Interview Tagesspiegel – Joachim Gauck, Bundespräsident a.D.
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

©Bundesregierung - Jesco Denzel

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck im Gespräch - ARCHIVBILD

Interview mit dem Tagesspiegel

30. April 2024

Herr Gauck, Krieg in der Ukraine, Krieg in Gaza, der Klimawandel, die Wirtschaftslage ... Wie finden Sie in diesen Tagen Halt? 

Ich bin nicht haltlos. Manchmal bin ich angespannt und auch beunruhigt – dabei fühle ich mich doch eigentlich für Zuversicht in diesem Land zuständig. 

Berufs-Optimist, also? 

Optimist ist vielleicht etwas zu leicht gesagt. Es ist ein vom Leben gezeichneter Optimismus. 

Was heißt das? 

Ich gehe davon aus, dass Krisenszenarien nicht das einzige sein müssen, was für uns lebensbestimmend ist. Wir können Krisen überwinden. Aber es müssen genügend Menschen da sein, die sich einem Problem auch stellen und  im Ernstfall auch bereit sind, Opfer zu bringen. Historisch betrachtet war Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg moralisch, politisch und ökonomisch ruiniert. Dass daraus ein Gemeinwesen geworden ist, wie es jetzt dasteht, das ist für viele Menschen heute völlig selbstverständlich. Aber es ist aus Krisen heraus errungen worden, aus der Not und aus tiefer Verunsicherung. Auf solche Erfahrungen stützt sich mein Optimismus, auf das Überwinden von Chaos und Unsicherheit. 

Nicht jeder trägt Ihren Optimismus in sich. Können Sie nachvollziehen, dass sich viele Menschen heute haltlos fühlen? 

Selbstverständlich. Sehr viele Menschen haben ihr sicheres Wir-Gefühl verloren, allen Errungenschaften der Moderne zum Trotz. Es ist auch schwierig zu definieren, was uns in Deutschland heutzutage verbindet. Wir leben in einer Welt, in der die religiösen Bindungen für viele nicht mehr greifen. Gleiches gilt in einem Land der Vielfalt für nationale Bindungen und kulturelle Traditionen. Es gibt vieles, was uns unsere Unterschiedlichkeit bewußt macht. Damit verlieren viele das Gefühl ihrer Lebenssicherheit. Darauf reagieren Menschen, indem sie sich Gruppen zuordnen, in denen sie sich beheimatet fühlen. Manchen gelingt das nicht, manche werden bindungslos und furchtsam. Und noch andere werden aggressiv und wütend.

Welche Rolle kann das Grundgesetz heute für dieses „Wir“-Gefühl spielen? 

Ich glaube, wir Deutschen sind nicht so verunsichert, dass wir unsere Gesellschaftsordnung ernsthaft anzweifeln. Es gibt zwar solche politischen Kräfte. Aber das ganze demokratische System abschütteln wollen die wenigsten. Es gibt immer Fehler von Regierungen,  die Wähler verunsichern. Aber wenn die Menschen keine echte, revolutionäre Veränderung wollen, gibt es die Überzeugung: Ich lebe an einem im Prinzip richtigen Ort, selbst wenn dieser nicht ohne Mängel ist. Bei vielen ist es ein unbewusstes Heimatgefühl für diesen politischen Raum meiner Möglichkeiten. Mir ist das so bewusst, weil ich 50 Jahre meines Lebens in einem anderen Raum mit ganz anderen Lebensgefühlen gelebt habe. 

Ihr Leben in der DDR. Wie prägt sich diese Erfahrung aus? 

In einer Gesellschaft, in der ich kein Bürger bin, die entsprechenden Rechte und damit einen Teil der Menschenrechte nicht habe, lebe ich immer im Gefühl einer Abhängigkeit von der Macht, die über mir steht. Man ist Verfügungsmasse dieser Macht. Wenn dieses System zwei Generationen lang prägt, bestimmt häufig politische Ohnmacht die Mentalität. Diese Hinterlassenschaft ist nicht in zwei oder drei Jahren verschwunden. Das braucht wieder ein oder zwei Generationen – es sei denn, man vollzieht Schritte der Selbstermächtigung und erlernt, sich aktiv einzubringen.

