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Die Stasi-Datei und SPD-Mann Voigt

Reporter Investigative Recherche
Der Regierungskoordinator für die deutsch-amerikanischen Beziehungen war vom DDR-Geheimdienst erfasst - Alles nur Deutungen und Erfindungen?

Am 18. März 2005 warf die CDU/CSU-Bundestagsfraktion der rot-grünen Regierung einen schlimmen Fall von Verschleierung vor. Es ging um ein deutsch-deutsches Drama, dessen wahrer Ablauf bisher nicht geklärt werden konnte und in dem der SPD-Politiker Karsten Voigt die Hauptrolle spielt. Der Koordinator für die deutsch-amerikanischen Beziehungen soll im Juli 1988 die in den Westen ausgewiesene DDR-Dissidentin Bärbel Bohley verraten haben. Die Bundesregierung wies die Vorwürfe damals zurück.

Zu dieser Geschichte gibt es zwei Versionen. Da ist auf der einen Seite die von Voigt, der sich rühmt, 1988 habe er seine sehr engen Kontakte zu SED-Genossen spielen lassen, sich in Ost-Berlin mehrfach für die Bürgerrechtlerin verwendet und ihr dadurch die Wiedereinreise in die DDR erst ermöglicht. Dies sei in Zeiten der deutschen Teilung ein großer politischer Erfolg gewesen.

Bohley, die angeblich Begünstigte, hält das für den "größten Quatsch, ein Lügenmärchen". Wegen "landesverräterischer Beziehungen" war die Malerin, die eine andere Version erzählt, im Januar 1988 verhaftet und kurz darauf in die Bundesrepublik abgeschoben worden. Mitte März traf sie dann Voigt auf einer Bonner Tagung über Entspannungspolitik und Menschenrechte. Sie kündigte an, unter allen Umständen in die DDR zurückkehren zu wollen: "Und wenn ich am Brandenburger Tor mit der Leiter über die Mauer steige." Mit dieser Information sei der damalige Bundestagsabgeordnete unsolidarisch verfahren, meint Bohley, er habe Ost-Berlin skrupellose Ratschläge zum Umgang mit ihr erteilt.

Für Bohleys Darstellung spricht ein im SED-Parteiarchiv aufgefundener Vermerk, nach dem Voigt, der womöglich eine Störung der innerdeutschen Beziehungen fürchtete, seinen DDR-Partnern gesagt haben soll, die Oppositionelle beabsichtige "im Zusammenspiel mit Medien" am 6. August 1988 in die DDR einzureisen. Es sei die "glücklichste Lösung", sie zunächst nicht zu hindern und Bohley erst später "bei oder wegen entsprechenden Aktivitäten zu ergreifen und auszuweisen". Tatsächlich durfte die renitente Künstlerin in die DDR zurückkehren. Um Medienrummel zu vermeiden, musste sie dazu den Umweg über Prag nehmen, wo sie von Manfred Stolpe und Gregor Gysi empfangen und zum Schweigen verpflichtet wurde.

Voigt bezeichnete die ihn belastende Notiz im SED-Archiv, laut der er immerhin eine Verhaftung angeregt haben soll, im März vergangenen Jahres als "Deutungen und Erfindungen derjenigen, die den Vermerk geschrieben haben". Jetzt jedoch ist ein weiteres Dokument aufgetaucht, das erneut Fragen zur Rolle des Sozialdemokraten vor 1990 aufwirft. Nach Recherchen dieser Zeitung ist Voigt von der DDR-Auslandsspionage in der Rosenholz-Datei erfasst worden, jener Personenkartei der Stasi also, die in Deutschland erst seit wenigen Jahren genutzt werden kann, weil sie in den Wendewirren zunächst in die Hände des US-Geheimdienstes CIA gelangt war.

