Zwischen Haben und Sein
Welche Verbindungen bestehen zwischen Konsum, Demokratie und Freiheit? Und was passiert gesellschaftlich, wenn man die Erwartung von reibungslosem Service aus der Welt des Online-Shoppings auf die Politik überträgt? Ein Gespräch zwischen Katrin Göring-Eckardt und Rainer Hank, moderiert von Thea Dorn.
Das Gespräch fand am 11.12.2023 im Rahmen der Gesprächsreihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“ der Wüstenrot Stiftung unter dem Titel „Wohlstand, Konsum und Demokratie“ in Stuttgart statt. Redaktion: Karin Janker
Thea Dorn: Frau Göring-Eckhardt, Herr Hank, welche Assoziationen kommen Ihnen spontan, wenn Sie das Wort „Konsum“ hören?
Katrin Göring-Eckardt: In der DDR gab es eine Handelskette, die hieß Konsum.
Dorn: Die man allerdings auf der ersten Silbe betonte, richtig?
Göring-Eckardt: Ja, richtig. Beim Wort „Konsum“ sehe ich immer deren Schriftzug vor mir. Zu Konsum konnte man die Eier der eigenen Hühner bringen und bekam dafür Geld.
Dorn: Herr Hank, Ihre spontane Assoziation beim Wort „Konsum“?
Rainer Hank: Konsum klingt immer gleich nach „konsumistisch” und hat so einen negativen Beiklang. Konsum ist das Materielle, das Materialistische. Aber natürlich weiß ich als Wirtschaftsredakteur, der ich seit über 30 Jahren bin, dass die Wirtschaft vom Konsum lebt. Oder umgekehrt: Das Ziel der Marktwirtschaft ist es, den Konsumenten zufriedenzustellen. Insofern ist der Konsument in der Marktwirtschaft der König und dann dreht sich sofort die Assoziation vom Materialistisch-Konsumistischen: Dann sind wir die Herren im Laden.
Dorn: Das lateinische „consumare“ bedeutet zunächst einmal ja nur „verbrauchen, aufbrauchen, verzehren“, sprich: kein Lebewesen kann ohne Konsum in diesem basalen Sinne existieren. Neigt Konsumkritik dazu, diese fundamentale Dimension zu unterschätzen, indem sie vergisst, dass auch der Massenkonsum, wie wir ihn im Kapitalismus produzieren und praktizieren, auf dem menschlichen Grundbedürfnis nach Konsum beruht?
Hank: Ich würde Ihnen zustimmen, Konsum ist viel mehr als das neue Handy. Es sind auch die Pflegekräfte im Altersheim meiner Mutter. Auch da geht es um Bedürfnisse, die Menschen haben und die die Wirtschaft befriedigt. Die Wirtschaft ist also erst mal nicht für die Kapitalisten und die Fabrikanten da. Sie ist nicht für die Spekulanten da und auch nicht für die Arbeiter. Ihr letzter Zweck ist Konsum in diesem weiten Sinn. Die Menschen haben immer konsumiert und der Massenkonsum hat auch die Armen reich gemacht, während früher nur die Reichen reich waren.
Göring-Eckardt: Ich habe eher den Eindruck, dass der Kapitalismus, den ich ja erst später im Leben kennengelernt habe, auch Bedürfnisse produziert, die er dann selbst befriedigt. Ich wurde nicht mit dem Bedürfnis geboren, dass ich ein Elektroauto fahren will oder einen Porsche. Insofern finde ich es zu einfach zu sagen: Es gibt eben Bedürfnisse und diese befriedigt die Wirtschaft. Auf der anderen Seite ist Konsum natürlich wichtig und selbstverständlich brauchen wir ihn. Es gibt viele Dinge, die gar nicht materialistisch sind, auch Kultur kostet Geld, und auch das ist Konsum. Aber ich finde, dass wir Menschen, wenn wir Dinge verbrauchen, darüber nachdenken sollten, was wir mit unserem Konsum anrichten. Wie nachhaltig ist das, was wir machen? Lassen wir noch etwas für die nächsten Generationen übrig? Wir können nicht einfach sagen, lasst uns konsumieren, das ist gut für die Wirtschaft und am Ende auch gut für den Menschen. So einfach würde ich es mir nicht machen.
