DIW Berlin: Der Kapitalismus ist nicht das Problem Direkt zum Inhalt

Der Kapitalismus ist nicht das Problem

Blog Marcel Fratzscher vom 18. März 2024

Wachstum ist mit dem Klimawandel nicht vereinbar, der Kapitalismus ist am Ende. Was viele glauben, stimmt nicht. Für Freiheit und Wohlstand braucht es mehr davon.

In manchen Teilen westlicher Demokratien hat sich die Überzeugung durchgesetzt, der Kapitalismus sei ungeeignet, einen nachhaltigen Umgang mit unserem Planeten und breiten Wohlstand zu gewährleisten. Diese Überzeugung zeugt nicht nur von einem falschen Verständnis von Kapitalismus, sondern wird auch durch die Realität widerlegt. Es ist vielmehr der Missbrauch von Kapitalismus und Demokratie durch einige wenige, der dringend benötigte Veränderungen verhindert. Eine Stärkung von Kapitalismus und Demokratie ist unabdingbar, um die Polykrisen unserer Zeit zu lösen.

Diese Kolumne erschien am 15. März 2024 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Kapitalismus ist für viele ein Reizwort, das mit Ausbeutung von Menschen und Machtmissbrauch gleichgesetzt wird. Mit Blick auf die Transformation der Wirtschaft in Bezug auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz wird der Kapitalismus als ungeeignetes System angesehen. Kapitalismus brauche zwingend Wachstum, Nachhaltigkeit erfordere jedoch Degrowth, also eine schrumpfende Wirtschaft. Auch ein produktiver und sozial ausgeglichener Umgang mit Digitalisierung und Globalisierung erfordere ein Ende des Kapitalismus und ein grundlegend neues Modell des Wirtschaftens.

Kapitalismus bedingt Freiheit

Dieses Argument gegen den Kapitalismus ist in fast jeder Hinsicht falsch und irreführend. Es zeugt zunächst von einem völlig falschen Verständnis von Kapitalismus. Kapitalismus bedeutet, dass nicht primär der Staat, sondern Menschen und Unternehmen die Entscheidungen über die Verteilung knapper Ressourcen wie Kapital und Beschäftigte treffen, und dass der Preis für Güter und Dienstleistungen ein wichtiger Mechanismus dafür ist. Ein funktionierender Kapitalismus bedeutet Freiheit für jeden Einzelnen, selbst über das eigene Leben zu entscheiden und nicht nur die Erfolge des eigenen Handelns zu realisieren, sondern auch für die eigenen Risiken und Fehler einzustehen.

Kapitalismus bedeutet nicht, dass die dezentralen Entscheidungen Einzelner im Markt immer und überall besser sind als staatliche Allokationen und Entscheidungen. Denn allzu häufig scheitert der Markt, wenn Menschen und Unternehmen zulasten anderer den Markt dominieren oder große Risiken nur durch die Gesellschaft als Ganzes getragen werden können. Ein Marktversagen rechtfertigt nicht die Abschaffung des Marktes, sondern erfordert ein Eingreifen des Staates, um ein solches Versagen zu verhindern.

Solidarität und Frieden

Auch der zweite Teil des Arguments, Kapitalismus brauche immer und überall Wachstum und sei daher unvereinbar mit einem nachhaltigen Wirtschaften und Degrowth, ist falsch. Es gibt genug Länder, beispielsweise Japan, die auch trotz zweier Jahrzehnte ohne Wachstum am Kapitalismus festhalten. Wachstum bedeutet nicht zwingend mehr Wohlstand, denn Wohlstand ist so viel mehr als die Produktion materieller Güter und Dienstleistungen: Er beinhaltet auch Dinge wie Gesundheit, sozialen Frieden, Solidarität und eine intakte Familie, die finanziell unmöglich gut gemessen werden können.

Wir brauchen daher eine bessere Definition und Messbarkeit von Wachstum – das Ziel, Wohlstand für mehr Menschen zu schaffen, sollte dabei keinesfalls über Bord geworfen werden.

