Krieg im Osten: In der Hölle des Kessels von Demjansk - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Geschichte
  3. Zweiter Weltkrieg
  4. Krieg im Osten: In der Hölle des Kessels von Demjansk

Zweiter Weltkrieg Krieg im Osten

In der Hölle des Kessels von Demjansk

Vom Februar bis zum April 1942 waren 100.000 deutsche Soldaten in Demjansk im Norden der Ostfront eingeschlossen. Lange übersehene Akten im Bundesarchiv-Militärarchiv zeigen, wie die Bewohner der Stadt „mobilisiert“ wurden.
Leitender Redakteur Geschichte

Die Katastrophe war absehbar gewesen. Die Stellung des II. Armeekorps der Heeresgruppe Nord rund um die nordwestrussische Kleinstadt Demjansk war eigentlich nicht zu halten. Die sowjetische Winteroffensive ab dem 8. Januar 1942 zielte darauf, die sechs deutschen Divisionen des Armeekorps einzuschließen. Den strategisch gebotenen Rückzug jedoch untersagte Hitler: Demjansk sollte gehalten werden, um jeden Preis.

Nach einem Monat heftiger Kämpfe hatte die Rote Armee ihr erstes Ziel erreicht: Die knapp 100.000 Soldaten des Korps waren von allen Nachschubwegen abgeschnitten. Nach der seit Mitte Januar 1942 tobenden Kesselschlacht um Cholm, weiter südlich, wo allerdings nur 4000 Mann eingeschlossen waren und aus der Luft mit Nachschub versorgt wurden, war Demjansk die zweite Situation, in der Wehrmachtseinheiten im tiefsten Winter einen verzweifelten Abwehrkampf führen mussten.

Anders als Cholm umfasste der Kessel von Demjansk deutlich mehr als tausend Quadratkilometer – überwiegend Waldgebiete und etwas Ackerland, aber auch Dutzend Dörfer und kleine Weiher, in denen Zivilisten lebten, überwiegend Bauern und Landarbeiter. Für sie hatte die Kesselschlacht noch schlimmere Auswirkungen als für die eingeschlossenen deutschen Soldaten.

2-G56-O1-1942-105 (27591) MG-Stellung, Winter 1942 Geschichte: 2. Weltkrieg / Ostfront. - Deutsche MG-Stellung im Mittelab- schnitt der Ostfront. - Foto, Winter 1942 (Henrich). E: German machine gun position/ WWII/ 1942 History / World War II / Eastern Front - A German machine gun position in the central part of the Eastern Front. - Photo, winter 1942 (Henrich). |
Deutsche MG-Stellung im Winter 1941/42 (Propagandafoto)
Quelle: picture alliance / akg-images

Der amerikanische Historiker Jeff Rutherford, Professor an der Jesuit University in Wheeling (US-Bundesstaat West Virginia), hat die Leiden der Bevölkerung untersucht. Der Spezialist für die deutsche Ostfront im Zweiten Weltkrieg hat sich dazu intensiv mit den Berichten beschäftigt, die in den Akten der 123. Infanterie-Division im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg im Breisgau überliefert sind.

Schon unmittelbar nach Beginn des sowjetischen Angriffs war am 12. Januar 1942 der „Führerbefehl“ ergangen, in Frontnähe „alle Häuser ohne deutsche Soldaten niederzubrennen“. Das hatte mehrere, aus rein militärischer Sicht durchaus sinnvolle, gleichwohl zumal im eiskalten Winter natürlich verbrecherische Gründe: Wer bei minus 30 und weniger Grad unter freiem Himmel um sein Überleben kämpft, hat keine Energie übrig, Sabotageakte zu planen oder gar auszuführen.

Außerdem wurden die Häuser wenigstens oberflächlich durchsucht, bevor sie angesteckt wurden; versteckte Lebensmittelreserven wurden abtransportiert – die Wehrmacht hatte ohnehin ihren gesamten Vormarsch in die Sowjetunion hinein nach dem Prinzip „Leben aus dem Land“ durchgeführt: Die aus der Etappe gelieferte Nahrung musste durch vor Ort requirierte Bestände ergänzt werden, um auszureichen. Wenn deshalb Zivilisten verhungerten, wurde das billigend in Kauf genommen.