Hank: So habe ich es auch nicht gesagt. Ich würde Ihnen da durchaus zustimmen, und steuern lässt sich das über Geld. Das heißt, wenn wir mit unserem Verhalten etwas bewirken, was für die Menschheit und die nachkommenden Generationen schlecht ist, dann muss der Preis dafür steigen. Das ist es, was Emissionshandel und CO2-Beitrag machen. Die Preise sind Indikatoren dafür, was knapp ist, und sie können auch Anreize sein, etwas an den eigenen Präferenzen zu ändern.
Dorn: Katrin Göring-Eckardt hat gerade skizziert, wie der Kapitalismus bestimmte Bedürfnisse überhaupt erst hervorbringt und auf diese Weise den Turbomaterialismus befeuert. In Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich in der – sehr umfangreichen und spannenden – Geschichte des Konsums gelesen, die der Historiker Frank Trentmann in seinem Buch Herrschaft der Dinge nachzeichnet. Dort erfährt man, wie stark verbreitet das Verlangen nach Konsumgütern, die über das hinausgehen, was der Mensch zum Überleben braucht, bereits im 15. Jahrhundert gewesen ist, also lange bevor der Kapitalismus mit seiner Massenproduktion begonnen hat. Ein ähnliches Bild bekommt man, wenn man sich bei einem Ethnologen wie Daniel Miller umschaut: Er verweist das Bild des bescheidenen, nicht-materialistischen „Wilden“, der im Gegensatz zum Westler keinerlei Bedürfnisse nach gesteigertem Konsum verspüre, ins Reich der – westlichen – Mythen.
Hank: Soziologen nennen das, was Sie beschreiben, „Conspicuous consumption“, einen Konsum der Demonstration, der eben nicht nur dazu da ist, unsere materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern auch um anderen zu zeigen, wer wir sind, wie wir uns anziehen, wie wir essen oder wie wir unser Zuhause einrichten. Konsum ist auch ein gesellschaftlicher Akt. Früher war das ein reines Oberschichtsphänomen: Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts waren die Menschen in der Masse arm. Der Konsum in der Breite hat ganz langsam im frühen 19. Jahrhundert begonnen, dank vieler Erfindungen der Industrialisierung. So konnten viele aus der Armut befreit werden und am gesellschaftlichen Leben partizipieren. Erfindungen und Ideen haben den Materialismus somit erst in Gang gebracht.
Dorn: Wenn ich noch einmal auf Frank Trentmann und seine Geschichte des Konsums zurückkomme: Im ausgehenden Mittelalter scheint es sehr detaillierte, teils grotesk anmutende staatliche Vorschriften gegeben zu haben, die den beginnenden Luxuskonsum einschränkten, etwa wer wie viele Zentimeter Marderpelz als Zier an seiner Samthaube tragen durfte und wer nicht. Der Adel wollte offenbar verhindern, dass sich der aufstrebende „Dritte Stand“ mit Dingen schmückte, die bislang seine Distinktionsmerkmale gewesen sind. Und der Klerus war gern bereit, übertriebenen Konsum als „Sünde“ zu brandmarken. Der Emanzipationskampf von unten hatte offenbar immer auch den Aspekt: Wir lassen uns von „denen da oben“ nicht länger vorschreiben, was wir zu konsumieren haben. Frau Göring-Eckardt, ist es für Ihre Partei Die Grünen auch deshalb so problematisch, dass sie im Ruf stehen, eine „Verbotspartei“ zu sein?
Göring-Eckardt: Ich teile die These, dass Konsum und die Art, wie man sich darstellt oder kleidet, zu Unterscheidbarkeit führt und zu Individualität und Freiheit. Ich habe als Jugendliche Schneidern gelernt, weil es mir auf den Zeiger ging, dass es so wenig Auswahl an Klamotten gab in der DDR. Da wollte ich meine Sachen selbst herstellen. Aber, Herr Hank, Sie haben gesagt, die Armen seien reich geworden durch den Konsum. Das ist nicht so: Wir haben auch heute in Deutschland eine sehr große, eine viel zu große Gruppe von Menschen, die nicht nur arm sind, sondern diese Armut auch vererben. Die meisten Menschen in Deutschland sind Mieterinnen und Mieter, und viele leiden darunter, dass die Mieten steigen. Man darf auch nicht übersehen, dass vor allem Reiche reicher geworden sind. Anfang der 1990er Jahre war das durchschnittliche Vermögen der reichsten zehn Prozent fünfzigmal höher als das der ärmeren Hälfte, inzwischen sind die hundertmal so reich. Das macht etwas mit einer Gesellschaft. Gesellschaften, bei denen die Spreizung zwischen Arm und Reich weniger groß ist, funktionieren besser. Deswegen ist der Konsum nicht etwas, was wir neutral betrachten können.
