Über die Aktualität eines großen deutschen Theologen

Warum wir unbedingt Karl Rahner lesen sollten!

Veröffentlicht am 22.05.2018 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Karl Rahner während der Zweite Sitzungsperiode der Vollversammlung der gemeinsamen Synode der Bistümer der BRD in Würzburgvom 10.5. bis 14.5.1972
Bild: © KNA
Theologie

Freiburg/Bonn ‐ Der Jesuit Karl Rahner gilt als einer der größten, wenn nicht als der größte deutsche Theologe des 20. Jahrhunderts. Der Publizist und Theologe Ulrich Ruh erklärt, was Rahner uns heute noch zu sagen hat.

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Der deutsche Jesuitentheologe Karl Rahner verstarb 1984. Das ist immerhin schon mehr als dreißig Jahre her; Frauen und Männer, die jetzt Theologie studieren, waren damals meist noch gar nicht geboren. Und wer sich als kirchlich engagierter und theologisch interessierter Zeitgenosse heute die Mühe machen würde, in eines der großen Werke von Karl Rahner – sei es "Geist in Welt", "Hörer des Wortes" oder "Grundkurs des Glaubens" – hineinzuschauen, würde das Buch vermutlich angesichts der sperrig-ungewohnten Sprache und Gedankenführung bald wieder zuklappen.

Man sollte nicht vergessen: Wie auch bei anderen prägenden Gestalten der katholischen Theologie im 20. Jahrhundert, etwa Yves Congar oder Henri de Lubac, ist der Name Karl Rahners in besonderer Weise mit Schlachten verbunden, die im Wesentlichen längst geschlagen sind: Zum einen die Überwindung des engen neuscholastischen Systems durch ein neues Ernstnehmen des Menschen als Subjekt wie der Geschichte des Glaubens, zum anderen die theologische Vorbereitung, Mitgestaltung und Umsetzung des epochemachenden Zweiten Vatikanischen Konzils.

Verstiegenheit, Verbissenheit und Kurzatmigkeit

Das heißt nun aber nicht, dass Rahner und seine Theologie nur noch von historischem Interesse wären. Ganz im Gegenteil: Es könnte Kirche und Theologie der Gegenwart in mehrfacher Hinsicht nichts schaden, wieder neu in die Schule der großen "Kirchenväter" des 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt Karl Rahners – zu gehen, gerade angesichts der hierzulande verbreiteten Verstiegenheit, Verbissenheit oder auch Kurzatmigkeit aktueller Debatten über Glaubens- und Religionsthemen.

Mit Kardinälen voll besetztes Kirchenschiff
Bild: ©KNA

Feierliche Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils am 11. Oktober1962 in der Peterskirche, die als Konzilsaula diente.

1972 veröffentlichte Karl Rahner im Zusammenhang mit der "Würzburger Synode" der Bistümer der damaligen Bundesrepublik ein unscheinbares Taschenbuch mit dem Titel "Strukturwandel der Kirche als Gabe und Aufgabe". Darin skizzierte er so nüchtern wie engagiert Perspektiven für die katholische Kirche in Deutschland, die nichts von ihrer Sprengkraft eingebüßt haben. Schon die programmatischen Überschriften vermitteln einen Eindruck davon: Da geht es um eine "entklerikalisierte Kirche", um "Moral ohne Moralisieren", um eine "Kirche wirklicher Spiritualität"; da beschreibt Rahner die Kirche der Zukunft als offene, demokratisierte und gesellschaftskritische Kirche.

Natürlich haben auch die Analysen und Forderungen in "Strukturwandel der Kirche" ihren Zeitindex, sind auf die Situation der frühen siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts bezogen. Aber in dem damaligen Programm Karl Rahners für die katholische Kirche in der deutschen Lebenswelt verbinden sich selbstverständliche Loyalität zur "real existierenden" Kirche wie zu ihren konstitutiven Elementen mit dem selbstkritischen und risikobereiten Mut, sich auf gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen wirklich einzulassen auf eine Weise, von der sich noch heute sehr viel lernen ließe. Etwa von Sätzen wie diesen: "Gott nimmt uns unsere weltlichen Probleme nicht ab, er erspart uns nicht unsere Ratlosigkeiten. Man sollte daher auch in der Kirche nicht so tun, als ob es doch so sei."

Ökumenisches Modell für die katholische Kirche

Zu Rahners Merkzetteln für einen Strukturwandel der katholischen Kirche gehörte auch die Forderung, sie müsse eine ökumenische Kirche sein. In einem Buch, das er zusammen mit dem Münchner Fundamentaltheologen Heinrich Fries am Ende seines Lebens veröffentlichte ("Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit") hat Karl Rahner dann selber ein ökumenisches Modell für die katholische Kirche entworfen.

