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Zweiter Weltkrieg Behinderter Bruder

Hitlers Familiengeschichte muss korrigiert werden

Im Pfarrarchiv von Braunau am Inn hat ein Geschichtsforscher Beweise entdeckt, dass Hitler die Geburt eines behinderten Bruders erlebt hat. Generationen von Hitler-Biografen sahen das anders.
Freier Autor Geschichte
Der Dritt-, nicht der Viertgeborene: Adolf Hitler als Baby mit seinen Eltern Klara und Alois Hitler Der Dritt-, nicht der Viertgeborene: Adolf Hitler als Baby mit seinen Eltern Klara und Alois Hitler
Der Dritt-, nicht der Viertgeborene: Adolf Hitler als Baby mit seinen Eltern Klara und Alois Hitler
Quelle: ©2000 Credit:Topham Picturepoint

Über keinen Akteur des 20. Jahrhunderts wurden mehr Bücher und Aufsätze verfasst als über Adolf Hitler. Dennoch fördern Wissenschaftler mit schöner Regelmäßigkeit neue unbekannte Details aus dem Leben des braunen Diktators ans Licht. Erst vor einigen Monaten wurde durch den Fund seiner Krankenakte in der Festung Landsberg bekannt, dass Hitler an Kryptorchismus litt, also nur einen Hoden hatte. Jetzt können Geschichtsforscher nachweisen, dass entgegen aller Darstellungen in seinen Biografien Hitler einen jüngeren Bruder mit Namen Otto hatte, der mit einem Wasserkopf geschlagen war.

Auch in der neuesten, fast 1300 Seiten zählenden Hitler-Biografie des in England lehrenden Historikers Peter Longerich heißt es: Im Januar 1885 heiratete Alois Hitler seine Nichte zweiten Grades Klara. Im Mai kam das erste Kind der beiden, Gustav, auf die Welt, gefolgt von Ida im nächsten Jahr und Otto im Jahr darauf. Im Winter 1887/88 verlor das Paar innerhalb kurzer Zeit alle drei der gemeinsamen Kinder. Otto verstarb kurz nach der Geburt, Gustav und Ida erlagen der Diphtherie. Doch 1888 wurde Klara wieder schwanger und brachte am 20. April 1889 in Braunau am Inn, Vorstadt 219, ihr viertes Kind zur Welt. Es erhielt den Namen Adolf.

Es steht für Forschergeist, dass sich der Heimatforscher Florian Kotanko von soviel Autorität nicht abschrecken ließ, sondern die Quellen noch einmal einer kritischen Prüfung unterzog. Im Archiv der Braunauer Pfarrei sowie in den Chroniken einer Braunauer Wochenzeitung wurde er fündig.

In der Pfarrei wurde danach unter dem 17. Juni 1892 notiert, dass Otto Hitler um acht Uhr früh geboren wurde. An gleicher Stelle findet sich unter dem 23. Juni 1892 der 54. Todesfall des Jahres: Otto Hitler, Todeszeit 23. Juni 1892, acht Uhr abends. In der Rubrik „Krankheit oder Todesart“ heißt es: „Hydrozephalus“ (Wasserkopf).

Wie die „Oberösterreichischen Nachrichten“ über Kotankos Fund berichten, findet sich in der örtlichen Wochenzeitung „Neue Warte am Inn“ eine Parallelüberlieferung, die die Angaben stützt: In der Ausgabe vom 2. Juli 1892 meldet das Blatt: „Am 23. Juni Otto Hitler, Beamtenskind, 7 Tage alt, Wasserkopf.“ Alois Hitler hatte es vom Schuhmacher zum österreichischen Zollbeamten gebracht.

Nach den neu gefundenen Zeugnissen muss die Geschwisterfolge also deutlich korrigiert werden. Nach Gustav und Ida wurde Adolf geboren, nach ihm war die Mutter noch mit Otto, Edmund und Paula schwanger. Nur Paula erreichte das Erwachsenendasein und starb 1960 in Berchtesgaden.

Kotankos Fund wirft zwei Fragen auf. Haben die Schwangerschaft der Mutter sowie Geburt und früher Tod Ottos Auswirkungen auf Adolf gehabt? Und warum kommt dieses Detail, das doch durch recht einfache Archivrecherche gelüftet werden konnte, erst jetzt ans Licht?

Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn. Hier lebte die Familie bis 1892
Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn. Hier lebte die Familie bis 1892
Quelle: Getty Images

„Die Schlussfolgerung vieler Hitler-Biografen über die psychische Entwicklung Adolf Hitlers, der nach dem Tod von drei Geschwistern als einziges überlebendes Kind die besondere Zuwendung seiner Mutter Klara erfahren haben soll, sind nicht mehr haltbar“, wird Kotanko, der auch Vorsitzender des Vereins für Zeitgeschichte Braunau ist, von den „Oberösterreichischen Nachrichten“ zitiert. Wirklich?

