Katja Kipping: Wir müssen jetzt das 9-Euro-Ticket verlängern

Katja Kipping: Wir müssen jetzt das 9-Euro-Ticket verlängern

Die Sozialsenatorin der Linken über Projekte, die jetzt noch fertig werden müssen, und Standards, die die Hauptstadt für Deutschland gesetzt hat. Ein Interview.

Die Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales Katja Kipping in Berlin am 24. März 2023
Die Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales Katja Kipping in Berlin am 24. März 2023Emmanuele Contini

Das Gespräch findet im Senatorinnenbüro in der Oranienstraße statt. Die großformatigen Bilder hat Katja Kipping von ihrer Vorgängerin Elke Breitenbach übernommen. Zum Umdekorieren hatte sie bis heute keine Zeit.

Frau Senatorin, was haben Sie ab Mai vor, wenn der neue Senat seine Arbeit aufnimmt?

Na ja, noch sind die letzten Messen nicht gesungen. Noch hat die SPD-Basis nicht Ja und Amen zu Schwarz-Rot gesagt, und nach dem, was ich höre, ist in den letzten Koalitionsrunden die Stimmung deutlich schlechter geworden.

Glauben Sie, dass Schwarz-Rot noch scheitert?

Das hat jetzt die SPD-Basis in der Hand. Es gibt zumindest noch eine kleine Chance auf Rot-Grün-Rot und darauf, dass wir sozialökologische Mehrheiten hier doch noch nutzen.

Die Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales Katja Kipping in Berlin am 24. März 2023
Die Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales Katja Kipping in Berlin am 24. März 2023Emmanuele Contini

Dann haben also noch keinen längeren Urlaub gebucht?

Nur einen kleinen. Ich fahre für fünf Tage mit meiner Tochter in den Osterferien nach Island. Ich möchte ihr die Geysire und heißen Quellen zeigen. Ich dachte, dass das auch eine gute Begleitung für den Geografie-Unterricht ist. Aber ansonsten gehen wir davon aus, dass noch alles offen ist. Und solange es das ist, bin ich weiterhin Senatorin.

Gibt es Projekte, die Sie noch fertigstellen wollen oder müssen, damit sie nach der Neubildung des Senats nicht von Wegfall bedroht sind?

Es gibt in der Tat akut ein Projekt, an dem wir jetzt noch arbeiten. Das ist die Verlängerung des 9-Euro-Sozialtickets für das ganze Jahr 2023. Dafür habe ich ja bis zum letzten Tag vor der Wiederholungswahl im Senat gekämpft und dieser hatte dann erst mal nur bis Ende April verlängert. Jetzt muss dieser Senat noch die Weiterführung bis Ende des Jahres beschließen, weil es ansonsten zu einem Abbruch kommt. Das Geld ist auch vom Abgeordnetenhaus im Nachtragshaushalt eingestellt, ist also vorhanden, aber zur Freigabe muss eine Entscheidung getroffen werden. Und dann geht es natürlich noch um die Geflüchteten.

Was muss da konkret geregelt werden?

Das ist die Frage der Unterbringung. Es gibt da ein paar Entscheidungen, wo ich sagen würde, die wird der neue Senat treffen müssen. Also zum Beispiel braucht es für die Entscheidung, wo die neuen modularen Unterkünfte, also die MUFs, für Geflüchtete hinkommen, die Autorität des neuen Senats. Aber wir machen schon überall Werbung dafür, dass es unbedingt ein MUF-Neubauprogramm gibt, denn wir haben weiterhin hohe Ankunftszahlen von Asylsuchenden. Auch aus der Ukraine kommen weiterhin Geflüchtete, und deswegen sagen wir, es braucht eine Neuauflage des MUF- Bauprogramms.

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Emmanuele Contini
Katja Kipping 
ist seit dem 21. Dezember 2021 Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales. Die Linke-Politikerin wird wegen des Koalitionswechsels aus dem Amt ausscheiden. 

Zuvor war sie seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages und von 2012 bis 2021 gemeinsam mit Bernd Riexinger Parteivorsitzende. Die 45-Jährige ist Mutter einer Tochter. 

Betrifft das auch das Ankunftszentrum in Tegel?

Ja, wir streben da jetzt noch mal eine kurze Verlängerung an, damit die neue Hausleitung Zeit genug hat, sich fundiert eine Meinung zu bilden und dann eine Grundsatzentscheidung zu treffen. Wir bereiten Dinge vor und geben Empfehlungen, damit die neue Hausleitung nicht bei null anfangen muss.

