Drittes Reich: Joseph Goebbels – Narziss von Hitlers Gnaden - WELT
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Joseph Goebbels – Narziss von Hitlers Gnaden

Leitender Redakteur Geschichte
Neue Biografie: Der Historiker Peter Longerich findet in der Gier nach Bestätigung den Kern des NS-Propagandaministers.

Nie war die Nähe größer als im Tod. Als Joseph Goebbels am Abend des 1. Mai 1945 im Garten der Reichskanzlei in Berlin auf eine Zyankalikapsel biss, erfüllte sich sein Traum. Indem er Adolf Hitler nach nur einem Tag in den Selbstmord folgte, als einziger aus dem engsten Führungszirkel des Dritten Reiches, schrieb er die besondere, die einzigartige Beziehung zu seinem Idol für immer fest. Nicht Martin Bormann, nicht Heinrich Himmler oder Hermann Göring, nicht einmal Albert Speer standen nun mehr zwischen Goebbels und Hitler.

„Seine Lebenslüge hatte am Ende gesiegt“, lautet der letzte Satz in Peter Longerichs neuer, 910 Seiten starker Biografie des Propagandaministers. Sie erhebt den Anspruch, für die kommenden Jahre, vielleicht Jahrzehnte die maßgebliche Goebbels-Interpretation zu sein. Der Historiker, der an der Universität London lehrt und international als einer der besten Kenner des Dritten Reiches gilt, setzt mit dem gewichtigen Buch sein Vorhaben fort, die deutsche Zeitgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in biografischen Längsschnitten darzustellen.

Der erste derartige Band war vor zwei Jahren seine viel gelobte Lebensbeschreibung von SS-Chef Heinrich Himmler; nun also Goebbels. Möglicherweise hätten andere Personen aus dem innersten Führungszirkel um Hitler näher gelegen; über Bormann oder Göring etwa gibt es keine zeitgemäßen, verlässlichen Biografien, während zu Goebbels die zwar bereits 20 Jahren alte, aber immer noch nützliche Lebensbeschreibung des Historikers und Journalisten Ralf Georg Reuth vorliegt.

Auch abseits dieses Buches darf die Figur Goebbels als relativ gut erforscht gelten. Allein 2009 erschienen zwei weitere Biografien über ihn, mit unterschiedlichen Ansätzen. Dazu kommen eine Fülle von Detailstudien, etwa über Goebbels als „Filmminister“, über seine literarischen Gehversuche in den Zwanzigerjahren und – als eindrucksvoll gelungene Kombination aus Bildern und Texten – der Band „Das Goebbels-Experiment“ von Lutz Hachmeister und Michael Kloft.

Der Grund für diese Dichte an Forschungen gerade über Goebbels ist einfach: Er hat im Gegensatz zu allen anderen Spitzenfunktionären der NSDAP eine ungeheure Fülle an persönlichen und politischen Selbstzeugnissen hinterlassen – genau genommen 6783 handbeschriebene Blätter in 23 Kladden und 34.609 Seiten mit in großen Typen betippten täglichen Diktaten, außerdem buchstäblich hunderte Leitartikel in den NS-Zeitungen „Völkischer Beobachter“, „Der Angriff“, und „Das Reich“ sowie zahlreiche Broschüren und Büchern. Ohne Zweifel gehörte Joseph Goebbels zu den produktivsten Menschen seiner Zeit.

Allerdings zugleich zu den destruktivsten. Denn ein Großteil seiner ungeheuren Text-Produktion war geprägt von Hass, anfangs gegen „das System“, also die erste deutsche Demokratie, später gegen die Nachbarstaaten Deutschlands und seine Gegner im Krieg, und fast immer gegen „die Juden“. Der Antisemitismus war die eine Grundkonstante in Goebbels’ Leben, die man seit den Zwanzigerjahren verfolgen kann. Die andere war ein beinahe pathologischer Narzissmus.

In Longerichs treffenden Worten: „Goebbels ging es als Autor und Chefpropagandist des Dritten Reiches vor allem darum, einen Spiegel aufzustellen, in dem er sich selbst überlebensgroß sah. Da ihm inneres Gleichgewicht wie äußere Sicherheit fehlten und er seiner Wirkung auf andere zutiefst misstraute, bedurfte er der ständigen Bestätigung, dass das großartige Bild im Spiegel tatsächlich ihn selbst, Joseph Goebbels, darstellte.“ Als wichtigste Bezugsperson diente dabei Hitler. Longerich belegt in seinem Buch seine Grundthese, dass Persönlichkeitsdefizite der wesentliche Antrieb in der Existenz des ebenso skrupellosen wie wehleidigen Propaganda-Genies war, schlüssig und überzeugend.