Hank: Das ist mir jetzt zu viel sanfte Verelendungstheorie. Man muss nur Charles Dickens‘ Romane lesen, um zu sehen, dass die Armen heute nicht mehr so arm sind wie die Armen damals. Der Satz, mit dem Ludwig Erhard Erfolg hatte, lautete: „Wohlstand für alle“. Das ist das Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft. Fraglos gibt es einen Abstand zwischen Arm und Reich. Das wird wohl auch immer so bleiben, solange es eine Wettbewerbsgesellschaft gibt. Aber wir leben auch in einem Sozialstaat: Der Staat verteilt um. Im politischen Diskurs ist umstritten, wie viel umverteilt werden soll. Aber es ist doch so, dass die Reichen von ihrem Einkommen ab einem bestimmten Punkt 45 Prozent Grenzsteuersatz abgeben. Das ist der humane Kern der Marktwirtschaft. Was Sie, Frau Göring-Eckardt, gerade über die Differenz zwischen Arm und Reich gesagt haben, stimmt so nicht: Zumindest von 2005 bis 2019 ist die Einkommensschere hierzulande nicht mehr weiter aufgegangen. Danach haben wir noch keine verlässlichen Daten. Im internationalen Vergleich sind wir eine egalitäre Gesellschaft.
Göring-Eckardt: Zwei Einwände: Man wird heute vor allem dadurch reicher, dass man hohe Erbschaften macht. Und von diesen wird nicht viel versteuert. Noch problematischer ist, dass in diesem Land auch Bildungschancen vererbt werden. Wenn meine Eltern Arbeiter, Arbeiterinnen sind oder einen Hauptschulabschluss haben, dann ist die Chance, dass ich den auch habe und nicht viel weiterkomme, sehr, sehr groß. Auch das hat mit der Verteilung von Reichtum zu tun und mit der Verteilung von Ressourcen.
Dorn: Lassen Sie uns darüber reden, inwiefern Konsum und Demokratie zusammengehören oder eben nicht. Jean-Jacques Rousseau vertrat die These, dass die Ungleichheit zwischen den Menschen durch die Ungleichverteilung der Reichtümer größer wird, als natürliche Unterschiede jemals sein könnten. Folgt man ihm, kann der Bourgeois, der seinen Wohlstand mehren und diesen in Ruhe genießen will, kein guter Citoyen sein, weil er sein Handeln niemals primär am Gemeinwohl orientieren wird. Der freie Markt ist in dieser Denktradition der Feind der wahren Demokratie. Auf der anderen Seite steht ein Philosoph wie David Hume, für den gerade der Bourgeois der Träger des freiheitlich-demokratischen Systems ist, weil ihm daran gelegen ist, dass auch die politischen Verhältnisse wettbewerbsoffen und gleichzeitig stabil bleiben. Herr Hank, ich habe eine Vermutung, auf wessen Seite Sie stehen.
Hank: Da bin ich eindeutig Freund der schottischen Aufklärung, ganz klar bei David Hume und nicht bei diesem Träumer vom Genfer See. Zum Verhältnis von Demokratie und Wohlstand muss man natürlich sagen: Die Marktwirtschaft oder der Kapitalismus sind nicht auf Demokratie angewiesen – man blicke nach Singapur, eine Halbdemokratie, oder nach China. Die Einführung der Marktwirtschaft in China hat die Menschen dort reicher, aber nicht freier gemacht. Umgekehrt würde ich aber sagen, Demokratien sind sehr stark auf Marktwirtschaft und Kapitalismus angewiesen. Auch darauf, dass es eine Verbindung gibt zwischen den Wirtschaftsbürgern und der jeweiligen Regierung. Ich würde es jedenfalls keiner Demokratie empfehlen, die Marktwirtschaft abzuschaffen. Es würde die Demokratie nicht nur beschädigen, sondern über kurz und nicht lang töten.
Dorn: Frau Göring-Eckardt, machen Sie sich Sorgen, dass abnehmender Wohlstand auch in westlichen Ländern demokratiegefährdend werden könnte? Konkreter gefragt: Glauben Sie, der Aufstieg von vor allem rechtspopulistischen Parteien in zahlreichen westlichen Ländern hat mit Wohlstandsverlustängsten zu tun?