Wie ist es heute? 

Heute gibt uns das Grundgesetz Rechte: Wir dürfen diejenigen wählen, die uns regieren. Wir dürfen sie auch abwählen. Wir haben eine unabhängige Rechtsprechung. Denken Sie nur an eine Instanz, die ich als DDR-Bürger nicht hatte: das Verfassungsgericht. In der DDR konnte man lediglich eine Eingabe machen und darauf hoffen, dass die Mächtigen ein Einsehen haben, dass hier gerade ein Unrecht geschieht. Das war ein völlig anderes Dasein, das Dasein eines Abhängigen. 

Sie haben mal gesagt, Sie seien emotional berührt vom Grundgesetz. Glauben Sie, das geht vielen Menschen in Ostdeutschland so?  

Ja, das glaube ich. Wir sprechen viel zu häufig über die Minderheit, der es anders geht. Etwa ein Drittel der Ostdeutschen fremdelt mit der Demokratie.  Damals in der DDR wurde uns In der Schule, in den Betrieben Unterordnung  beigebracht. Deswegen erwarten so geprägte Menschjen oftmals noch zu viel von „oben“ und halten sich fern von Möglichkeiten der Mitgestaltung. Wer aber Freiheit als Verantwortung begreift, muss aktiv werden. Und findet dank des Grundgesetzes den Raum dafür.

Die ostdeutsche Autorin Anne Rabe spricht bei den Ostdeutschen von “vererbter Brutalität”. Sie sehen eine Prägung zum Gehorsam? 

Wenn man von Kindesbeinen an für eine Gesellschaft der Freiheit und der Eigenverantwortung erzogen wurde, ist das etwas anderes, als wenn man gelernt hat: Pass dich bloß an, damit es dir gut geht und du durchkommst. Ich habe dies Verhalten oft als Angst-Anpassungssyndrom bezeichnet. Das Eigenartige ist, dass es auch so etwas wie eine Weitergabe an spätere Generationen gibt, die das selbst alles gar nicht erlebt haben. Aber das ist eine Übergangsphase. 

Ein Kern des Grundgesetzes ist die Vorstellung der Menschenwürde. Ist das nicht sehr abstrakt?   

Es hört sich abstrakt an, denn es lässt sich schwer begründen. Wir setzen es. Es ist die Frucht eines Denkens, das sich nicht zuletzt auf die Aufklärung stützt. Im Grunde ist es eine Selbstvergewisserung derjenigen, die davon ausgehen, dass kein anderes Lebewesen ein Vernunftwesen ist und ihm deshalb eine besondere Würde zukommt. Ich weiß aber nicht, ob es ohne die Nazi-Barbarei dazu gekommen wäre, dass die Vorstellung, dass allen Menschen die gleichen Rechte zukommen, im Grundgesetz explizit zur verpflichtenden Grundlage unseres politischen Handelns gemacht worden wäre. Es war ja auch eine Folge des Holocaust, dass es 1948 zur Erklärung der Menschenrechte kam und so Menschenwürde und Menschenrechte Eingang nicht nur in die deutsche Verfassung gefunden haben.

Diese Zeit liegt immer weiter zurück. Wie kann diese Vorstellung heute gegen einen wiederaufflammenden völkischen Patriotismus standhalten?  

Die Verfassungspatrioten der Vergangenheit haben es sich selbst schwergemacht. Begriffe wie Heimat und Nation waren verpönt, vor allem seit den 68ern. Mit solchen Worten hat man sich als fortschrittlicher Mensch an den Universitäten lächerlich gemacht. Tatsächlich sind es basale Bedürfnisse von Menschen. Sie wollen verortet sein, nicht im Irgendwo leben, sondern sich unter ihrem Himmel wohlfühlen, in ihrer Sprachfamilie, in ihrer kulturellen Tradition. Das zu belächeln, ist lebensfern und arrogant. Menschen- und fremdenfeindlich hingegen ist es, sein Heimatgefühl mit einem übersteigerten Nationalismus zu verbinden, sich selbst auf- und andere abzuwerten. 

Gibt es einen Mittelweg? 

