Kaan Ayhan über das Phänomen Sassuolo, Ciccio Caputo und de Zerbi - kicker
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Kaan Ayhan über das Phänomen Sassuolo, Ciccio Caputo und de Zerbi

Ex-Bundesliga-Profi im Interview

Bierbrauer und Schreihälse: Ayhan erklärt das Phänomen Sassuolo

Funktionieren bislang gut zusammen: Kaan Ayhan, Roberto de Zerbi, Francesco Caputo und die US Sassuolo.

Funktionieren bislang gut zusammen: Kaan Ayhan, Roberto de Zerbi, Francesco Caputo und die US Sassuolo. Getty Images

Irgendwann, dachte Kaan Ayhan, kommt der Fußballer in ein Alter, in dem er das Meiste gesehen hat. Er selbst war gerade dabei, das 26. Lebensjahr mit einem Wechsel nach Italien, einer Luftveränderung und neuen Herausforderung zu beenden. Nur auf das, was dort in Sassuolo wartete, hatte ihn niemand vorbereitet. "Ich habe eine Woche lang nur schwarzgesehen", sagt Ayhan im Gespräch mit dem kicker und kann inzwischen darüber lachen.

Nach vier Jahren bei Fortuna Düsseldorf war für Ayhan im vergangenen Sommer der Zeitpunkt gekommen, das nächste Abenteuer anzugehen. Das hätte überall sein können, auch in Deutschland. "Aber ich wollte unbedingt mal eine Auslandserfahrung sammeln, und mit Ende 25 hat sich das richtig angefühlt."

Nicht zum ersten Mal hatte sich US Sassuolo beim gebürtigen Gelsenkirchener gemeldet. Ein Jahr zuvor war Nationalmannschaftskollege Merih Demiral, heute Stammspieler bei Juventus, schon als Mittelsmann eingesprungen. "Er hatte damals angedeutet, dass der Trainer mich ganz cool findet und mal mit mir sprechen wollte", erzählt Ayhan, der dennoch dankend ablehnte und sich auf die Saison in Düsseldorf konzentrierte.

Italienisch können dort alle, aber Englisch kaum einer.

Ayhan über Startschwierigkeiten im neuen Land

Nach dem Abstieg der Fortuna und der um ein Jahr verschobenen EM änderte sich die Sichtweise und Sassuolo klopfte erneut an. Da der Wechsel erst am letzten Tag seiner Ausstiegsklausel über die Bühne gehen konnte, störte sich Düsseldorf an einer Formalität und feilschte etwas länger mit den Italienern, um doch noch etwas mehr Geld zu erlösen als die ursprünglich festgeschriebenen zwei Millionen Euro. "Die Vorfreude", sagt Ayhan "nicht gerne", "wurde mir durch das Tauziehen ein bisschen genommen. Aber das ist nur ein kleiner Beigeschmack, ich bin da nachträglich niemandem böse."

Am Ende musste "alles ganz schnell gehen", darum blieb keine Zeit, sich vorher mal mit Trainer Roberto de Zerbi zu unterhalten. "Das passierte erst, nachdem ich in Sassuolo gelandet war", und verlief zunächst auch eher oberflächlich. Nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was wenige Wochen später für Schwindelgefühle sorgen sollte.

Roberto de Zerbi

Der laute Dirigent: Roberto de Zerbi. Getty Images

Weil die Bundesliga schon wesentlich früher zu Ende gegangen war als die Serie A, hatte Ayhan über die kurze Sommerpause im Vergleich zu seinen neuen Teamkollegen einen etwas größeren Fitnessrückstand aufgebaut und deshalb Nachholbedarf. "Ich habe eine Woche eher angefangen als der Rest, nur mit den Spielern, die vorher verletzt waren", erklärt er. "Und das war auch gut für mich. So konnte ich nach und nach die Leute kennenlernen und nicht alle auf einen Schlag."

Zumal die Sprachbarriere sich am Anfang durchaus als Hindernis erwies oder, wie Ayhan selbst sagt, als "kleines Problemchen". "Italienisch können dort alle, aber Englisch kaum einer." Das Gute: "Irgendwie bringt der Fußball es mit sich, dass man sich dann doch verständigen kann." Langsam tastete sich der Ex-Schalker heran, konnte aber trotzdem nicht damit rechnen, was ihm noch bevorstand.

Nach und nach traf der gesamte Kader ein, eine große Vorstellungsrunde fiel wegen der Pandemie aus. "Die Kabinen sind so sehr getrennt, dass die ganz großen Berührungspunkte leider fehlen", sagt Ayhan. "Das hätte es mir vielleicht einfacher gemacht, den einen oder anderen kennenzulernen."

Das "richtige" Training begann, und Ayhan sah schwarz. "Ich will nicht sagen, dass das Training ein ganz anderes Niveau hatte, aber die Abläufe waren komplett unterschiedlich. Die meisten Spieler wussten genau, was zu tun ist, wer wohin muss. Der Trainer hat eine ganz klare Spielidee, und so soll auch das Training aussehen."

Der Trainer, de Zerbi, 41 und seit Juli 2018 an Bord, sah es seinem Neuzugang nach. Wie konnte Ayhan, der mit Fortuna zumeist der große Außenseiter war, auch von jetzt auf gleich einen Spielstil aufsaugen, "den ich so vorher noch nicht erlebt hatte"?

