Zum Tod von Hellmut G. Haasis: Ein streitbarer Feuerkopf - Ausgabe 678
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Zum Tod von Hellmut G. Haasis

Ein streitbarer Feuerkopf

Zum Tod von Hellmut G. Haasis: Ein streitbarer Feuerkopf
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Ein libertärer Linker in Reutlingen – das war der Schriftsteller Hellmut G. Haasis. Ungewöhnlich für die Stadt, außerordentlich sein großes Werk und sein Blick für die Beherrschten. Ein langjähriger Wegbegleiter erinnert sich an den Verstorbenen.

Vor einiger Zeit sind wir uns noch vor der Reutlinger Stadtbibliothek begegnet, die für ihn eine unentbehrliche Fundgrube des Wissens und der Recherche war. Er sprudelte mal wieder über vor Kenntnissen, zog mich in einen lautstarken, lustvollen Dialog. Hellmut konnte durchaus anstrengend sein, aber er war immer anregend und voller Eigen-Sinn wie seine widerborstigen Haare. Nun ist der Historiker, Schriftsteller und Verleger überraschend schnell nach einer schweren Erkrankung am 23. Februar im Alter von 82 Jahren gestorben, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Aber bei aller Trauer ist die Erinnerung an ihn bunt und fröhlich wie seine meist farbenfrohe Kleidung.

Er kam aus einem Pfarrhaus, geboren in Mühlacker, ging in Stuttgart zur Schule, studierte in Tübingen evangelische Theologie. Eine klassische württembergische Bildungskarriere, aber dann kamen Geschichte, Soziologie, Politik als antiautoritäre Störfaktoren hinzu. Seinen zweiten Vornamen Gottfried nahm er mit Georg Büchner und Ludwig Weidig wörtlich: "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" Seine Perspektive war der Unfriede, war die Ungerechtigkeit in der Welt, er hatte die Beherrschten, nicht die Herrschenden im Blick. Er war ein akribischer Archivarbeiter, aber es dauerte lange, bis die etablierte Geschichtswissenschaft sein Œuvre anerkannte. Kein Wunder, hatte er doch die Zunft, auch ihre braune Vergangenheit und reaktionäre Kontinuität kritisiert.

Politisch-programmatisch war schon das erste von ihm herausgegebene Buch, Johann Benjamin Erhards revolutionäre Schrift "Ueber das Recht des Volks zu einer Revolution". Dieser Maxime ging er im dreibändigen Werk "Spuren der Besiegten" nach und verfolgte die Geschichte von, wie er schrieb, "weniger bekannten Freiheitsbewegungen Mitteleuropas", von den aufständischen Bauern über die republikanischen Freischärler von 1848/49 bis zu den Atomkraftgegnern im 20. Jahrhundert. Er sah mit den linksrheinischen Demokraten die "Morgenröte der Republik" dämmern, nahm die Parole der deutschen Jakobiner auf: "Gebt der Freiheit Flügel". Damals musste der Außenseiter für seine Darstellungsweise mit ausführlichen Quellentexten und deren prononcierter Interpretation um Anerkennung ringen, heute sind seine Bücher Grundlagenwerke.

Haasis setzte sich auch mit verdrängter Landesgeschichte auseinander. So korrigierte er das antijüdische Zerrbild von "Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß", indem er dem Finanzier Herzog Karl Alexanders Gerechtigkeit als Freidenker und Justizopfer widerfahren lässt. Gleichermaßen rehabilitierte er Georg Elser in der Biografie "Den Hitler jag' ich in die Luft" als Hitler-Attentäter, der weitsichtig über den engen Ostalb-Horizont hinausblickt. Die NS-Zeit und der Widerstand gegen die Nazis spielen zudem im Buch "Tod in Prag" über das Attentat auf Heydrich und Erzählungen über die "Edelweißpiraten" eine Rolle.