Doch all das führt nur unwesentlich über die bisher gesicherte Forschungslage hinaus. Wichtiger ist, dass Longerich wie schon in seinem Himmler-Buch die engen Grenzen des rein Biografischen hinter sich lässt. Stets entlang der Lebens-Chronologie, beschreibt er ausführlich die zentralen Arbeitsbereiche von Goebbels: die krisengeschüttelte Berliner NSDAP, der er seit November 1926 vorstand; den Aufbau und die Lenkung der Propagandaapparates, der nie so perfekt funktionierte, wie sich der zuständige Minister das wünschte; schließlich die Mobilisierung aller Kräfte für den „totalen Krieg“. Wie schon die Himmler-Biografie zugleich eine in weiten Teilen sehr überzeugende Beschreibung des NS-Repressionsapparates war, so gelingt Longerich dasselbe Kunststück mit seinem neuen Buch zum zweiten Mal.

In dieser Hinsicht geht der Autor deutlich über Reuth hinaus, der allerdings auch ein anderes Konzept verfolgte, nämlich eine klassische Biografie. Dagegen reihen sich die beiden jüngsten Bücher von Peter Longerich ein in eine Reihe von biografisch angelegten, jedoch zugleich über dieses Sujet weit hinausgreifenden Studien der vergangenen Jahre, etwa die Arbeit von Ulrich Herbert über Werner Best, die zugleich die Funktions-Elite des SS-Staates porträtierte, die zweibändige Hitler-Biografie von Ian Kershaw, die zugleich eine Gesellschaftsgeschichte des Dritten Reichs war, oder Ernst Pipers Biografie des Chefideologen Alfred Rosenberg, die erstmals die nationalsozialistische Weltanschauung präzise analysierte.

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Dieser großen und wichtigen Stärke von Longerichs Goebbels-Buch steht jedoch eine Schwäche gegenüber. Er nimmt allzu oft die Tagebuchnotizen für bare Münze, obwohl schon beim Lesen der Biografie und erst recht der in 29 Bänden edierten Originalquelle deutlich wird, wie sehr Goebbels schwankte. Gerade diese Stimmungswechsel waren eine Folge der ja zutreffend beschriebenen Grundkonstellation innerer Unsicherheit. Die von der politischen Messiasfigur Hitler geliehene äußere Stärke führte eben bis zuletzt, bis zum Ende im Führerbunker, nicht zu einer Stabilität bei Goebbels selbst.

Das ändert am Wert des umfangreichen und dennoch gut lesbaren Buches freilich ebenso wenig wie die in Details nicht immer überzeugenden Wertungen von Peter Longerich, die meist auf zu wenig reflektierten Umgang mit den Tagebuchnotizen zurückgehen. So erfolgte die Ernennung von Goebbels zum Berliner NSDAP-Gauleiter 1926 sicher nicht „im Zuge einer Austarierung der innerparteilichen Kräftekonstellation“; vielmehr war Hitler bewusst, dass er in der für den Erfolg seiner „Bewegung“ entscheidenden Reichshauptstadt einen ebenso loyalen wie einfallsreichen Stellvertreter brauchte.

Longerich gelingt ein Standardwerk

Die innerparteiliche Krise rund um den Rücktritt von Gregor Strasser Ende 1932 interpretiert Longerich als aufgebauscht. Dabei stützt er sich auf die erst 2006 erschienenen Originalnotizen von Goebbels und übersieht, dass die schon lange bekannte Version in der stark bearbeiteten veröffentlichten Tagebuch-Version „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“ die realen, auch in der zeitgenössischen Presse nachzulesenden Fakten aufgriff.

Ein drittes Beispiel für die Überbetonung der Tagebücher gegenüber anderen Quellen ist die Frage, wann und wie viel Hitler über den Putsch gegen Österreichs Kanzler Engelbert Dollfuß am 25. Juli 1934 wusste. Nicht erst durch eine Tagebucheintragung von Goebbels ist nämlich die Rolle des „Führers“ bei diesem schmählich gescheiterten und außenpolitisch für das Dritte Reich desaströsen Coup belegt. Vielmehr bezeugen schon die seit langem zugänglichen Aufzeichnungen des Reichswehr-Generalleutnants Wilhelm Adam diese Kenntnis.

Doch solche Details mindern die Bedeutung von Longerichs Goebbels-Buch insgesamt nicht. Ohne Zweifel ist ihm eine zeitgemäße, gerade im Hinblick auf die Propaganda und die Kulturpolitik des Dritten Reiches weiterführende Studie gelungen. Zwar war die Forschungslücke größer, die er 2008 mit seiner Himmler-Biografie geschlossen hat. Aber als Darstellung auf aktuellem Stand vor allem des gesamten Tagebuchmaterials ist sein Buch unbedingt lesenswert.

Peter Longerich: Joseph Goebbels. Biografie. Siedler, München. 910 S., 39,99 Euro

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