Unter der Vorgangsnummer XV 2792/60 hat die Auslandsspionage einen Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) mit dem Decknamen "Kolbe" geführt. Der Ostdeutsche, ein Professor der Humboldt-Uni, war fleißig, er lieferte dem DDR-Geheimdienst 40 Spitzeljahre lang brisante Informationen über das politische Innenleben der Bonner Republik, insgesamt 287 Einzelinformationen. Für mehrere Westreisen wurden "Kolbe" vom Mielke-Ministerium eigens Pässe ausgestellt. Der IM war später am Ost-Berliner Institut für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) tätig, einer Einrichtung, die das SED-Zentralkomitee über "Imperialismusforschung" und "BRD-Entwicklung" unterrichtete. Wer hinter "Kolbe" steckt, lässt sich nicht sagen: Aus unerfindlichen Gründen hat die Birthler-Behörde seinen Klarnamen geschwärzt, obwohl diese bei IM nach dem Gesetz der Forschung und Medien zur Verfügung gestellt werden müssen.

Unter XV 2792/60 sind daneben aber auch vier Westdeutsche registriert: Ein Soziologe aus Berlin-Steglitz, ein Verlagsangestellter aus Bonn-Beuel, die 1997 verstorbene niedersächsische SPD-Parlamentarierin Lenelotte von Bothmer und eben Karsten Voigt, dessen Karteikarte am 18. Januar 1979 angelegt wurde - zwei Jahre nachdem er erstmals in den Bundestag gewählt worden war.

War Voigt Stasi-Zuträger? Hat der Frankfurter Sozi aus dem linken Parteibezirk Hessen-Süd politische Geheimnisse verraten? Das lässt sich mit der Rosenholz-Datei nicht belegen. Klar ist hingegen, dass die von "Kolbe" beschafften Informationen größtenteils aus dem Umfeld der vier erfassten Westdeutschen stammen. Vermutlich wurden sie abgeschöpft. Sicher ist auch das nicht. Insbesondere bei Voigt kann keineswegs ausgeschlossen werden, dass seine Hinweise, die er SED-Gesprächspartnern gab, wie angeblich im Fall Bohley, auf Umwegen auch bei der Stasi landeten.

Immerhin ließ der Generalbundesanwalt vor knapp zwei Jahren monatelang prüfen, ob Voigt dem SED-Zentralkomitee 1987 geheime Nato-Papiere übermittelt hat. Als der "Focus" Anfang 2005 darüber berichtete, bestritt Voigt nicht etwa die Weitergabe. Vielmehr sagte er, die nach Ost-Berlin gelieferten Berichte seien "seinerzeit bereits öffentlich gewesen". Als ob Nato-Unterlagen am Kiosk erhältlich wären. Sicherheitsexperten beklagten eine Schädigung des transatlantischen Bündnisses, Christdemokraten forderten den Rücktritt.

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Schon 1991 musste sich Voigt einem Verhör des Bundeskriminalamtes stellen. Damals wurde bekannt, dass ihn seine Geliebte Ende der Achtzigerjahre im Stasi-Auftrag ausgehorcht hatte. Brigitta Richter hieß die schöne Agentin, eine DDR-Journalistin des Monatsmagazins "Horizont". Ein gegen sie eingeleitetes Ermittlungsverfahren wegen des Verdachtes der geheimdienstlichen Tätigkeit wurde im September 1991 gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt. Bis heute ist ungeklärt, ob Voigt bereits im September 1988 über den Vorgang Bescheid wusste. 1995 heiratete er seine Brigitta: "Liebe und Stasi - ein Happy End", titelte eine Zeitung.

Was die heutige Ehefrau von Voigt der Stasi meldete, ist bis heute unbekannt. Bekannt hingegen sind die Titel der 287 Informationen, die der IM "Kolbe" der Stasi beschaffte. Nicht wenige haben einen Bezug zu den Politikfeldern, auf denen sich Voigt tummelte. Information Nr. 87 heißt "Ausarbeitung des SPD MdB Karsten Voigt zur Außen- und Deutschlandpolitik". Die Dossiers Nr. 20 und Nr. 24 beschäftigen sich mit der Situation bei den Jusos - Voigt war von 1969 bis 1972 Chef der SPD-Nachwuchsorganisation. Auch das Konvolut "Äußerung eines namhaften SPD-Funktionärs mit besten Beziehungen zum Parteivorstand" könnte mit Voigt zu tun haben. Genau weiß man das nicht, denn erhalten sind nur die Titel, nicht die konkreten Inhalte.