Das mit dem Stil hat es nämlich so in sich. Das weiß auch Pep Guardiola, der als großer Bewunderer de Zerbis gilt. "Ich meine sogar, dass sie sich persönlich kennen und sehr respektieren", sagt Ayhan und bezeichnet sich selbst als "Fan", aber "nicht nur von unserem Trainer, auch der Mannschaft". Manchmal, wenn das Spiel gerade erst vorbei ist, "schaue ich es mir nochmal in Ruhe an, weil ich unseren Fußball so mag".

De Zerbis Ansatz ist durchaus ungewöhnlich und für Ayhan sogar "revolutionär". Sassuolo zieht auf eine fast schon penetrante Art und Weise sein Aufbauspiel vom Torwart ausgehend auf, egal, ob der Gegner Juventus oder Crotone heißt. Der Gegner soll sich lösen und gelockt werden, damit im Mittelfeld, sobald die erste Pressinglinie überspielt ist, eine große Lücke klafft. "Wenn das passiert ist", schildert Ayhan, "und das habe ich jetzt erst von unserem Trainer gelernt, verschiebt die gegnerische Mannschaft ganz anders. Das ist der Moment, auf den wir hinarbeiten. Das mag manchmal penetrant aussehen, aber es lohnt sich."

Kaan Ayhan

Noch nicht ganz fest im Sattel, aber immer dabei: Kaan Ayhan. imago images

Und wie. Vor dem Topspiel gegen Inter am Samstag (15 Uhr, LIVE! bei kicker) ist Sassuolo Tabellenzweiter, hat noch kein Spiel verloren und die beste Offensive der Serie A. "Wenn uns jetzt nicht fünf oder sechs Spieler wegbrechen, und das weiß man ja gerade fast nie, sehe ich uns absolut in der Lage, oben mitzumischen", sagt Ayhan selbstbewusst, schränkt aber ein: "Wir haben jetzt schon gemerkt, dass es Mannschaften gibt, die teilweise mit neun Mann vorm Sechzehner stehen, uns spielen lassen und so Probleme machen. Das könnte noch häufiger auf uns zukommen." Einen Plan B gebe es auf jeden Fall, den "gibt es immer", nur seien in dem Fall die Spieler gefordert, "das Spielfeld noch weiter auseinanderzuziehen und so Lücken zu finden".

Am guten Start hat auch Ayhan seinen Anteil, obwohl das so überhaupt nicht zu erwarten war. "Bisher war es eigentlich immer so, dass der Trainer Neuzugänge aus anderen Ligen erstmal zwei Monate hat lernen lassen, bevor sie ran durften." Deshalb ist Ayhan "schon ziemlich stolz", dass er bisher in jedem Ligaspiel spielen durfte, wenn auch viermal "nur" als Joker. "Manchmal sitze ich da selbst zwischen zwei Stühlen", sagt er aufgrund der Tatsache, dass de Zerbi ihn nun schon als Innenverteidiger in einer Dreier- oder Viererkette und noch dazu als "Rechtsaußen" im 3-4-2-1 aufgestellt hat. "Das ist schon fordernd."

Aber so geht oder ging es ja auch seinen Kollegen, die gleichwohl vom außergewöhnlichen Ansatz ihres Trainers profitieren. Francesco "Ciccio" Caputo zum Beispiel, 33-jähriger Top-Torjäger (fünf Treffer) der Neroverdi, der den Großteil seiner Karriere in der Serie B verbrachte und nebenbei sein eigenes Bier braut. "Jetzt verstehe ich auch, warum er so jubelt", lacht Ayhan.

Francesco Caputo

Hat Tradition: Francesco Caputo und sein spezieller Jubel. imago images

Und natürlich - "sie sind ja italienische Nationalspieler" - liegt das Hauptaugenmerk auf Kapitän Domenico Berardi (vier Tore, drei Vorlagen) und Spielmacher Manuel Locatelli (zwei Tore). "Aber ganz ehrlich", sagt Ayhan, "das Niveau in der Truppe ist generell unglaublich hoch. Da fallen mir fünf oder sechs Namen ein, die es mal nach ganz oben schaffen können."

De Zerbi, der Dirigent dieses Orchesters, hat sie alle besser gemacht. "Er hat auf jeden Fall ein starkes Sprachorgan", scherzt Ayhan, ohne wirklich zu scherzen. "Nicht dass er schreit oder aggressiv ist, er spricht einfach sehr laut. Und das fängt einen natürlich, vor allem, wenn man noch nicht jedes Wort versteht." Mit Ayhans Italienisch wird es immer besser, "das sagen zumindest die anderen. Ich verstehe schon das meiste und kann manchmal auch antworten, wobei ich nicht weiß, ob das dann auch so ankommt, wie ich das möchte."

Er kann inzwischen auch so begreifen, was de Zerbi von ihm möchte und sieht es jeden Tag im Training, ohne dass es ihm nun die Sprache oder das Augenlicht verschlägt. "De Zerbi ist derjenige, der am meisten Gas gibt, obwohl er nicht mittrainiert. Er achtet auf jedes Detail." Ein Perfektionist eben, aber das macht es ja auch aus. "Wenn man unser Spiel anschaut, bekommt man einfach gute Laune."

Mario Krischel