Wer es in den vergangenen Jahrzehnten zum Staatsfeind Nr. 1 der USA bringen wollte, der hatte besonders gute Chancen, wenn zur reinen kriminellen Energie noch politischer oder religiöser Wahn kam. Die Liste umfasst so illustre Namen wie Fidel Castro, Saddam Hussein oder natürlich Osama bin Laden. Doch waren diese weltanschaulichen Qualifikationen nicht immer zwingend, um die inoffizielle Goldmedaille des Oberschurken zu erringen. Ganz zu Beginn musste man dafür nur mit Maschinengewehren umgehen können – und ein paar Gleichgesinnte um sich herum zu scharen, schadete auch nicht.
Amerika ohne Verbrechen ist wie ein Burger ohne Brötchen. Die Faszination, die von den diversen Dons, Pistoleros und Outlaws ausgeht, ist auch im digitalen Zeitalter noch ungebrochen. Und so ist es nur konsequent, dass vor drei Jahren ein Streit um die Exhumierung des Leichnams John Herbert Dillingers (1903–1934) losbrach, der die Medien des Landes wochenlang beschäftigte: Der Bankräuber, der die erste „Most Wanted“-Liste aller Zeiten anführte, mochte am 22. Juli 1934 durch die Kugeln seiner Häscher gestorben sein – sein Mythos gedieh danach erst wirklich.
Im Gegensatz zu Männern wie Al Capone oder Bugsy Siegel beherrschte Dillinger kein Schattenimperium. Seiner Popularität tat das aber keinen Abbruch, transportierte er mit seinen gewagten Raubzügen doch ein wenig Wild-West-Romantik ins 20. Jahrhundert. Diese verfing umso mehr, weil in der Großen Depression Banken als Institutionen galten, die das Geld an den Bedürfnissen der Menschen vorbei horteten – und dazu tat Amerikas Oberpolizist J. Edgar Hoover dem Superräuber auch noch den Gefallen, sich auf seine Kosten zum Gewissen der ganzen Nation aufzuspielen: Die Bundespolizei „Bureau of Investigation“ führte ein eher mickriges Dasein, doch durch Dillingers Wirken änderte sich das. 1935 konnte Hoover das FBI gründen.
Wie bei allen Menschen, die irgendwann beschließen, sich nicht um Gesetze zu scheren, lässt sich auch bei Dillinger nicht sagen, was dafür der Auslöser war. Er wurde 1903 in Indianapolis in eine Mittelschichtswelt hineingeboren. Sein Vater war ein grundsolider Händler mit saarländischen Vorfahren. Nach dem frühen Tod der Mutter – John war gerade drei Jahre alt – kümmerte sich die größere Schwester um ihn.
Trotzdem ließ sich der Junge schon in der Schule auf Konflikte ein, denen man lieber aus dem Weg ging und war fasziniert von Gangs. „Viele meiner Freunde wollten Polizisten, Feuerwehrleute oder Bauern werden“, soll er später einmal gesagt haben, „ich wollte immer nur Geld stehlen.“ Als Arbeiter in einer Maschinenfabrik sorgte er für so viel Ärger, dass er schon rasch rausflog. Sein Vater zog mit ihm aus der Stadt aufs Land, die Ruhe dort sollte es richten.
Das blieb ein frommer Wunsch: Der Sohn heuerte bei der Marine an, war kurz Heizer auf einem Schlachtschiff, beging aber Fahnenflucht, kehrte zurück aufs Land, heiratete eine Frau, von der er sich bald scheiden ließ, und zwischendurch ging es um gute drei Dutzend Hühner, die er gestohlen haben sollte. Die Chance gehabt, seine Karriere als Krimineller zu beenden, hätte er da immer noch gehabt.
Doch es wurde nur schlimmer. Beim Baseball lernte Dillinger einen Mann namens Ed Singleton kennen. Der musste ihn wegen einer finanziellen Flaute nicht lang dazu überreden, ein Geschäft zu überfallen. Anstatt aber wie verabredet danach mit einem Fluchtauto zu warten, empfing Dillinger die Polizei; zehn bis 20 Jahre Haft lautete das Urteil vor Gericht.
