Katrin Gebbe: „Man muss um jedes Kind kämpfen“

Katrin Gebbe: „Man muss um jedes Kind kämpfen“

Die Regisseurin Katrin Gebbe über ihren Film „Pelikanblut“, in dem ein Kind lächelnd grausam wird, über die Sicht der Gesellschaft auf Erziehung und die Notwendigkeit, Grenzen zu überschreiten.

Katerina Lipovska, die junge Hauptdarstellerin in dem Film „Pelikanblut - Aus Liebe zu meiner Tochter“ von Katrin Gebbe: Ein engelsgleiches Mädchen verwandelt sich in ein kaum zähmbares Wesen.<br>
Katerina Lipovska, die junge Hauptdarstellerin in dem Film „Pelikanblut - Aus Liebe zu meiner Tochter“ von Katrin Gebbe: Ein engelsgleiches Mädchen verwandelt sich in ein kaum zähmbares Wesen.
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Katrin Gebbe zeigt Menschen in extremen Situationen. Allerdings nicht im Hochgebirge oder im Krieg. Sie stellt sie in einen Alltag, in die Nachbarschaft von jedermann. Der Held ihres ersten Films, der sanftmütige Tore, ein sehr gläubiger junger Mann, wird von einer Familie brutal ausgenutzt. Die Hauptfigur ihres zweiten Films, gespielt von Nina Hoss, gerät als Mutter eines wilden Adoptivkindes an ihre Grenzen. Als wir uns im März kurz vor dem geplanten Filmstart in Berlin im Café Einstein zum Gespräch trafen, begrüßten wir uns schon nicht mehr mit Handschlag und achteten darauf, nicht zu husten. Doch dass Kinos geschlossen würden, konnten wir uns nicht vorstellen. Nun endlich wird „Pelikanblut“ zu sehen sein. Das Interview beginnt mit einer Frage, die damals noch gar nicht stand. Wir haben sie per E-Mail ergänzt.

Katrin Gebbe, der Start Ihres zweiten Kinofilms „Pelikanblut“ hat sich um fast ein halbes Jahr verschoben. Was bedeutete die Zeit des Wartens für Sie?

Erst mal war ich verunsichert und auch enttäuscht, denn ich habe mich sehr auf den Kinostart und weitere Festivalteilnahmen für den Film gefreut. Aber dann kehrte irgendwann eine unerwartete äußere und innere Ruhe ein. Und die habe ich dann genutzt, um an den nächsten Projekten zu arbeiten. Diese Konzentration hätte ich nicht gehabt, wenn ich mit dem Film auf Tour gewesen wäre. Nun hoffe ich aber sehr, dass es endlich losgeht und auch, dass die Leute sich wieder in die Kinos trauen. Denn es ist wirklich im Vergleich zu vielem anderen eine sichere Sache.

Zu Ihrem ersten Film, „Tore tanzt“, hieß es, er sei nach einer wahren Geschichte entstanden. Gibt es diesmal auch eine? Wie sind Sie auf diesen Stoff gestoßen?

Schon bei „Tore tanzt“ hat mich die Frage beschäftigt, wie man zu dem wird, der man ist. Selbst ein Bösewicht oder ein Psychopath wird ja meist nicht so geboren, sondern es gibt oftmals Ereignisse, die einen Menschen prägen. Mich hat interessiert, ob und inwieweit so eine Entwicklung umkehrbar ist. Bei meinen Recherchen bin ich auf eine Dokumentation über ein Mädchen gestoßen, das einem Psychiater schildert, was es alles Böses mit seinem Brüderchen angestellt hat. „Child of Rage“ heißt sie, stammt vom Anfang der 90er-Jahre.

So ein wütendes Kind ist Ihre jüngste Heldin auch.

Das Erstaunliche daran ist, was für einen gewinnenden Eindruck dieses Mädchen in der Dokumentation auf den ersten Blick macht, mit klaren, wunderschönen blauen Augen. Doch in dem Gespräch zeigt es keinerlei Empathie, sondern im Gegenteil eine gewisse Lust, wenn diese Taten zur Sprache kommen. Aber, das habe ich recherchiert, aus dem gefühllos wirkenden Kind von damals ist eine Krankenschwester geworden.

Also gab es dann positive Ereignisse?

Ja, dieses Mädchen ist von einer Frau adoptiert worden, die sich mit aller Kraft für sie eingesetzt hat und damit Erfolg hatte. Das glückt nicht immer.