Unser Bundespräsident spricht von aufgeklärtem Patriotismus. Das ist eine gute Formel. Aber auch ich musste das erst lernen. Ich gehöre zu einer Generation, die nach dem Krieg dieses Land abgelehnt hat, weil es das Land von Menschenfeindlichkeit und Mordtaten  war. Aber es ist ein Unterschied, ob man Nationalist oder Patriot ist.  Johannes Rau hat es einmal so formuliert: „Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, und Nationalist ist jemand, der die Vaterländer anderer verachtet“.

Würden Sie sich heute als Patriot bezeichnen?  

Ich bin Patriot. Erst als ich über 70 Jahre alt war, habe ich allerdings zum ersten Mal das Wort Stolz im Zusammenhang mit meinem Land benutzt. Ich musste so alt werden, um ganz deutlich zu sehen: Auf dieses Deutschland als Hort von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, mit einer rechtstreuen Mehrheitsbevölkerung, auf dieses Land kann man sich verlassen, kann dankbar und tatsächlich auch stolz sein. Da war etwas in mir gewachsen. Ich habe Vertrauen zu diesem Land gewonnen. Vielleicht habe ich deswegen weniger Angst als viele unserer Landsleute. 

Sie sprachen schon von Ihrem Optimismus. Was gibt Ihnen im Jahr 2024 Zuversicht, gerade angesichts starker extremistischer Kräfte wie der AfD?  

Wir sind stärker beieinander, als es manchmal scheint. Wenn wir unser Land mit der Situation in den Vereinigten Staaten vergleichen und auch in Polen, dann sehen wir zwei Lager, zwischen denen Brückenbau schwierig ist. An diesem Punkt sind wir in Deutschland nicht. Aber es gibt eine innere Verunsicherung und einen öffentlichen Umgang miteinander, der in meiner Jugend so nicht vorstellbar war.  

Wie erklären Sie das? 

Wir leben in einer Zeit des Wandels, etwa ein Drittel der Gesellschaft reagiert darauf mit Unbehagen, mit Angst und Aggressivität. Das ist die Zeit für populistische Bewegungen, vor allem für rechtspopulistische. Auch bei uns, die wir Nationalismus eigentlich zu gut kennen, um es erneut damit zu versuchen, ist er wieder eingekehrt. Der Erfolg der Nationalpopulisten ist aber keine deutsche Spezialität. Ihre Zustimmungswerte erklären sich nicht nur durch Bosheit oder Demokratiefeindlichkeit, sondern auch durch die Fremdheit gegenüber einer politischen Moderne, die viele Menschen überfordert. Man darf diese Teile der Bevölkerung daher nicht pauschal verurteilen und als Nazis bezeichnen. Das trifft auf einen Teil zu, aber auf den kleineren. Für die übrigen Menschen braucht es eine Strategie der Rückgewinnung solcher Wähler, die auf wertkonservative Angebote reagieren und auf die Ressentiments der Populisten verzichten können. Hilfreich sind dabei überzeugende Antworten der Regierenden auf die wichtigen Probleme der Gegenwart. 

Sie sprechen sich gegen ein Parteiverbot der AfD aus. Aber resultiert nicht auch aus dem Grundgesetz, dass sich die Demokratie gegen den Aufstieg undemokratischer Kräfte wehren muss?

Ich bin da sehr skeptisch. Die AfD ist nicht die NSDAP. Wir würden in einen jahrelangen Prozess mit unsicherem Ausgang einschwenken. Kann wirklich die ganze Partei als verfassungsfeindlich gelten? Wenn die Richter Nein sagen, würde großes Siegesgeheul bei der Partei ausbrechen. Ich wünsche der AfD aber keinen Sieg, sondern ein baldiges Verschwinden. Aber dafür sollten wir als aktive Bürger sorgen: Anständig wählen und diese politischen Abenteurer mit Argumenten stellen. 

Ein Duell wie das zwischen dem Thüringer CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt und Björn Höcke war also richtig? 