Ergiebiger ist da ein anderes Archiv: das der SED. In ihm finden sich in Hülle und Fülle Vermerke zu Voigt, nicht zuletzt deshalb, weil dieser so etwas wie ein Dauergast im ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden war. 1970 wurde er sogar von Walter Ulbricht in Karl-Marx-Stadt, also Chemnitz, zum zweistündigen Ideenaustausch empfangen - ausgerechnet am 17. Juni, dem Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR. Selbst Juso-Vorstandskollegen wetterten über diese Geschmacklosigkeit.

Mit Honecker-Kronprinz und Duzfreund Egon Krenz fuhr Voigt ganz ungeniert in Urlaub, auch Politbüromitglied Hermann Axen traf er häufig. Vor der Parteihochschule der SED hielt der Sozialdemokrat einen Vortrag. Bei solchen Begegnungen führte Ost-Berlin akribisch Buch. Etwa, als der westdeutsche Genosse eine Anregung gab, die vor dem Mauerfall einen Tabubruch bedeutete: Laut Aktenniederschrift soll er gesagt haben, es sei erwägenswert, offizielle Parteibeziehungen zwischen SED und SPD aufzunehmen.

In der "Information über den Besuch von Karsten D. Voigt vom 20.-23.7.87 in der DDR" aus dem SED-Archiv wird der SPD-Mann so wiedergegeben: "Natürlich könne die SPD die SED nicht kopieren und wolle dies auch nicht, aber vieles, was die Kommunisten der DDR politisch und organisatorisch leisteten, hätte Hand und Fuß und sei wie das Schulungssystem beispielhaft auch für seine Partei." Und: "Überall in der DDR spüre man, das es vorwärts gehe und die SED dabei die treibende Kraft sei".

Von der Diktatur lernen heißt siegen lernen? Wie weit ist Voigt den Machthabern im Osten entgegengekommen? Hat er Grenzen überschritten? Rückblickend meint der heutige deutsch-amerikanische Koordinator, er habe sich stets richtig verhalten. "Diese Politik war riskant, aber richtig, es gibt kein Schuldbewusstsein", erklärte er einmal in einer Diskussion bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Und: "Kameraderie ist der negative Begriff, den man positiv wenden kann in Vertrauen".

Der Historiker Helmut Müller-Enbergs meint, dass es sich die westdeutsche Politik mit ihren früheren Verbindungen in die DDR etwas einfach macht. Der Forscher in der Birthler-Behörde - er fand heraus, dass mehr als 40 Abgeordnete des Sechsten Deutschen Bundestages in der Rosenholz-Datei erfasst sind - hat den Parteien jüngst Defizite bei der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit und insbesondere möglicher Stasi-Kontakte von Mitgliedern und Funktionsträgern vorgeworfen: "Ich kenne keine Partei, die beispielsweise die ihr nahe stehende Stiftung beauftragt hat, sich darum zu kümmern." Auch der Bundestag hat bisher wenig Interesse gezeigt, mögliche Verstrickungen ehemaliger oder aktiver Mitglieder systematisch analysieren zu lassen.

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Andere gesellschaftliche Institutionen sind da weiter. Nach einer Serie von Enthüllungen über stasibelastete Journalisten im Mitteldeutschen Rundfunk stellten beispielsweise die ARD-Anstalten eine Million Euro zur Verfügung, damit der Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin den Einfluss des Mielke-Ministeriums auf den Rundfunk im Osten und Westen untersuchen konnte.

Vielleicht führt jetzt der Stasi-Vorgang XV 2792/60 zum Umdenken auch in Parteien und im Parlament. Unter dieser Registriernummer des DDR-Geheimdienstes ist schließlich mit Karsten Voigt ein Politiker verzeichnet, der ein aktives Amt für die Bundesregierung bekleidet. Ein solcher Fall ist bisher noch nie bekannt geworden.

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