Adolf und seine Geschwister wuchsen nicht in einer Familie auf, die mit den Kategorien moderner Helikoptereltern zu fassen wäre. Für Alois war es die dritte Ehe. Bereits vor der ersten hatte er ein Kind gezeugt. Die erste Ehe scheiterte, weil er sich mit einer Magd einließ. Diese wurde seine zweite Frau. Als sie erkrankte, holte er Klara in den Haushalt, mit der er Gustav zeugte. Seine Frau lebte da noch.

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„Die Unübersichtlichkeit der Verwandtschaftsverhältnisse war für die ländlichen Unterschichten dieser Zeit allerdings nicht untypisch“, resümiert Peter Longerich. Auch Alois Hitler, der als Beamter immerhin in kleinbürgerliche Verhältnisse aufgestiegen war, konnte sich dieser Prägung nicht entziehen. Kinder wurden geboren und starben. Ob die Freude der Mutter über die Schwangerschaft mit Otto die Zuwendung gegenüber dem dreijährigen Adolf, der doch bis dahin als einziges ihrer drei älteren Kinder überlebt hatte, beeinträchtigt hat, darf doch eher bezweifelt werden.

Kotanko geht aber noch weiter: „Inwieweit das Auswirkungen auf das spätere Verhalten Hitlers gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen hatte, ist eine der offenen Fragen.“ Dabei sind die Euthanasiemorde der Nationalsozialisten gemeint. Vom 1. September 1939 datiert Hitlers geheime Anordnung, dass „unheilbar Kranken ... der Gnadentod gewährt werden“ sollte. Auf der Grundlage dieses „Euthanasiebefehls“ wurden Zehntausende, die aus der Sicht der Nazis „lebensunwertes Leben“ darstellten, brutal ermordet.

Aktion T4 – Nazis morden mit System

Die Euthanasiemorde in der NS-Zeit oder Aktion T4 ist eine nach dem Zweiten Weltkrieg gebräuchlich gewordene Bezeichnung für die Ermordung von mehr als 100.000 Psychiatrie-Patienten und Behinderten.

Quelle: STUDIO_HH

Tatsächlich hat Hitler diese Anordnung erst im Oktober 1939 formuliert. Dass er sie aber auf den 1. September 1939 vordatierte, den Tag, an dem er mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg entfesselte, nehmen Historiker als wichtiges Indiz dafür, dass er damit auch den Krieg gegen all jene eröffnete, die in der deutschen Gesellschaft seinen Vorstellungen vom arischen Übermenschen nicht entsprachen.

Ob sich von Ottos Behinderung bis zum Weltkrieg wirklich eine Linie ziehen lässt, darf allerdings bezweifelt werden. Ein gewichtiges Argument dafür liefert die Antwort auf die zweite Frage, die sich mit Kotankos Neufund verbindet: Warum berichteten alle Biografen bislang etwas anderes?

Die Spur führt zu Hitlers jüngerer Schwester Paula. Im Mai 1945 wurde sie von US-Truppen in Berchtesgaden festgenommen. Im Verhör gab sie zu Protokoll, sie glaube nicht, „dass mein Bruder die Verbrechen anordnete, die unzähligen Menschen in den Konzentrationslagern angetan wurden“. Zugleich informierte sie über die frühen Familienverhältnisse der Hitlers. Dabei haben sich offenbar Fehler im Detail eingeschlichen.

Paula wurde in Hafeld bei Lambach geboren, wo sich die Eltern einen Alterssitz gekauft hatten. Zuvor war die Familie bereits nach Passau umgezogen, bald darauf ließ sie sich in Lambach selbst nieder. Das mag erklären, wie es zu Paulas Erinnerungslücken gekommen ist. Auf jeden Fall zeigen diese aber auch, dass der frühe Tod Ottos kaum einen herausragenden Punkt im Erinnerungskanon der Familie ausgemacht haben wird.

Der Fund von Florian Kotanko sollte dennoch nicht so einfach ad acta gelegt werden. Denn offenbar haben ganze Generationen von Historikern und Publizisten bei der Darstellung der Familiengeschichte Hitlers immer wieder voneinander abgeschrieben, statt sich einmal zu den einschlägigen Quellen zu bemühen. Deren Aussagen ändern an der fatalen Lebensgeschichte des wohl meistgedeuteten Politikers des 20. Jahrhunderts gar nichts. An unserer Vorstellung über die Arbeitsweise seiner Biografen indes schon.

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