Es war einerseits eine gewisse Aufwertung dieser Partei, Aber die Abgeordneten dieser Partei sind in freien, gleichen und geheimen Wahlen in unsere Parlamente gekommen. Wir sollten sie ernsthaft bekämpfen, aber ihnen Grundrechte nur im Notfall beschneiden. Ich denke, eine offene Auseinandersetzung ist der bessere Weg. Diese rechtsextreme Gruppe hat keine besseren Rezepte und Argumente, sie kann unsere Zukunft nicht sichern. Auch  gilt es, ihre Heuchelei zu entlarven: Sie geben sich so nationalbewusst, dabei paktieren sie mit fremden autokratischen Mächten und empfehlen Unterwerfungsgesten gegenüber dem Kriegsbrandstifter Putin.
Deutschland verändert sich rasant. Der Ausländeranteil hat sich innerhalb weniger Jahre verdoppelt. Ist das gemeinsame Fundament des Landes stark genug dafür? 

Wenn Zuwanderung gelingt, gestaltet das vor allem die demokratische Mitte. Wenn sie nicht gelingt, ist vor allem der rechte Rand verantwortlich.  Es ist unbedingt notwendig, dass die Regulierung von Zuwanderung  umfassend besprochen wird: Wieviel Asylbewerber wollen und können wir aufnehmen? Und wieviel Zuwanderer sind unerlässlich für unseren Arbeitsmarkt? Gemeinsamkeit entsteht, wenn Eingliederung gelingt, vor allem aber über gemeinsame Arbeit. 

Arbeit an was? 
Ich meine es sehr konkret: Wer arbeitet auf den Erdbeer- und Spargelfeldern? Wer pflegt die Großeltern? Wer operiert uns in den Krankenhäusern, entwickelt Impfstoffe? Wer arbeitet als Ingenieur bei Bosch? Fremdheit löst Angst bei denjenigen aus, die sich nicht vertraut machen konnten mit denen, die hinzukamen. Das sehen wir insbesondere in Ostdeutschland. Wir sollten uns daher häufiger bewusst machen, wie oft das Miteinander gelingt. Auch Medien tragen dafür eine Verantwortung. 

CDU-Chef Friedrich Merz hat im vergangenen Jahr den Weihnachtsbaum als Teil deutscher Leitkultur vorgeschlagen. Was müssen diejenigen tun, die zu uns kommen? 

Natürlich muss niemand einen Christbaum aufstellen. Aber wir sollten sie auch nicht plötzlich abbauen und Weihnachtsmärkte nun Wintermärkte nennen. Auch Traditionen halten ein Land zusammen. Wichtiger ist aber, dass Menschen, die hier leben und arbeiten wollen, die Wertebasis teilen, die unser Grundgesetz geschaffen hat. 

Was gehört dazu?  

Als erstes fällt mir ein: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Wer dies aus seiner Tradition anders kennt, von dem dürfen wir eine Anpassung erwarten. Auch dürfen wir die Ablehnung von Antisemitismus und gewalttätigen Auseinandersetzungen erwarten. Darüber müssen wir uns verständigen. Wir müssen aber im Gegenzug auch zeigen, dass wir Zuwanderer als Menschen achten und sie nicht nur als Arbeitskräfte sehen. Wir sollten ihnen deshalb offen und ohne Vorurteile begegnen. 

In diesen Tagen wird heftig über die Schuldenbremse gestritten, die seit 2009 im Grundgesetz steht, damals als Folge der Finanz- und Staatsschuldenkrise. Wie viel Tagespolitik sollte sich im Grundgesetz niederschlagen?   

Ich bin da eher skeptisch. Die Schuldenbremse sehe ich eher als eine Überdehnung des Grundgesetzes. Das Grundgesetz soll die Grundlage unseres Zusammenlebens sein, aber bitte nicht überfrachtet werden. Ich halte solche zusätzlichen Festlegungen im Verfassungstext für problematisch, auch wenn ich auf der Seite derjenigen stehe, die die Schuldenbremse prinzipiell für richtig halten. Ich kann mich aber gleichzeitig den Argumenten nicht verschließen, wonach es in der derzeitigen Krisensituation sinnvoll sein kann, die Schuldenbremse auszusetzen. Insbesondere kann ich mir nicht vorstellen, wie wir mit ihr die unbedingt erforderliche Verteidigungsfähigkeit unseres Landes erreichen wollen.  Das ist aber eine Abwägungsfrage, eine politische Entscheidung, kein Verfassungstext.

 

Das Interview führten: Julius Betschka und Stefanie Witte