Wie sind Sie denn mit dem Obdachlosen-Programm vorangekommen, dem sogenannten Housing First?

Also, Housing First hat mich sehr, sehr überzeugt, und wir sind damit vorangekommen, das auszuweiten. Wir haben es erstens geschafft, dass es aus dem Status des Pilotprojektes raus und nun verstetigt ist. Wir haben zwei weitere Projektstandorte eröffnet und sind jetzt gerade dabei, die Interessenbekundungsverfahren für weitere Akteure, die auch Housing First anbieten wollen, auszuwerten. Berlin hat mit Housing First auch bundesweit ein Zeichen gesetzt. Berlin hat da eine Leuchtturmfunktion eingenommen. Auch das Bundesbauministerium ist darauf aufmerksam geworden. Wir haben da schon Standards gesetzt, die bundesweit ausstrahlen.

Würden Sie sagen, dass Sie hier Ihren Traumjob gefunden haben?

Ja, irgendwie schon. Also, es war ganz anders, als ich es geplant hatte. Ich bin angekommen und hatte dann erst mal Vorlagen zu unterzeichnen, mit denen ich Millionenbeträge freigegeben habe. Das muss man auch erst mal verarbeiten. Ich weiß noch, zwischen Weihnachten und Silvester waren meine ersten richtigen Arbeitstage, und da habe ich angesichts mancher Summe, mit der man zu tun hat, Respekt bekommen. Dann hatte ich selbst Corona, und als das vorbei war, kam der Krieg in der Ukraine.

Wissen Sie noch, wo Sie da waren?

Ja, klar. Ich hatte mich an dem Morgen gerade freigetestet, da kam die Nachricht im Radio: Russland hat die Ukraine angegriffen. Da war mir klar, dass wir jetzt in einer anderen Situation leben, und dass es Auswirkungen auf uns hier haben wird. Deswegen haben wir dann auch sehr schnell reagiert. Es war also ein ganz anderer Anfang als gedacht. Aber das Team hier ist wirklich eines der besten Teams, mit denen ich jemals zusammengearbeitet habe. Eine wunderschöne Erfahrung.

Sie kamen aus der Opposition und zusätzlich aus einer, nun ja, eher dysfunktionalen Bundestagsfraktion. Haben Sie in der Senatsverwaltung viel Gestaltungsfreiraum gewonnen oder liegt vieles durch frühere Weichenstellungen einfach fest?

Mit folgenden drei Maßgaben bin ich an die Arbeit gegangen: Erstens das, was zu tun ist, bestmöglich zu erledigen. Das geht natürlich nur mit einem tollen Team. Zweitens wollte ich die Projekte, die der Koalitionsvertrag vorsieht, auch gut durchsetzen, wie zum Beispiel die Ausbildungsplatzumlage. Und drittens wollte ich schauen, wo sind Spielräume, die wir auf Landesebene haben, die es noch stärker zu nutzen gilt für gute Arbeit, Partizipation aller und soziale Gerechtigkeit?

Gab es diese Spielräume?

Oh ja. Zum Beispiel als wir das Entlastungspaket geschnürt haben. Da war uns wichtig, sicherzustellen, dass es jetzt nicht weniger Begegnungsorte gibt, sondern mehr. Deswegen haben wir das Netzwerk der Wärme ins Leben gerufen. Oder auch: Was können wir auf Landesebene tun, um beispielsweise das Streikrecht von Azubis zu stärken? Da ist Berlin noch nicht dort, wo es sein sollte. Aber dieses Thema starkzumachen und zu sagen, hier ist auch die Politik gefragt, eine Lösung zu finden und den Azubis, die streiken wollen, den Rücken zu stärken, das ist zum Beispiel so ein Anliegen.

Wie hat Rot-Grün-Rot Ihrer Meinung nach als Koalition zusammengearbeitet? Die SPD schimpft jetzt auf die Grünen, die Grünen auf die SPD, die Linke ist außen vor. Wie war das im Senat?

Ich bin gerne in den Senat gegangen. Natürlich gab es politische Kontroversen. Natürlich prallten auch mal die unterschiedlichen Interessen der Senatsverwaltungen aufeinander. Da muss man dann gemeinsam darum ringen, die beste Lösung zu finden. Ich hatte den Eindruck, das hat gut funktioniert.

Alles ganz harmonisch am Berliner Kabinettstisch?