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Foto: Markus Wächter
Zur Person
Katrin Gebbe, geboren 1983, hat freie Kunst und visuelle Kommunikation in Enschede und Regie in Hamburg studiert. Ihr Spielfilmdebüt „Tore tanzt“ über einen Jesus-Freak lief 2013 bei den Filmfestspielen von Cannes in der Reihe Un Certain Regard. Für den Film erhielt sie den Preis der deutschen Filmkritik für das beste Spielfilmdebüt sowie den Bayerischen Filmpreis für die beste Nachwuchsregie. 2016 drehte sie einen „Tatort“ für den SWR.

Ihr zweiter Spielfilm „Pelikanblut“ wurde bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2019 uraufgeführt und kommt dieser Tage in die deutschen Kinos.

Bei Ihnen entpuppt sich das zweite Mädchen, das eine deutsche Frau aus dem Ausland adoptiert, als unheimliches Monster. Ist es nicht heikel, Kinder so darzustellen?

Ich habe mich explizit bemüht, das Kind nicht als Antagonisten darzustellen, das „bekämpft“ werden muss, sondern als ein Wesen, das selbst in der Klemme steckt und Hilfe braucht. Meiner Meinung nach muss man um jedes Kind kämpfen. Und das tut unsere Protagonistin, obwohl auch ihre Empathie an Grenzen gerät. Es gibt Menschen, die sich, oft über viele Jahre, um eine Adoption bemühen. Wenn es dann endlich klappt, muss das aber nicht heißen, dass sofort beide Seiten glücklich sind. Leider kommen Kinder manchmal auch wieder in die Heime zurück. Ich bin zum Beispiel auf den Fall einer amerikanischen Familie gestoßen, die einen russischen Jungen nach zwei Wochen wieder zurückschickte. Nach zwei Wochen, alleine im Flugzeug. Was mag da vorgefallen sein?

Stimmt mein Eindruck, dass darüber öffentlich nicht gesprochen wird?

Ich glaube schon, dass das ein Tabuthema in unserer Gesellschaft ist. Denn das hinterfragt ja das Ideal der Elternschaft, erst recht wenn Sie Adoptiveltern sehen, die aus Überzeugung ein Kind aufnehmen. Und es ist das eine, zu wissen, dass das Kind möglicherweise traumatisiert ist, und das andere, Ablehnung oder Aggression zu Hause aushalten zu müssen und damit umzugehen.

Muss man nicht sowieso verheiratet sein, wenn man ein Kind aufnehmen möchte?

Für eine alleinstehende Frau, die auch noch arbeitet, wie in Wiebkes Fall, ist es innerhalb Europas legal nur möglich, Kinder aus Bulgarien zu adoptieren. Und das sind dann tatsächlich solche, für die sich in bulgarischen Familien kein Platz fand. Zumindest war das so, als wir den Film vorbereiteten, da ist ja auch einiges in Bewegung.

Im Bestreben, dem neuen Mädchen beste Bedingungen zu schaffen, will die Mutter es sogar stillen. Das scheint mir ein sehr überhöhtes Bild zu sein.

Ich fand diese Herangehensweise sehr poetisch und auch nachvollziehbar. Bei kleineren Adoptivkindern ist es nicht selten, dass die Mütter stillen. Sogar die Adoptivmutter eines neunjährigen Kindes hat mir erzählt, dass ihr Sohn mit dem Wunsch auf sie zugekommen ist, diese Erfahrung einmal zu machen. Denn es gibt letztlich nichts Intimeres zwischen Mutter und Kind, um eine emotionale Nähe zu erreichen. Zugleich ist es eine weitere gesellschaftliche Frage. Heutzutage ist allgemein anerkannt, wie gut und wichtig Muttermilch ist. Doch nur für eine bestimmte Zeit. Wenn fünf- oder sechsjährige Kinder noch gestillt werden, dann guckt keiner mehr freundlich.

Das ist praktisch geächtet.

Auf jeden Fall löst es beim Betrachter Emotionen aus. Dazu scheinen auch alle etwas sagen zu dürfen. Überhaupt finde ich die Mutterrolle sehr belastet, mit dem Blick von außen und den eigenen Ansprüchen.

Nie im Leben bekommt man ungefragt so viele Ratschläge von anderen wie als Mutter eines kleinen Kindes.

Die Erfahrung habe ich auch gemacht. Man will sich gar nicht ausmalen, wie viel man in den Augen anderer falsch machen kann.

In dem Kinderheim in Bulgarien sieht Wiebke, die Mutter, ein Bild von einem Pelikan, der seine Brut mit dem eigenen Blut säugt. Haben Sie dieses drastische Bild in solch einem Heim gefunden?

