit als Kanzler
Quelle: picture-alliance/ dpa

Der Sohn machte sich Sorgen – seine Tagebuchnotiz zeigte es: „Vater noch ganz belebt vom Kampf. Er hatte um zwei Uhr ein Pervitin genommen und nun nimmt er seine 15 verschiedenen Schlafmittel und andere Medikamente in einem Löffelchen, um schlafen zu können.“ Beunruhigt fragte sich Paul Adenauer am 2. November 1964: „Wie soll das alles weitergehen?“

Denn sein Vater war Konrad Adenauer, zu diesem Zeitpunkt 88 Jahre alt und seit gut einem Jahr aus dem Bonner Kanzleramt ausgeschieden, von dem aus er seit 1949 die Geschicke der neu gegründeten Bundesrepublik gelenkt hatte. Und zwar mit einer ungeheuren Energie, die nicht nur für einen Mann seines Alters erstaunlich war, sondern ebenso für einen mehr als zwei Jahrzehnte Jüngeren wie seinen Dauerkonkurrenten Ludwig Erhard enorm gewesen wäre.

Pervitin in verschiedenen Darreichungsformen
Pervitin in verschiedenen Darreichungsformen
Quelle: Wikimedia / CC-BY-SA 1.0

Eine Entdeckung des Berliner Historikers Daniel Koerfer wirft jetzt ein neues Licht auf die Leistungsfähigkeit des „Alten von Rhöndorf“, wie man Adenauer schon zu Beginn seiner Amtszeit halb spöttisch, halb bewundernd nannte – eben den bislang unbeachteten Tagebucheintrag seines Sohnes. Demnach nahm der Altkanzler leistungssteigerndes Amphetamin, und die Art, wie Paul Adenauer das notierte, lässt darauf schließen: nicht zum ersten Mal.

Koerfer präsentiert seinen Fund eher nebenbei in der vollständig überarbeiteten Neuausgabe seiner Doktorarbeit „Kampf ums Kanzleramt“, die jetzt 33 Jahre nach der Erstausgabe erschienen ist. Allein dass sich ein Historiker der Mühe unterzieht, die eigene Qualifikationsarbeit zu überarbeiten, ist schon lobenswert.

ARCHIV - Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard (l-r), US-Präsident John F. Kennedy, Bundespräsident Heinrich Lübke und Bundeskanzler Konrad Adenauer vor der Villa Hammerschmidt in Bonn, 24.06.1963. (zu dpa:"Schlitzohriger Revolutionär - Vor 50 Jahren starb Adenauer" vom 12.04.2017) Foto: Heinz Ducklau/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit
Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, US-Präsident John F. Kennedy, Bundespräsident Heinrich Lübke und Bundeskanzler Konrad Adenauer 1963
Quelle: picture alliance / Heinz Ducklau

In der Zeitgeschichte lohnt sich das aber besonders, denn hier nimmt naturgemäß die Zahl der zugänglichen Quellen deutlich zu. Als Koerfer sein Buch erstmals erarbeitete, war Adenauer gerade einmal gut 15 und Erhard noch keine zehn Jahre tot. Seither sind von staatlicher Seite, aber auch durch private Nachlässe, durch Editionen und Ähnliches zahlreiche Materialien erstmals verfügbar geworden, die neue Perspektiven eröffnen.

Eben zum Beispiel das Tagebuch von Paul Adenauer, der als ältester überlebender Sohn aus der zweiten Ehe seines Vaters 1923 geboren wurde und 2007 starb – wie seine drei leiblichen und seine drei älteren Halbgeschwister wurde er über 80 Jahre alt. Die Notizen erschienen 2017 als Kooperation der (staatlichen) Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus und der (CDU-nahen) Konrad-Adenauer-Stiftung. Die Notiz vom 2. November 1964 freilich blieb unbeachtet bis jetzt.

KONRAD ADENAUER Poster for the 1957 elections, urging the people of Germany not to 'experiment' but to vote for the man they know... Date: 1876 - 1967 (Mary Evans Picture Library) | Nur für redaktionelle Verwendung., Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Wahlplakat der CDU von 1957
Quelle: picture-alliance / Mary Evans Pi

Dabei könnte sie das Rätsel von Konrad Adenauers erstaunlicher Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter klären. Wenn er nach seiner Amtszeit Pervitin nahm, dann spricht viel dafür, dass er das auch während seiner Jahre als Kanzler getan hat. Worum handelte es sich? Pervitin war seit 1938 der Handelsname für hochreines industriell produziertes Methamphetamin. Ab 1934 hatte die deutsche Pharmafabrik Temmler ein Herstellungsverfahren für diese vorher nur im Labormaßstab erzeugbare synthetische Substanz entwickelt, das man sich 1937 patentieren ließ.