Neun Jahre, von 1924 bis 1933, saß Dillinger in Indiana ein. Mehrfach versuchte er auszubrechen, noch blieb das ohne Erfolg. Aber als ob er im Gefängnis ausschließlich über seine Zukunft als Verbrecher nachgedacht hätte, scharte er auf freiem Fuß rasch einige Desperados um sich und überfiel eine Bank in Ohio. Allzu geschickt stellte er es nicht an – es dauerte nur kurz, und die Polizei stellte die Gang.
Einigen Mitgliedern seiner Bande gelang schnell der Ausbruch aus dem Gefängnis mit Hilfe eingeschmuggelter Gewehre. Dillingers Charisma war so überwältigend, dass die Männer bald zurückkehrten, um ihren Anführer aus dem Knast zu holen. Bei der fälligen Schießerei starb ein Wächter. An dieser Stelle wurde J. Edgar Hoover auf den Mann aufmerksam, den man nun mit Fug und Recht einen Berufsverbrecher nennen konnte. Er setzte seine Behörde auf den Haufen an, der sofort weiter marodierte, Banken überfiel und ein Waffenlager der Polizei ausräumte. Dort fielen neben Maschinengewehren auch kugelsichere Westen in die Hände der Verbrecher.
Dillinger war nun dabei, zu einer nationalen Berühmtheit zu werden. Sein Weg kreuzte den von Emily Frechette – eine Sängerin, die der Charme des gepflegten Verderbens umgab. Bei einem Überfall in Chicago starb ein Polizist, was entsprechende Publicity nach sich zog. Diesmal ging die Bande den Jägern in Arizona ins Netz. Doch wieder gelang Dillinger die Flucht aus dem Gefängnis, angeblich mit einer Pistolen-Attrappe, die er aus Holz und Schuhcreme selbst zusammengebastelt haben soll.
Dies machte ihn für Teile der Öffentlichkeit endgültig zu einer Art Kultfigur. Ein Typ, der die Behörden narrt und den Banken das Geld wegnimmt, galt manchem guten Amerikaner gar als Robin Hood. Eine großartige Aura – mit dem kleinen Fehler, dass Dillinger nie daran dachte, sein sauer erbeutetes Geld mit Bedürftigen zu teilen. Es folgten weitere Überfälle, weitere tote Polizisten – und schließlich ein Verrat, der das Ende des Gangsters einleitete.
Anna Sage war eine Einwanderin aus Rumänien, die mit Dillingers Bekannter Polly Hamilton in Chicago zusammenlebte. Für 10.000 Dollar und die Einbürgerung, so versprach sie Hoovers Leuten, werde sie dem Staatsfeind Nr. 1 eine Falle stellen, wenn er das nächste Mal bei Hamilton auftauche. Der Deal stand – und als Dillinger am Abend des 22. Juli 1934 mit seiner Bekannten ins Kino ging, lieferte Sage den Gangster frei Haus. Der erkannte die Situation, versuchte, seine Waffe zu ziehen und starb kurz darauf durch drei Kugeln aus den Waffen seiner Häscher; ein Ende von geradezu biblischer Qualität, das dadurch nur noch besser wurde, dass die Behörden die Verräterin nur mit 5000 Dollar entlohnten und nie einbürgerten.
Dass dieser Stoff Hollywood auf den Plan rufen musste, versteht sich von selbst. Wieder und wieder geisterte der Verbrecher über die Leinwände, 2009 setzte ihm Johnny Depp in „Public Enemies“ ein Denkmal. Realistisch war der Streifen selbstredend nicht, dazu sind die Anzüge zu gut geschnitten und die Dialoge zu geschliffen: „Okay, wie willst du’s haben“, sagt Depp, als er dem Bankangestellten mit dem Schlüssel vor dem Tresorraum die Kanone vors Gesicht hält: „Willst du als Held sterben oder als Feigling weiterleben?“
Die Geschichte mit der Exhumierung des Leichnams ist inzwischen ausgestanden. Den Nachfahren, die bezweifelten, dass sich der Gangster in dem Grab befand, ist anscheinend selbst aufgegangen, wie groß die Gefahr ist, sich lächerlich zu machen. Denn ganz egal, wo er ruht – unsterblich ist John Dillinger längst geworden.
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