Nein, das ist aber ein antiker Mythos, der auch ins Christentum Eingang gefunden hat. Seit ich an dem Film arbeitete, habe ich von Freunden und Teamleuten oft Fotos von Kirchen geschickt bekommen, die das Motiv als Relief an der Wand haben oder als Teil des Altars. Ich finde es ganz eindrucksvoll für aufopfernde Mutterliebe, weil darin zugleich die Frage nach deren Grenze steckt. Dieser Pelikan sticht seine Brust auf, um mit dem eigenen Blut die toten Jungen wieder zum Leben zu erwecken – zerstört damit aber sich selbst.

Zerstört sich die Mutter im Film?

Na, wir wollen hier nicht alles verraten. Aber solche Überlegungen, in welchem Maße Empathie wirken kann, die wollte ich anstoßen.

Bei mir klappt das. Ich bin ganz schön durchgeschüttelt worden in der Betrachtung des Films.

So eine Beteiligung möchte ich auf jeden Fall erreichen. Man kann die Fragen ja auch allgemeiner stellen: Wie gehen wir mit Kranken, Andersdenkenden und -handelnden um, die sich nicht so leicht in unsere Gesellschaft integrieren können oder wollen. Wie weit sind wir bereit zu helfen, wenn unsere eigenen Grenzen berührt werden? Wie sehr folgen wir unserem Idealismus, wenn der Weg steinig wird? Für mich sind das Lebensfragen.

Ist das Ihre Auffassung vom Filmemachen: Fragen aufzuwerfen?

In einem Interview sollte ich mal sagen, was denn genau das Statement meines Films sei. Doch darum geht es mir nicht. Sonst würde ich ein Pamphlet schreiben. Kunst öffnet Räume, soll inspirieren, vielleicht auch verstören. Kunst darf poetisch sein. Das will man leider Filmen oft gar nicht zugestehen, vielleicht weil etliche auch gar keine Vielschichtigkeit mehr aufweisen und der Zuschauer das nicht mehr gewohnt ist. Der Film hat aber so viele Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen. Ich finde es selber toll, wenn ich aus dem Kino nach Hause komme und noch drei Tage daran knuspern muss.

Manchmal vergessen wir, dass Kinder eines Tages Erwachsene sind.

Katrin Gebbe

Sie haben anfangs von dem Mädchen aus der Dokumentation gesprochen. Nun ist Ihre kindliche Hauptdarstellerin Katerina Lipovska auch ein zuweilen engelsgleich wirkendes Mädchen, das dann ordentlich aufdreht. Wie haben Sie sie gefunden?

Wie Sie wissen, ist Wiebke darauf angewiesen, für ihren Adoptionswunsch in Bulgarien zu suchen. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass dann deutsche Kinder so tun, als hätten sie mal bulgarisch gesprochen. Wir haben also in Sofia ein Kinder-Casting gemacht und ein Kind gesucht, das diese Möglichkeiten in sich hat. Es stellte sich ziemlich schnell heraus, dass Kinder, die bereits zur Schule gingen, viel zu reflektiert waren, die wollten gefallen, die haben sich benommen, denen fiel es schwer, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht darf. Auch physisch passiert in dem Alter schon viel. Ich wollte noch dieses Wonneproppige, ein Kind, das Mutterinstinkte auslöst. Die Kati fiel mir sofort auf, sie war rotzfrech und tat, worauf sie Lust hatte. Sie konnte sowohl dieses Niedliche zeigen, sich wie ein Baby mit Joghurt füttern lassen, aber sie konnte auch einen Plüschbären mit einer unzähmbaren Wut durch die Gegend schmeißen. Und es stellte sich heraus, dass ihre Mutter Kinder-Coach ist, ein Kindertheater leitet und mit ihr auch schon gearbeitet hat.

Also wusste die Mutter auch, wie man dem Mädchen beibringt, einen Satz wie „Ich mach dich tot“ zu sagen?

Der hatte dann für das Mädchen eine andere Bedeutung.

Wie das?

Nicht alle Sätze, die Kati auf Deutsch sprach, hat sie mit der richtigen Übersetzung gelernt. Für sie bedeutete er so was wie: „Ich habe Recht!“ Die Mutter hat mit Kati eine eigene Storyline eingeübt. Sie sollte das Gefühl haben, sie spielt ein Mädchen, das Tierärztin werden will, die Szenen haben wir dann ganz genau geplant.

Auch Nora Fingscheids vielfach ausgezeichneter „Systemsprenger“ handelt von einem sehr schwierigen Kind. Wie kommt es, dass dieses Thema so lange keine Rolle spielte?