Dieser innerkatholisch damals so massiv wie ungerechter Weise kritisierte "Rahner-Fries-Plan" unternahm den sinnvollen und hilfreichen Vorstoß, vom katholischen Kirchenverständnis aus Eckpunkte für eine volle Gemeinschaft mit anderen christlichen Kirchen zu formulieren und damit aus einem Grunddilemma des offiziellen katholischen Ökumenismus herauszuführen, der es nämlich vermeidet, entsprechende Spielräume auszuloten und damit anderen Kirche konkrete ökumenische Schritte anzubieten. Man kann berechtigte Einwände gegen ein solches Modell haben und dabei auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnte in den reformatorischen Kirchen verweisen, die einer Einigung auf der Basis des Vorstoßes von Rahner und Fries entgegenstehen. Aber das ändert nichts daran, dass es solche Vorstöße braucht, um die katholische Kirche nicht in ihrem ökumenischen Engagement unglaubwürdig werden zu lassen – auch in diesem Punkt lohnt es sich, heute noch oder wieder an Karl Rahner Maß zu nehmen.

Bild: ©KNA

Der spätere Bischof und Kardinal Karl Lehmann (M.) arbeitete als Assistent von Karl Rahner (r.) zwischen 1964 und 1967 an den Universitäten von München und Münster. Gemeinsam mit dem bekannten Theologen und Jesuiten erlebte Lehmann auch das Zweite Vatikanische Konzil in Rom aus nächster Nähe mit.

Rahners Denken kreiste letztlich in hoher Konzentration um das eine christliche Grundgeheimnis, um Gott als das absolute Geheimnis und seine gnadenhafte Beziehung zum Menschen, um Jesus Christus als die unüberbietbare Heilszusage Gottes an die Welt. Ein solcher Grundansatz bedeutet einen heilsamen Gegenakzent zu der Art und Weise, wie derzeit der christliche Glaube häufig verstanden und leider auch funktionalisiert wird: Im Vordergrund stehen nämlich vielfach das sogenannte abendländisch-christliche Erbe oder auch die christlich-jüdische Prägung unserer Kultur. Dabei kann es um eine unaggressive Wertschätzung der großen künstlerischen oder auch unspektakulären alltagskulturellen Schätze der deutschen und europäischen Tradition gehen, von den mittelalterlichen Kathedralen, der Matthäuspassion Bachs oder biblisch inspirierten Gemälden von Rembrandt bis hin zu Bibelsprüchen an Hausfassaden und Wegkreuzen. Es kann aber auch eine problematische Abgrenzungsmentalität im Spiel sein, die Rede von der christlichen Kultur kann als Kampfbegriff dienen, vor allem im Blick auf den vermeintlich "fremden", letztlich gesellschaftlich-kulturell nicht integrierbaren Islam.

Gleich ob sympathisches und sensibles "Kulturchristentum" oder kämpferische Berufung auf das christliche Erbe: Karl Rahners Theologie setzt demgegenüber auf den unverzichtbaren, immer im besten Sinn geheimnishaften Kern des Christentums und erlaubt beziehungsweise fordert deshalb so etwas wie eine grundlegende Entmythologisierung. Für ihn kommt es letztlich nicht auf die bunte und unbestreitbar interessante kulturelle und auch religiöse Einkleidung an, sondern auf das Suchen und Finden Gottes im ganz und gar unspektakulären Alltag mit seinen banalen Vollzügen.

Eine bleibendende und bedenkenswerte Mahnung

Rahner hat einmal formuliert – und diese Formulierung kann für unzählige andere stehen –, der wirkliche Inhalt des Wortes Gott als des "unsagbaren Geheimnisses, durch das der Mensch immer überfordert wird, das er nie in das Kalkül seines Lebens als einen fixen Posten einsetzen kann, muß immer neu durch alle Höhen und Abgründe der menschlichen Erfahrung hindurch erahnt und erlitten werden". In diesem Sinn bedeutet sein Denken eine bleibende, gerade heute bedenkenswerte Mahnung, es sich mit Gott nicht zu leicht zu machen, weder durch ein gedankenloses Ausblenden der Frage nach Gott noch durch ein Ausweichen in die Vielfalt religiöser Antworten, aber auch nicht durch ein verharmlosendes Verständnis von christlichem Glaube und Kirche.

Auf diesem Hintergrund ist es lohnend, sich im Rückblick auf das Leben von Karl Rahner als Ordensmann und Theologe vor Augen zu halten, wie vielfältig sein Einsatz für die eine Sache war. Er war sich für nichts zu schade, weder für Predigten und Vorträge noch für Veröffentlichungen auch in völlig unbedeutenden Presseorganen und Vorworte zu entlegenen Publikationen oder für Interviews, sei es für den "Spiegel" oder für die letzte Kirchenzeitung. Auch in dieser Hinsicht kann die Erinnerung an ihn auch noch heute anregend und herausfordernd sein: Wer als Theologe und/oder Kirchenmann wirklich etwas zu sagen hat, muss vor keinem Publikum oder Medium zurückschrecken. Er braucht nicht als Allesversteher, Besserwisser, Erweckungsprediger oder Guru durch das Land zu ziehen, es genügt, wenn er kompetent, sensibel und glaubwürdig in Sachen Glaube, Religion und Kirche Rede und Antwort stehen kann. Theologie ist und bleibt in diesem Sinn eine öffentliche Angelegenheit, braucht aber auch ein tiefes Fundament. Auch das kann man an Karl Rahner studieren.

Von Ulrich Ruh