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Geschichte „Zeitenwenden“ der Bundeswehr

Ausgerechnet ein Grüner schickte deutsche Truppen erstmals wieder zum Kämpfen ins Ausland

Die aktuelle „Zeitenwende“ ist nicht die erste in der Bundeswehr-Geschichte: Gut fünf Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es eine deutsche Beteiligung am Nato-Einsatz im Kosovo-Krieg. Auf einem turbulenten Sonderparteitag der Grünen eskalierte am 13. Mai 1999 der Protest.
Managing Editor Geschichte
Grünen-Parteitag 1999 - Farbbeutel auf Fischer Grünen-Parteitag 1999 - Farbbeutel auf Fischer
Von einem Farbbeutel schmerzhaft getroffen: Joschka Fischer am 13. Mai 1999 auf dem Sonderparteitag der Grünen zum Nato-Einsatz der Bundeswehr
Quelle: pa/Gero Breloer

Mit der Rede von Olaf Scholz vor dem Bundestag am 27. Februar 2022 ist der Begriff „Zeitenwende“ schlagartig zum Synonym für einen neuen Stellenwert der Bundeswehr in der aktuellen deutschen Sicherheits- und Außenpolitik geworden – als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass in der Geschichte der Bundesrepublik eine derartige Zäsur stattfand. Vielmehr gab es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehrere „Zeitenwenden“ in Bezug auf die Rolle der Bundeswehr.

Die entsprechenden tektonischen Verschiebungen, Kontinuitäten und Brüche der Politik wurden stets von hitzig geführten Debatten insbesondere vor dem Hintergrund deutscher Verbrechen während des Nationalsozialismus begleitet. Der Historiker Andrew I. Port zeichnet dies jetzt in seinem zunächst auf englisch erschienenen Buch „Never Again. Germans and Genocide after the Holocaust“ (Harvard University Press. 31,95 Euro) nach.

Als den bedeutendsten Wandel macht Port die neue Bereitschaft deutscher Regierungen in den 1990er-Jahren aus, sich an militärischen Einsätzen im Ausland zu beteiligen, um dort bewaffnete Konflikte und Menschenrechtsverletzungen zu beenden – dies jedoch nie unilateral und meist erst auf Druck der Bündnispartner.

Hatte man sich zuvor zumeist mit „Scheckbuchdiplomatie“ aus einer aktiven Beteiligung an Auslandseinsätzen herausgehalten, wirkte die Bundeswehr seit 1991 mit Zehntausenden Soldaten an Dutzenden solcher Missionen mit, mit Einsätzen in Südostasien, Südosteuropa, Afrika und dem Nahen Osten.

„Die eigentliche Zäsur hat mit der Wiedervereinigung begonnen“

Im November 2001 äußerte sich Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl im WELT-Interview zum damaligen Auftakt des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr und seiner Vorgeschichte: „Es ist ein Einschnitt. Aber die eigentliche Zäsur hat schon mit der Wiedervereinigung 1990 begonnen, als wir die volle Souveränität für das wieder vereinigte Deutschland gewonnen haben. Vielen Menschen ist die neue Rolle Deutschlands in der internationalen Politik nicht richtig bewusst geworden. Gerhard Schröder spricht jetzt von einer neuen Ära, in der die ‚Scheckbuchdiplomatie‘ zu Ende sei. Er spielt damit auf den Beitrag der Bundesrepublik zum Einsatz der Allianz im Golfkrieg an. Doch ein größerer Beitrag als den, den wir damals leisteten, war politisch nicht möglich.“

Der wohl wichtigste Meilenstein in dieser Entwicklung war die deutsche Beteiligung an dem Nato-Einsatz im Jahr 1999, der den blutigen Kosovo-Krieg beenden und einen Völkermord an den Kosovo-Albanern verhindern sollte. Es war das erste Mal nach 1945, dass deutsche Soldaten direkt an Kampfhandlungen beteiligt waren.

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Mit Joschka Fischer war es ausgerechnet ein Grüner, der diese Entscheidung als Außenminister mittrug – und gegen massive Widerstände seiner aus der Friedensbewegung hervorgegangenen Partei durchsetzen musste. Während es in der breiten Bevölkerung wenig Protest gegen den Einsatz gab, eskalierte auf einem turbulenten Sonderparteitag der Grünen am 13. Mai 1999 in Bielefeld die Situation. Damit der Parteitag überhaupt stattfinden konnte, waren 1500 Polizisten im Einsatz, die eine Blockade der Veranstaltungshalle durch Demonstranten auflöste.

„Wir haben immer gesagt: ‚Nie wieder Krieg!‘ Aber wir haben auch immer gesagt: ‚Nie wieder Auschwitz!‘“, hatte Fischer schon am 7. April 1999 betont; im Zusammenhang mit den Kriegsverbrechen, die in Ex-Jugoslawien stattfanden. Auf dem Parteitag wiederholte bzw. präzisierte er dies: „Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen: nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen“.

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Fischer hielt seine Parteitagsrede unter körperlichen Schmerzen. Denn noch bevor er das Wort ergreifen konnte, hatte ihn ein Teilnehmer als „Kriegshetzer“ beschimpft, mit einem Farbbeutel beworfen und so hart am Kopf getroffen, dass Fischer einen Trommelfell-Riss im rechten Ohr erlitt.

J. FISCHER auf Wahkampftour
Joschka Fischer bei seiner Rede – sein Jackett ist mit roter Farbe von der Farbbeutelattacke befleckt
Quelle: pa/Ulrich Baumgarten

Dass schließlich die Mehrheit der Delegierten für die deutsche Beteiligung an dem Nato-Einsatz stimmte, wird auch Fischers Redetalent und seiner Überzeugungskraft zugeschrieben. Dass er das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte zur Rechtfertigung des Nato-Eingreifens heranzog, blieb allerdings umstritten. Nicht zuletzt, weil er vier Jahre vorher in der Debatte über einen möglichen Bosnien-Einsatz der Bundeswehr mit Verweis auf die deutsche Vergangenheit noch genau entgegengesetzt argumentiert hatte : „Ich bin der festen Überzeugung, dass deutsche Soldaten dort, wo im Zweiten Weltkrieg die Hitler-Soldateska gewütet hat, den Konflikt anheizen und nicht deeskalieren würden.“

Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich manchmal: Gut zwei Jahrzehnte später war es wieder ein grün besetztes Außenministerium, das eine „Zeitenwende“ eines sozialdemokratischen Kanzlers mittrug und gegen Kritik verteidigte. Farbbeutel flogen dieses Mal allerdings nicht.

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