China hat auch zum Kapitalismus gewechselt

Die Realität gibt dem Kapitalismus recht: Staatliche Planung im Sozialismus ist gescheitert, nicht nur mit Blick auf die Sicherung des Wohlstands der eigenen Bevölkerung, sondern auch mit Blick auf große wirtschaftliche Transformationen. Kapitalismus und Marktwirtschaft sind ein wichtiger Teil der Erklärung für den wirtschaftlichen Fortschritt in vielen armen Ländern.

China hat in den letzten 30 Jahren fast eine Milliarde Menschen aus der Armut gebracht und ihnen eine gute Lebensgrundlage gegeben. Der Grund dafür ist nicht das autokratische politische System, sondern der Wechsel von der Plan- zur Marktwirtschaft und damit zum Kapitalismus nach dem Tod Mao Zedongs 1976.

Reformen der Demokratie als politisches System sind nötig

Die Lösung der Polykrisen – von Klimaschutz über eine Neugestaltung der Globalisierung und Lösung geopolitischer Konflikte bis hin zum technologischen Wandel und künstlicher Intelligenz – erfordert keine Abschaffung des Kapitalismus, sondern Reformen der Demokratie als politisches System. Das Forschungsinstitut Freedom House (PDF) zeigt, dass die Demokratie als politisches System seit 20 Jahren an Bedeutung verliert, immer mehr Länder demokratische Grundwerte und Rechte einschränken und Autokratien Zulauf haben und an Einfluss gewinnen.

Das Gegenteil gilt für den Kapitalismus: Er setzt sich fast überall auf der Welt durch, und dort, wo er es nicht tut – die prominentesten Beispiele sind Kuba und Nordkorea –, ist auch der wirtschaftliche Wohlstand gering.

Kapitalismus ermöglicht auch Transformationen

Das Problem heute ist, dass Kapitalismus und Demokratie nicht die dringend notwendigen Lösungen für die Krisen und Transformationen unserer Zeit liefern. Die Welt läuft sehenden Auges in eine Klimakatastrophe und zerstört die Lebensgrundlage für künftige Generationen. Die soziale Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften nimmt zu. Und Kapitalismus und Demokratie scheitern in ihrem Versprechen des Wohlstands für alle. Selten in den vergangenen 80 Jahren waren Unzufriedenheit, Sorgen und Ängste der Menschen in den Demokratien größer als heute – anders als häufig in den autokratischen Regimen, so die Befragung von Freedom House. Ein funktionierender Kapitalismus ist eine dringend notwendige Voraussetzung, um Wohlstand und Gerechtigkeit zu gewährleisten und die notwendigen Transformationen möglich zu machen.

Der Missbrauch verhindert Transformationen

Es ist der Missbrauch von Kapitalismus und Demokratie, der dem im Wege steht. In einer vom Neoliberalismus geprägten Wirtschaftspolitik der letzten 30 Jahre ist es einigen wenigen gelungen, den marktwirtschaftlichen Wettbewerb in ihrem Sinne zu verzerren und demokratische Institutionen zu manipulieren. Auch in den Demokratien werden Gesetze, Steuern und Finanzpolitik so umgestaltet, dass sie zu einer massiven Umverteilung von unten nach oben geführt haben, mit immer extremeren Ungleichheiten bei Vermögen und auch Freiheiten. Die mächtigen Wirtschaftsinteressen missbrauchen den Staat in einer Art Vollkasko-Mentalität – Gewinne werden privatisiert, Verluste und Risiken sozialisiert.

Demokratie ist eine Lösung für die Krisen

Dieser Missbrauch hat entscheidend zur Handlungsunfähigkeit vieler Regierungen in Demokratien beigetragen und damit auch zur Unterstützung für antidemokratische Politik und Einschränkungen der Freiheit. Die gute Nachricht: Menschen fast überall auf der Welt unterstützen demokratische Werte wie Meinungsfreiheit, Schutz von Eigentumsrechten und freie Wahlen heute genauso stark wie vor 30 Jahren (PDF). Kapitalismus und Demokratie sind daher die besten Voraussetzungen für die Lösung unserer Polykrisen. Ziel muss es sein, beide wieder zum Funktionieren zu bringen, sodass sie ihre Versprechen erfüllen können.

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