Er war ein ungemein vielseitiger Schreiber. Sein Theaterstück über Christiane Hegel zeigt, dass diese weit mehr war als nur die Schwester des Philosophen. Er verfasste Mundartgedichte, ohne auf der damaligen Welle mitzuschwimmen. "Jetz isch fai gnuag Hai honna" ist ein Bändchen betitelt, für Nichtschwaben: jetzt reicht's. Die Romane "Em Chrischdian sei Leich" und "Heisel Rein" basieren auf lokalen Stoffen, Literaturgeschichte von unten. Zudem betrieb Haasis den Verlag "Freiheitsbaum", der unter den Orten Paris, Strasbourg, Basel, Torino, Cagliari, Reutlingen, Berlin, Praha firmierte.

Fiat und den GEA bestreiken – warum nicht?

Das war keine Koketterie, sondern zeigte die Reichweite seiner Interessen – so gab er etwa eine literarische Anthologie über Prag heraus. Und er war nicht nur am Schreibtisch zu finden, war bei den Fiat-Streiks in Turin dabei, setzte sich mit Theorie und Praxis der Arbeiterselbstverwaltung auseinander, studierte die Sozialgeschichte der Banditen und Briganten Süditaliens, zeichnete Motive sardischer Wandmalereien nach. Die Reisen flossen ein in Rundfunksendungen und Fernsehfilme – dafür gab's beim damaligen Süddeutschen Rundfunk noch eine Nische.

Auch in Reutlingen mischte er sich ein. Er war Vorsitzender der Gewerkschaftsjugend, beim Druckerstreik 1976 beteiligt an der Blockade des Monopolblatts "Reutlinger General-Anzeiger" (GEA), von den Protestlern "General-Verschweiger" genannt. Von 1988 bis 1989 saß Haasis für die Grünen und Unabhängigen im Reutlinger Gemeinderat. Ein unvergessliches Bild, wie der erzkonservative CDU-OB Manfred Oechsle im Anzug Aug in Aug mit dem Libertären im Blauhemd die Verpflichtung zu Verfassungstreue und Gesetzesgehorsam einforderte. Das kommunalpolitische Engagement blieb kurz und frustig, Haasis fand das Gremium viel zu wichtigtuerisch und bierernst.

Lieber brachte der zweifache Vater als schwäbischer Märchenclown "Druiknui" Kinder zum Lachen oder machte mit literarischen Performances Personen und ihre Geschichte sinnlich nachvollziehbar.

Der Humor verging ihm nie, obwohl seine Selbstständigkeit anfangs nicht zum Lachen und lange mit finanzieller Knappheit verbunden war. Aber nach den Dürrejahren konnte er doch die Ernte einfahren. Seine Bücher wurden ins Französische, Italienische, Portugiesische, Niederländische, Japanische, Chinesische übersetzt. Er bekam den Thaddäus-Troll-Preis, Schubart-Preis, Anna-Haag-Preis, Civis-Preis der ARD.

Als ihm dann noch der Ludwig-Uhland-Preis verliehen wurde, erklärte er mir holzstaubtrocken: "Das Geld langt für eine Pelletheizung." Wer ihn in seiner Bibliothek besuchte, die wie ein Gehäuse um ihn herum gebaut war, erlebte einen Freigeist, der um die Vergangenheit wusste und gerade deshalb mit beiden Füßen in der Gegenwart stand. Hellmut G. Haasis war ein streitbarer Feuerkopf und ein liebenswerter Mensch.


Wolfgang Alber, 75, war viele Jahre Lokalchef des "Schwäbischen Tagblatts" in Reutlingen und hat das Wirken von Haasis wohlwollend verfolgt.

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1 Kommentar verfügbar

  • Berti Kurz
    am 30.03.2024
    Antworten
    Hellmut war darüber hinaus ein hervorragender Kabarettist. Dieser Aspekt wird in den Nachrufen seltsamerweise immer übergangen. Ich erinnere mich gerne an die Zeit Anfang der 80-er Jahre, als wir das Kabarettduo "die zwei Maultaschen" bildeten. Auftritte im Stuttgarter Renitenztheater, im Mainzer…
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