Es gibt diese gegenseitige Kritik von SPD und Grünen. Ich würde das gerne ein bisschen im größeren Kontext analytisch einordnen. Das hat weniger mit soziokulturellen Unverträglichkeiten zu tun, sondern mehr mit einem strategischen Dilemma unserer Zeit. Die SPD hat eher die Außenbezirke im Blick, die Grünen dagegen ganz klar die Ökologie plus die Innenstadtbezirke. Was es aber braucht, ist eine Versöhnung von Sozialem und Ökologischem, von Innen und Außen.

Leichter gesagt als getan, oder?

Meiner Meinung nach besteht die Mission der Berliner Linken auch darin, das zusammenzudenken, und zwar deshalb, weil in unserer Wählerschaft beides verankert ist. Wir haben die Perspektive der jungen Klimaschützer und wir haben die Perspektive der Ostrentnerinnen und -rentner und wir wissen, dass man das zusammenbringen muss.

Wie gut hat die Berliner Koalition konkret zusammengearbeitet?

Natürlich gab es unterschiedliche Perspektiven und bei manchen persönlichen Nickeligkeiten braucht man schon etwas Großmut. Aber entscheidend ist doch Folgendes: Diese Zeit verlangt nach einer Politik, die Soziales und Ökologisches zusammendenkt und nicht gegeneinander ausspielt.

Haben Sie schon Pläne für Ihre eigene Zukunft?

Diese Situation habe ich nicht frei gewählt. Hätte ich das tun können, würde ich die Arbeit für ein soziales Berlin mit diesem tollen Team weitermachen. Jetzt, in einer nicht frei gewählten Situation, werde ich mir jedoch eine große, große Freiheit gönnen und mit Muße über meine Herzensthemen nachdenken. Wie gelingt der Schutz vor Armut, der sozial-ökologische Umbau, die Vier-Tage-Woche? Welche Position wäre dafür am besten? Deswegen kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nichts Belastbares sagen, wie es mit mir beruflich weitergeht.

Der Parteivorsitz der Linken in Berlin ist ein Ehrenamt. Wie sieht es damit aus?

Das würde ja bereits Anfang Mai beginnen, und da ich bin ja womöglich noch Senatorin. Daher ist das keine Option. Ich war ein Vierteljahrhundert auf Parteitagen immer als Funktionärin, Vorsitzende, Abgeordnete oder Senatorin dabei. Ich freue mich, im Mai als Basismitglied auf dem Parteitag der Berliner Linken sprechen zu können.

Wie nehmen Sie Berlin wahr, wie empfinden Sie die Stadt?

Faszinierend: Die Stadt hat echt zwei Seiten. Man merkt hier noch immer die Folgen eines vollkommen verfehlten Sparkurses. Es gab ja mal eine Zeit, da galt es als besonders sexy, in der Verwaltung zu sparen. Verwaltung, das klang so nüchtern und so, als ob das nichts mit dem eigenen Leben zu tun hat. Spätestens wenn man Kinder hat, einen Pass beantragen muss oder einen Kitaplatz sucht, merkt man, Verwaltung hat halt auch was mit meinem Leben zu tun. Da sehe ich schon, was noch alles besser werden muss. Zugleich hat Berlin aber auch Standards gesetzt.

Wie meinen Sie das?

Nehmen wir das Gesetz zur Förderung der Teilhabe und Partizipation von Menschen mit Migrationsgeschichte. Auf dieses Gesetz, das hier in Berlin gemacht wurde, schaut man bundesweit mit großem Interesse. Viele Bundesländer haben bei uns nachgefragt. Auch wie wir mit der Tatsache umgegangen sind, dass hier von einem Tag auf den anderen 10.000 Geflüchtete am Bahnhof ankamen, war sehr gut. Das sind Dinge, wo Berlin echt geliefert hat.

Berlin kann Krise?

Ja. Zudem gibt es für Familien mit Kindern so viele Erleichterungen, die jemand, der zum Beispiel in Potsdam lebt, nicht hat. Kostenfreies Mittagessen in der Schule, freie Fahrt mit Bus und Bahn, längeres gemeinsames Lernen in der Grundschule – all das sind ja Vergünstigungen, die nur ein paar Kilometer weiter nicht gelten. Dass über Berlin so viel geschimpft wird, hat zum einen etwas mit konservativer Stimmungsmache zu tun, zum anderen aber auch damit, dass es eine Berliner Eigenart ist, über die eigene Stadt zu meckern.