Ende der 1930er-Jahre wurde Pervitin, ob als Tablette oder beigemengt in Schokolade, ein Bestseller in Deutschland. In geringer Dosierung erwies sich das Methamphetamin als wirksamere Variante zu Koffein: leistungssteigernd, konzentrationsfördernd und scheinbar ohne Nebenwirkungen. 1939 registrierten ausländische Besucher mit Erstaunen, dass die weißen „Wunderpillen“ zum Massenphänomen geworden seien. Ob auch Konrad Adenauer zu dieser Zeit in Kontakt mit der Substanz kam, muss offen bleiben.

Das Denkmal für Konrad Adenauer, 1876 - 1967, Oberbürgermeister von Köln, Präsident des Preußischen Staatsrates, erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, vor St. Aposteln, Apostelnstraße, Köln, Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Europa | Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Denkmal für Konrad Adenauer in Köln
Quelle: picture alliance / imageBROKER

Der positiven Erfahrung der Jahre 1938/39 in Deutschland lag die Entscheidung der Wehrmachtsführung zugrunde, die Soldaten der Wehrmacht mit Pervitin auszurüsten. Im Polenfeldzug hatten Männer noch auf eigene Initiative das Aufputschmittel genommen und damit ihre Leistungsfähigkeit möglicherweise mitentscheidend gestärkt. Die „Panzerschokolade“ und die „Stuka-Pille“ galten rasch als wahre Wunderwaffen. Ab Anfang 1940 setzte das Militär daher systematisch auf Pervitin.

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Für die Invasionen in Norwegen im April und in Belgien, den Niederlanden und Frankreich im Mai 1940 bekamen daher die besonders beanspruchten Einheiten das Mittel zur Verfügung gestellt. In der entsprechenden Anweisung hieß es: „Zur Durchbrechung des Schlafbedürfnisses stehen als leichtere Mittel die Anregungsmittel wie Koffein, Scho-Ka-Kola, starker Tee, als stärkere die Weckmittel – Pervitin und andere – zur Verfügung.“

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Schon bald zeigte sich aber, dass Methamphetamin eben doch Nebenwirkungen hatte, und zwar wie bei fast allen Medikamenten abhängig von Dosis und Dauer der regelmäßigen Einnahme: Abhängigkeit einerseits, immer öfter notwendige und längere tiefschlafartige Ruhephasen andererseits. Daher wurde es schon 1941 den Regeln des Opium-Gesetzes (heute Betäubungsmittelgesetz) unterstellt und aus dem freien Handel genommen.

Dennoch beschafften sich viele Soldaten die Pillen weiterhin – der bekannteste Fall ist der spätere Schriftsteller und Literaturnobelpreis-Träger Heinrich Böll, der süchtig nach Methamphetamin war. Nach 1945 blieb Pervitin legal auf ärztliche Verschreibung hin und illegal auf verschiedenen Wegen in Westdeutschland verfügbar.

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Weil Patientenunterlagen auch von lange verstorbenen Menschen, ganz gleich ob prominent oder nicht, datenschutzrechtlich als intim gelten, stellen Archive sie so gut wie nie zur Verfügung, falls sie denn überhaupt erhalten sind. Eine der wenigen Ausnahmen sind die Behandlungsnotizen von Adolf Hitler.

Daher wird die Geschichtswissenschaft vermutlich daran scheitern, den Medikamentenkonsum Konrad Adenauers insgesamt aufzuklären. Auch gibt es, historisch gesehen, für Politiker kein Doping-Verbot. Wenn dem Gründungskanzler das Amphetamin offiziell verschrieben wurde, lag auch kein Verstoß gegen Gesetze vor – anders als 2016, als beim Grünen-Politiker Volker Beck zufällig 0,6 Gramm des illegalen Methamphetamins Crystal Meth gefunden wurden; das Verfahren gegen ihn wurde gegen eine Geldbuße eingestellt.

Ludwig Erhard (1897-1977), economist and politician, left, with Konrad Adenauer (1876-1967), statesman, at Bad Godesberg, 25 October 1960. | Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Ludwig Erhard und Konrad Adenauer – gleichzeitig Verbündete und Feinde
Quelle: picture alliance / Photo12/Ann R

Auch wenn also Adenauers politische Erfolge, der Aufbau der bundesdeutschen Demokratie, die Westbindung und das von Ludwig Erhard anfangs allerdings gegen den Willen des Kanzlers ermöglichte Wirtschaftswunder, gewissermaßen durch die Droge der Wehrmacht unterstützt worden sein sollten: Die Leistung des „Alten“ stellt das keineswegs in den Schatten.

Daniel Koerfer: Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer“ (Benevento Verlag, München. 987 S., 32 Euro)

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