Göring-Eckardt: Die Frage, um die alles kreist, ist die, wie wir demokratisch Mehrheiten dafür bekommen, dass wir auf bestimmte Dinge verzichten – zugunsten des Klimas und zugunsten der Lebenschancen künftiger Generationen. Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der wir stehen. Da geht es jetzt nicht darum, als Einzelperson auf dies und jenes zu verzichten. Es geht eher um Preise, um klare Gesetzlichkeiten und Vorgaben. Es ist schwierig, Mehrheiten dafür zu schaffen, dass man sich verändern muss. Damit bin ich auch gleich bei den rechtspopulistischen Parteien. Denn es ist besonders schwierig, wenn eine Gesellschaft verunsichert ist und sagt: Wenigstens das, was ich bisher hatte, will ich behalten. Dann kommen Leute, die sagen: Ich sorge dafür, dass es so bleibt, wie es nie war und du kannst dich zurücklehnen. Ich bin Thüringerin, da kennt man auf jeden Fall jemanden, der AfD wählt, und man stellt fest, dass es vor allem um die Frage geht, wie viel man meint, sich verändern zu müssen. Das gilt ökonomisch, ökologisch oder wenn es um Sprache geht. Das ist größer als die Frage, wie viel Wohlstand eigentlich wer hat.
Dorn: Wenn man es polemisch formulieren möchte, könnte man sagen, dass die westlichen Demokratien im Grunde Wohlstandsdemokratien sind, weil sie eben nur so lange stabil sind, wie es ein gewisses Wohlstandsniveau gibt.
Göring-Eckardt: Ich widerspreche dieser These, denn das würde ja bedeuten, dass Menschen, die besonders arm sind, besonders rechtsradikal wären. So ist es aber nicht.
Dorn: Nein, aber was ist mit denjenigen, die besonders starke Wohlstandsverlustängste haben?
Hank: Genau darum geht es: um Wohlstandsverlustängste. Nicht um Wohlstandsverlust. Und diese Ängste hängen durchaus mit Zuwanderung zusammen. Menschen haben Angst vor anders aussehenden, fremden Menschen mit anderen kulturellen, ethnischen, religiösen Hintergründen. Da können liberale Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten tausendmal sagen, dass Gesellschaften durch Zuwanderung Wohlstand gewinnen und nicht durch Isolationismus. Protektionismus ist immer schlecht, auch bei Migration. Aber das sagt sich leichter an einem Abend wie heute, als an einem Ort, wo die Turnhalle schon seit Monaten mit Migranten belegt ist.
Dorn: Na ja. So wie die Angst vor Wohlstandsverlust nicht unbedingt mit der realen Erfahrung von Wohlstandsverlust zu tun hat, gibt es auch eine Angst vor Zuwanderung, die mit realen Zuwanderungserfahrungen nicht viel zu tun hat.
Göring-Eckardt: Sie haben Recht damit, dass den Menschen durch Parolen, durch Unwahrheiten, durch Lügen eingeredet wird, dass Zuwanderung eine Bedrohung sei. Diesen Menschen wird Angst gemacht und es werden ihnen Lügen erzählt und es gibt Gründe dafür, warum sie es glauben wollen.
Dorn: Ein Reizthema neben der Migration ist aber eben auch das Verhältnis zum Konsum: zu der Angst, sich bestimmte Dinge nicht mehr leisten zu können, gesellt sich die Angst, dass der Staat einem das Nackensteak, das man sich noch leisten kann und das einem Freude bereitet, nun auch noch verbieten will.
Göring-Eckardt: Es kann nicht darum gehen, dass ich oder ein Politiker den Leuten sagt, was sie essen dürfen. Konsum muss nur eben den realen Preis kosten. Und das sind dann nicht 1,99 Euro an der Tiefkühltheke. Anständig bezahlte Löhne, Wasserverbrauch, CO2, Tierleid – alles das muss in diesen realen Preis einfließen.
Hank: Die Grünen waren auch schon mal paternalistischer als heute, damals, als sie noch Veggie-Tage verordnen wollten.
Göring-Eckardt: Moment, das wollten wir gar nicht. Das wissen Sie auch, als gründlicher Journalist. Der Vorschlag war, eine Förderung einzuführen für Kantinen, die einen Tag der Woche fleischlos kochen.