Das ist auch ein gutes Stichwort, um über die Linke zu sprechen. Wie sehen Sie deren Zukunft?

Mit Ratschlägen habe ich mich sehr zurückgehalten, weil ich finde, als ehemalige Vorsitzende sollte man nicht von der Seitenlinie reinreden. Das werde ich auch jetzt beibehalten. Aber ich würde gerne ein Problem beschreiben, das nicht nur ich habe. Es gibt eine fehlende Klarheit, was unsere Botschaften zum Angriffskrieg gegen die Ukraine anbelangt.

Wie meinen Sie das?

Vor 20 Jahren sind die USA im Irak einmarschiert. Wir wissen heute, dass dieser Krieg mit einer Lüge begonnen hat, und damals, vor 20 Jahren, war die gesamte Partei ganz klar in der Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs. Die damalige PDS hat zu einer Sitzblockade vor der amerikanischen Botschaft aufgerufen. Da war auch Sahra Wagenknecht dabei. Da hat man ganz klar gesagt, egal wie schlimm Hussein als Diktator ist, wir sind gegen diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Diese Klarheit, finde ich, die fehlt jetzt bei einigen in der Bundestagsfraktion, wenn es um den Angriffskrieg auf die Ukraine geht.

Was fehlt da genau?

Natürlich verurteilen alle erst mal pflichtschuldig Putins Angriffskrieg, aber man hat das Gefühl, dann wird mit viel mehr Leidenschaft über die Fehler der Nato gesprochen. Ich war deswegen stolz auf die Berliner Linke, die zum Jahrestag des Angriffs gesagt hat, wir gehen vor die russische Botschaft und halten dort eine Kundgebung mit einer ganz klaren Botschaft ab: Putin raus aus der Ukraine! Und diese Klarheit, die es damals bei der Verurteilung des Irakkriegs gegeben hat, die bräuchte es jetzt von der gesamten Bundestagsfraktion. Also ich wünsche mir auch, dass die gesamte Bundestagsfraktion mit derselben Entschiedenheit vor die russische Botschaft zieht und sagt, wir verurteilen diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ohne Wenn und Aber und ohne eine lange Relativierung.

Wenn der Angriffskrieg völkerrechtswidrig ist, muss man der Ukraine doch auch die Mittel zur Verteidigung geben, oder? Die Linke ist aber gegen Waffenlieferungen, ist das nicht ein Widerspruch?

Über die Frage, wie die entsprechende Solidarität mit der Ukraine aussehen kann und wohin uns die Zeitenwende führt, muss man diskutieren und auch unterschiedliche Meinungen aushalten können. Da gibt es auch in der Bevölkerung eine sehr breit geteilte Sorge. Vor einem Jahr haben wir über Helme geredet, jetzt wird über die atomare Aufrüstung als Notwendigkeit diskutiert. Aber der Grundsatz, an der Seite derjenigen zu sein, die angegriffen werden – und das ist in dem Fall die Ukraine –, der muss von der Bundestagsfraktion in aller Deutlichkeit rübergebracht werden.

Kein Interview mit einem oder einer linken Politikerin ohne die Frage nach Sahra Wagenknecht. Glauben Sie, dass sie eine eigene Partei gründet?

Zu dem Thema habe ich alles gesagt, und jetzt sind diejenigen gefragt, die in den entsprechenden Verantwortungspositionen sitzen. Ich habe für mich nur die Entscheidung getroffen, nicht weiter auf das Aufmerksamkeitskonto dieses Geschäftsmodells einzuzahlen.

Das neue Wahlrecht, wenn es so bleibt, macht es ja nicht einfacher für die Linke, 2026 in den Bundestag einzuziehen. Wie sehen Sie die Perspektive?

Wie gesagt, ich bleibe dabei, dass ich der Partei eher intern Ratschläge gebe als über die Presse. Aber bei aller berechtigten Kritik am jetzigen Zustand muss man eins sagen: Es braucht eine Partei, die linke Politik auf der Höhe der Zeit macht und die das Soziale und das Ökologische versöhnt. Wir sehen ja in der Ampel, wie begrenzt lagerübergreifendes Regieren ist, auch wenn damit ganz gut Bilder produziert werden können. Aber wenn du nachhaltig die Klimakrise verhindern willst, geht das nur mit einer Bereitschaft zur Umverteilung und Regulierung, und ohne eine entsprechend starke Linke wird das verdammt schwierig.