Manchmal vergessen wir, dass Kinder eines Tages Erwachsene sind und unsere zukünftige Gesellschaft bilden: Menschen, die bestimmte Erfahrungen gemacht haben. Wir leben in einer eigentlich luxuriösen Zeit, in der wir viel wissen über die Psyche und über soziale Zusammenhänge. Dennoch sind es viele kleine Bausteine, die ein glückliches Aufwachsen bedingen und die unmittelbare Verantwortung, gerade wenn noch dramatische Ereignisse wie Krankheit oder Tod im Umfeld dazukommen, kann eine große Überforderung bedeuten. Leider werden Kinder, die nicht in unsere Systeme zu passen scheinen, oft ausgestoßen. So empfinde ich es auch bei Menschen mit Behinderung oder Kriminellen. Wir neigen generell dazu, Probleme auszublenden. Vielleicht beschäftigen sich weibliche Filmemacherinnen, die jetzt mehr und mehr die Chance haben, ihre Filme zu machen, anders mit diesen Themen. Ich hatte übrigens eine Fassung beim Schreiben, mit der ich meinen Film dort enden ließ, wo „Systemsprenger“ aufhört. Diese Frau hätte das Kind wieder zurückgegeben und jeder hätte es verstanden.

Wenn Menschen in Krisen sind, die unlösbar scheinen, entwickeln sie oft ein enormes Verlangen nach Halt, nach Glauben, nach Transzendenz, das in unserer Gesellschaft nicht erfüllt wird.

Katrin Gebbe

Die Mutter durchläuft einen Weg von der Powerfrau, die ihren Hof alleine führt, Polizisten im Umgang mit Pferden ausbildet, zu dem Punkt, an dem sie bereit ist, an Hexenwerk zu glauben. Warum?

Sie hat physisch und mental ihre Grenze erreicht. Entweder sie gibt auf, oder sie muss etwas finden, das größer ist als sie selber. Wenn Menschen in Krisen sind, die unlösbar scheinen, entwickeln sie oft ein enormes Verlangen nach Halt, nach Glauben, nach Transzendenz, das in unserer Gesellschaft nicht erfüllt wird. In Mexiko zum Beispiel werden Medizin und Schamanismus noch zusammengebracht. Im Film kann ich meine Figur weitergehen lassen, als es unseren normalen Zusammenhängen entspricht. Es ist auch wie ein Akt des Trotzes. Ich sehe das in diesem Zusammenhang vor allem als Kraftsuche, als feministischen Akt und Symbol.

„Tore tanzt“ hatten Sie in die Kapitel „Glaube, Liebe, Hoffnung“ unterteilt. Hier scheint es mir andersherum zu sein, obwohl Sie auf Überschriften verzichten: Es beginnt ja mit der Hoffnung auf eine größere Familie, auf ein Geschwisterkind für ihre erste Adoptivtochter. Mit Liebe versucht sie, einen Weg zu dem Kind zu finden.

Aber Liebe ist manchmal eben nicht genug. Das sagt ihr auch der Kinderpsychologe. Ich finde es interessant, dass Sie es so sehen. Und ich würde mich zwar als Atheistin betrachten, aber ich glaube in einer gewissen Form zum Beispiel an meine Arbeit. Ich will da etwas verwirklichen. Egal, wie man es bezeichnet, hat man doch eine Kraft in sich, mit der man versucht, Krisen zu bewältigen. Und ich finde, Nina Hoss leistet da als Wiebke Wahnsinniges, sie geht durch alle Emotionen durch.

Verstehen Sie das auch als Bild für andere Zusammenhänge?

Genau, das betrifft nicht nur das Private: Es ist einfach, von Moral und Integrität zu sprechen, doch erst in Krisensituationen sieht man, was es kostet, zu seinen Idealen zu stehen. Da können wir auch an die Flüchtlingskrise denken. Es reicht nicht zu sagen, wir wollen den traumatisierten Kindern in den Lagern helfen. Das verlangt auch Opfer von der Gesellschaft.

„Tore tanzt“ hatte in Cannes Premiere, „Pelikanblut” in Venedig. Was bedeutet diese internationale Präsenz für Ihre Arbeit in Deutschland, wo Sie gar nicht so bekannt sind?

Ich kann mir internationales Arbeiten sehr gut vorstellen und habe auf den Festivals Kontakte knüpfen können zu Menschen, bei denen ich spüre, dass ihr Herz ähnlich schlägt. Solche Festivals geben mächtig Kraft weiterzumachen, aber das allein zahlt auch nicht die Miete. Ich hoffe schon, dass ich bald auch schneller Filme machen kann. Aber bei mir kommt hinzu, dass ich beide selbst geschrieben habe, das dauert. Und es dauert auch, sie zu finanzieren. Die Filmkunst lebt von ihrer Vielfalt, und was im deutschen Film Unkonventionelles keimt, muss auch unterstützt werden. Leider werden zu oft nur sehr ähnliche Projekte gefördert.

Das Gespräch führte Cornelia Geißler.