Dorn: Bevor wir die Debatte um den Veggie-Day wieder aufwärmen, würde ich lieber noch zwei intellektuelle Schwergewichte ins Spiel bringen: Sowohl Hannah Arendt als auch Erich Fromm haben sehr fundamentale Kritik am Konsummenschen als solchem formuliert. Bei Arendt sind sowohl das „Animal laborans“ – das „Arbeitstier“, dessen Leben sich im Produzieren und Verbrauchen von Dingen erschöpft – als auch der „Homo Faber“ – der die haltbareren Dinge des Konsums herstellt und genießt – Gegentypen zum politisch handelnden Menschen, der sich solidarisch in der Gemeinschaft für deren Belange engagiert. Und Erich Fromm hat ein in den späten 1960er-Jahren sehr einflussreiches Buch geschrieben, Haben oder Sein, in dem er den Charaktertypus kritisiert, der sich nur über das „Haben“ definiert und letztlich auch alles, was er erlebt, nur in der Kategorie von Besitz denken kann. Im Gegensatz dazu steht bei Fromm der Charaktertypus des Seins, der sich dem Wandel hingibt, der keine Probleme mit Transformationen hat und weiß, dass Leben sich nur in gemeinschaftlichen Vorgängen realisiert. Letztlich vertreten beide, Arendt und Fromm, die These, dass die Mentalität des Konsumierens antidemokratisch ist. Herr Hank, können Sie damit etwas anfangen?
Hank: Mit Hannah Arendt möchte ich mich lieber nicht anlegen. Aber das zieht sich ja durch die gesamte Philosophiegeschichte: Seit Aristoteles hat es das Haben schwer und das Sein leicht.
Dorn: Ist das jetzt ein Einwand gegen die Philosophie an sich?
Hank: Nein, aber ich glaube, die größere Sympathie für das Sein gegenüber dem Haben ist eine typische Haltung des Intellektuellen. Es ist nicht nur paternalistisch, sondern auch intellektualistisch, den Menschen sagen zu wollen, was sie zu wollen haben. Sowohl Arendt als auch Fromm wollten die Menschen vom entfremdeten zum nicht-entfremdeten Leben führen – das ist im Grunde eine marxistische Idee. Und eine unglaubliche Anmaßung.
Dorn: Ich bezweifle, dass das bloß eine marxistische Idee ist. Beide beziehen sich explizit auf jüdische und christliche Traditionen, die den Gemeinsinn ins Zentrum stellen und die Fixierung auf Wohlstand und Wohlstandsvermehrung für einen menschlichen Irrweg halten.
Hank: Ja, aber diese Idee funktionierte schon damals nicht: Allen soll alles gehören und das geht in die Grütze. Das ist die Idee der Allmende, einer Wiese, auf die alle Bauern des Ortes ihre Tiere zum Grasen schicken durften. Und was passierte? Die Weide wurde kahlgefressen und zerstört. Diese Idee führt zur Ausbeutung und Übernutzung von knappen Ressourcen und sei es nur der Gemeindewiese. Die Gegenidee des Habens verrechtlicht sich im Privateigentum. Das verstehen schon Kinder im Sandkasten: Da weiß jeder nicht nur, was seines ist, sondern versteht auch, dass er das Eigentum des anderen zu respektieren hat. Haben hat immer so einen negativen Beiklang; Habgier ist schließlich eine Todsünde. Dagegen ist Haben im Sinne des Privateigentums ein sehr humaner Gedanke. Ein bisschen Abstand zum Haben könnte allerdings nicht schaden. „Haben, als hätte man nicht“, schreibt der Apostel Paulus. Eine Art innere Distanz zum Haben macht frei, auch eine innere Distanz zum Privateigentum.
Dorn: Frau Göring-Eckardt, ist das mit dem Sein statt dem Haben wirklich ein intellektualistischer Traum, auf den man nur kommen kann, wenn man den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt?
Göring-Eckardt: Ich konnte Arendt und Fromm nur lesen, weil ich ins „Giftzimmer“ der Deutschen Bücherei in Leipzig gegangen bin. Im Sozialismus waren diese Bücher nicht frei verfügbar und das hatte gute Gründe. Ich glaube, dass der Mensch immer beides ist: Er will natürlich konsumieren. Aber gerade an der jüngeren Generation sieht man, dass die das mit dem Sein ziemlich wichtig findet. Die sagen, sie haben keine Lust, 38 Stunden zu arbeiten. Geld ist ihnen weniger wichtig. Die wollen ihr Ehrenamt machen oder im Chor singen oder einfach Zeit für sich, für ihre Kinder, ihre Partnerschaft haben. Da hat sich in unserer Gesellschaft etwas drastisch verändert. Und ich finde diese Haltung sehr gewinnbringend für das Zusammenleben.