Ohne Pferde lag die Wehrmacht am Boden

Rund 2,75 Millionen Pferde dienten während des Zweiten Weltkrieges in der Wehrmacht. Sie transportierten Nachschub und zogen Geschütze. Ohne sie wäre der motorisierte Krieg nicht zu führen gewesen.

Quelle: Die Welt

Im Kessel verschlimmerte sich diese Situation sogar noch, denn die beschränkte Lufttransportkapazität genügte gerade eben, die nötigste Munition und Verpflegung für die ausgelaugten Soldaten einzufliegen. Entsprechend rücksichtslos gingen viele hungrige Wehrmachtssoldaten vor.

Zwar lautete die offizielle Anweisung, dass stets Offiziere die Beschlagnahme von Reserven bei den Einheimischen zu überwachen hätten. Doch in der Praxis war das undurchführbar – zumal die Verluste der Divisionen enorm waren: Schon vor den sowjetischen Gegenangriffen hatte die 123. Infanterie-Division 1221 Tote und 4564 Verletzte eingebüßt, bei einer nominellen Stärke von rund 16.000 Mann.

Was das bedeutete, zeigt ein Blick auf die Kompanie-Ebene: Die jeweils erste Kompanie des 415. und des 416. Infanterieregiments hatten von ihren 180 und 192 Mann zu Beginn des Barbarossa-Feldzuges am 22. Juni bis Ende 1941 jeweils rund 40 Prozent eingebüßt und verfügten nur noch über 119 und 114 einsatzfähige Soldaten. Angesichts solcher Verluste war die Neigung, Zivilpersonen des Gegners zu schonen, äußerst gering.

Scherl: Festung Demjansk: 4. Monate lang wurden die Truppen in der Festung Demjansk mit der Ju 52 versorgt. Verpflegung, Munition, Waffen, Truppen sozusagen alles schaffte die Ju 52 nach vorn und nahm die Verwundeten und Kranken mit in die Heimatlazarette.
Die eingeschlossenen Soldaten konnten aus der Luft nur mit dem Notwendigsten versorgt werden
Quelle: Bundesarchiv, Bild 101I-003-3446-16 / Ulrich / CC-BY-SA 3.0
Anzeige

Noch schlimmer wurde es, als der Kessel sich stabilisierte. Nun war klar, dass vor dem Frühjahr nicht mit einem Entsatzangriff der Heeresgruppe Nord zu rechnen war – Hitler hatte ihn zwar am 13. Februar angeordnet, doch fehlten dafür bis auf Weiteres Material und Männer. Die deutschen Soldaten um Demjansk brauchten nun Zwangsarbeiter, die Verteidigungsstellungen ausbauten. Also erließ der Stab der 123. Division den Befehl, „rücksichtslos alle Einwohner, einschließlich Frauen und Kindern, zu mobilisieren“.

Weil die Offiziere befürchteten, in ihrem Zuständigkeitsbereich nicht mehr genügend Druck auf die frierenden, hungernden Zivilisten ausüben zu können, griffen sie zu einer ebenso grausamen wie kurzsichtigen Methode: Sie zwangen die Einwohner einfach aus ihrem Gebiet in den Frontabschnitt der nächsten deutschen Division. Konkret wurden ab Mitte Februar 1942 die Einwohner etwa des kleinstädtischen Molvotitsy, 1130 Menschen, aus ihren Häusern vertrieben und in den benachbarten Abschnitt der deutschen 12. Infanterie-Division verdrängt. Wenn es von dieser Einheit eine Beschwerde gab, so ist sie jedenfalls nicht überliefert.

Die deutschen Maßnahmen gegen Zivilisten im Kessel von Demjansk führten zum Tod von zahlreichen Menschen, darunter vielen Frauen und Kindern. „Dies waren keine ideologisch motivierten Morde“, bilanziert Rutherford, „sondern das Ergebnis der Nutzbarmachung von allem und jedem zugunsten des Sieges, die von der Wehrmacht betrieben wurde – ohne Rücksicht auf Kollateralschäden.“ Mit einem anderen, in Deutschland eingeführten Begriff: eine Folge des Vernichtungskrieges.

Dieser Artikel wurde erstmals im März 2017 veröffentlicht.

Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema