Nachruf: Tanja Kinkel über Klaus Kinkel: Er war ein großer Versöhner

Nachruf: Tanja Kinkel über Klaus Kinkel: Er war ein großer Versöhner

Das letzte Mal sah ich ihn im November. Ich hatte eine Lesung in Siegburg, und da er im nahe gelegenen St. Augustin wohnte, nutzte ich die Gelegenheit zu einem Besuch bei ihm und seiner Frau Uschi. Es war ein herzhaftes Frühstück, mit Debatten über alles von der wahrscheinlichen CDU-Nachfolge bis zum längeren Reisen als Hundebesitzer (Jago war sein Ein und Alles).

Anschließend brachte er mich zum Zug und wartete, bis ich tatsächlich darin saß; seitdem ich einmal erkältet bei ihm aufgekreuzt war und er besorgt meine Eltern angerufen hatte, noch während ich mich auf dem Rückweg befand, schien er sich verantwortlich für mich zu fühlen.

Dabei, und wir hatten immer Spaß daran, es dementieren zu müssen, waren wir wirklich nicht miteinander verwandt.

Hans-Dietrich Genscher wurde zu Klaus Kinkels Mentor

Klaus Kinkel war Schwabe aus Metzingen – sein Vater und der Vater seines späteren Gegenspielers Markus „Mischa“ Wolf waren zur gleichen Zeit in Hechingen tätig, was die Romanschreiberin in mir faszinierte. Rudolf Augstein, erzählte er mir amüsiert, hätte ihm einst einen Deutschkurs angeboten, um den Akzent loszuwerden: „Sonst werden Sie nie etwas.“ Er brachte es bis zum Außenminister und Vizekanzler, wobei ich immer den Eindruck hatte, dass er, wenigstens im Rückblick, im Justizministerium am glücklichsten gewesen war.

Angefangen hatte seine politische Karriere, als ihn Genscher 1970 zu sich ins Innenministerium holte und ihn zum Chef des Ministerbüros machte. Damals war er 34, Jurist, und einer, für den Loyalität zum Berufsethos gehörte – und zur Freundschaft. Genscher wurde ein lebenslanger Mentor; nach dessen Tod mit der Witwe befreundet zu bleiben, statt, wie das nicht nur nach dem Ableben prominenter Männer geschieht, sich nicht mehr zu rühren, das war für einen wie Klaus Kinkel selbstverständlich.

„Kinkel-Initiative“ war seine riskanteste politische Handlung

Dabei legte er gleichzeitig durchaus auf die Formalität wert, die einem die deutsche Sprache gewährt. Im Kabinett Kohl hätten sich zum Schluss fast alle Minister geduzt, meinte er, bis auf ihn, der das angetragene Du ausschlug. Er gehörte zu den wenigen, die bis zum Schluss noch zum alten Kohl vorgelassen wurden, obwohl er durchaus nicht immer mit ihm einer Meinung war.

Seine riskanteste politische Handlung, die „Kinkel-Initiative“, mit der er Begnadigungen für die inhaftierten RAF-Terroristen vorschlug, hatte er sogar ohne Kohls Wissen vorgenommen. Nicht um ihn zu hintergehen, sondern eben aus Loyalität: Wenn sie statt der gewaltlosen Selbstauflösung der RAF eine neue blutige Anschlagswelle als Resultat gehabt hätte, dann, so Klaus Kinkel, wäre nur er, und nicht der Kanzler, dafür verantwortlich gewesen und selbstverständlich zurückgetreten.

Geheime Verhandlungen mit der RAF

Dabei sah er die RAF nicht durch eine rosarote Brille. Er hatte in den 70er-Jahren zum gefährdeten Personenkreis gehört und den „deutschen Herbst“ an vorderster Front miterlebt. In den 80ern war er es, der während der Hungerstreiks mit der inhaftierten Brigitte Mohnhaupt und weiteren Mitgliedern der zweiten und dritten Terroristen-Generation verhandelte. Ihre Ideologie, ihr Fanatismus waren ihm fremd. „Aber es konnte doch so nicht weitergehen. Man mußte doch etwas Neues versuchen. Und ich habe absichtlich den Begriff ,Versöhnung‘ gewählt.“

Er hatte sich die Fähigkeit zum Entsetzen bewahrt. „Was ich in Ruanda gesehen habe, das können Sie sich gar nicht vorstellen“, sagte er einmal. Dabei war er sich auch seiner eigenen blinden Flecke bewusst. Nachdem er den Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ gesehen hatte, der ihn beeindruckte und verstörte, habe er mit Genscher telefoniert, sagte er mir, und sie hätten darüber gesprochen, dass sie ja all die ehemaligen Nationalsozialisten in der Justiz der 60er-Jahre gekannt hätten – gekannt, doch nie infrage gestellt: „Ich hab’s damals wohl nicht wissen wollen.“ 

Klaus Kinkel war ein Buchliebhaber

Mit dem Ende seiner politischen Laufbahn hörte sein Interesse am Weltgeschehen nicht auf, im Gegenteil, aber er verzichtete darauf, über die Medien die Tagespolitik zu kommentieren. Wer aus dem Amt war, so sein professionelles Verständnis, sollte den Nachfolgern keine ungebetenen Ratschläge erteilen, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Wenn er privat kommentierte, dann teilweise durchaus heftig, aber eben: privat.

Er liebte Bücher. Als ich zum ersten Mal bei ihm zu Besuch war, sprangen mir sofort die übervollen Regale seiner sich durch das ganze Haus ziehenden Bibliothek ins Auge, die nichts Steriles, Dekoratives hatten; nein, die Bücher, die dort standen, waren gelesen und teilweise abgegriffen. Gleichzeitig hatte er eine fürchterliche Schrift; bei seinen Weihnachtskarten war immer meine gesamte Familie damit beschäftigt zu versuchen, sie zu entziffern. (Andere Politiker lassen ihre Sekretärinnen solche Nachrichten schreiben; für Klaus Kinkel kam nur das Persönliche infrage.)

Henry Kissinger: „Wen haben Sie mir denn da geschickt?“

Seiner Bücherliebe habe ich es wohl auch zu verdanken, dass wir uns Mitte der 90er-Jahre kennenlernten, doch es war seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die aus dieser Bekanntschaft eine Freundschaft machte, nachdem ich ihn zuerst bei meinem Roman „Götterdämmerung“ um Hilfe bei der Recherche gebeten hatte. Später, bei „Schlaf der Vernunft“, wurde er sogar zu einer der wichtigsten Quellen und zum Unterstützer, und das, obwohl ihn Henry Kissinger seinerzeit nach dem Gespräch für „Götterdämmerung“ grollend gefragt hatte: „Wen haben Sie mir denn da geschickt?“

Die Zeit schien sich lange von ihm fernzuhalten – er fuhr gerne Ski, spielte Tennis, wirkte mit 80 noch wie allerhöchstens 70, und wenn er mit Jago spazieren ging, dann wäre den beiden manch Jüngerer nur hinterhergekeucht. Aber von all den Mächtigen, denen er im Lauf seines Lebens begegnet ist, ist sie die einzige, die sich nicht auf ihn einließ. Nun hat sie ihn doch noch eingeholt. Ich werde ihn sehr vermissen.