Dorn: Gleichzeitig scheint es mir aber noch einen anderen Trend zu geben: die zunehmend gereizte Konsumentenhaltung gegenüber der Politik.
Göring-Eckardt: Das erlebe ich auch.
Dorn: Wie Rainer Hank vorhin gesagt hat: Im Kapitalismus ist der Kunde König. Unter den Bedingungen der Digitalmoderne heißt das allerdings: Jeder Kunde darf sich als kleiner Terrorkaiser fühlen, weil er demjenigen, der eine bestimmte Dienstleistung oder ein Produkt anbietet, durch miese Bewertungen im Netz jederzeit eins einschenken kann. Ich vermute, dass diese Form des aggressiv-volatilen Dauerfeedbacks auch jeden ernsthaften Warenproduzenten oder Dienstleistungsanbieter wuschig machen muss. Wenn sich diese Haltung auf die Sphäre der Politik ausweitet, scheint sie mir jedoch noch problematischer zu sein. Selbstverständlich sind Politiker in einer Demokratie nur deshalb im Amt, weil genügend Bürger sie gewählt haben. Aber wenn an dem Bild von Max Weber etwas dran ist, dass Politik „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern“ ist, wird klar, wie heikel die überhitzte Erwartungshaltung ist, alles müsse sofort geliefert werden, und zwar genauso, wie es jeder einzelne „König Wähler“ bestellt hat.
Göring-Eckardt: Letzten Sommer habe ich eine Tour gemacht, mit Fahrrad und Zug durch kleine und mittelgroße Städte in Ostdeutschland. Wenn da 20, 80 oder 100 Leute zusammensaßen, kam oft jemand auf mich zu und hat mir ein persönliches Problem geschildert, das ich jetzt lösen sollte. Und dann kam ein anderer, der mir ein anderes persönliches Problem geschildert hat. Denen musste ich sagen: Tut mir leid, aber Politik ist nicht dazu da, individuelle Probleme zu lösen, sondern die unterschiedlichen Probleme von Menschen ernst zu nehmen und daraus ein funktionierendes gesellschaftliches Ganzes zu machen. Es geht darum, verschiedene Interessen unter einen Hut zu bringen. Genau das ist der Unterschied zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie. Widerstreitende Interessen zusammenzubringen ist die hohe Kunst der Politik. Das gelingt nicht immer, aber ich finde, Politiker – egal, welcher Partei – sollten daran arbeiten.
Hank: Ich verstehe Ihre Position als Politikerin. Aber bei Ihnen, Frau Dorn, höre ich doch eine gewisse Distanz der Intellektuellen zum Volk heraus. Wie lange haben wir Demokratie-Verdrossenheit beklagt? Und jetzt beschäftigen sich die Menschen mit der Demokratie, weil die sozialen Netzwerke dazu alle Möglichkeiten bieten – auch wenn sie natürlich unangenehme Radikalisierungsspiralen bergen. Aber jetzt ist auch das wieder nicht recht. Ich finde, eine Demokratie, die so stabil ist wie die unsere, muss das schon verkraften.
Göring-Eckardt: Inklusive Hass und Morddrohungen?
Hank: Natürlich nicht, aber in der Breite bieten die Plattformen eine Möglichkeit der Meinungsäußerung zwischen den Wahlen. Und bei den Wahlen ist es dann sowieso kein Konsumismus mehr. Da gilt: one man, one vote. Im Prinzip funktioniert die Demokratie dann doch sehr gut. •
Seit 2018 veranstaltet die Wüstenrot Stiftung gemeinsam mit Thea Dorn die Reihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“. Zu den öffentlichen Gesprächsabenden im Theaterhaus in Stuttgart, werden in der Regel zwei Gästen aus Gesellschaft, Politik oder Wissenschaft eingeladen, um aktuelle Themen zu erörtern. Die Wüstenrot Stiftung arbeitet seit 1990 ausschließlich und unmittelbar gemeinnützig in den Bereichen Denkmalpflege, Wissenschaft, Forschung, Bildung, Kunst und Kultur. Als operativ tätige Stiftung initiiert, konzipiert und realisiert sie selbst Projekt und fördert darüber hinaus die Umsetzung herausragender Ideen und Projekte anderer Institutionen durch finanzielle Zuwendungen. Weitere Informationen zur Reihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“ finden sich unter diesem Link.
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