Es gibt Geschichten, die verhalten sich wie umgekehrte Scheinriesen. Scheinriesen, das sind – man muss das inzwischen vielleicht doch erklären – Wesen, die von Ferne riesig wirken, aber immer kleiner werden, je näher man ihnen kommt.
Michael Ende hat so einen Scheinriesen erfunden. Herr Tur Tur heißt er, und er leidet sehr darunter. Weil scheinbare Riesenhaftigkeit einsam macht.
Das kennt jeder Chef eines hierarchisch organisierten Unternehmens, wenn er sich noch einen Rest Menschlichkeit bewahrt hat. Aber das nur nebenbei.
Oder vielleicht gerade nicht nebenbei. Weil wir damit schon mitten in der Geschichte sind, die sich wie ein umgekehrter Scheinriese verhält.
Eine sehr deutsche Heldengeschichte
Eigentlich – und so von fern, aus der Erinnerung – ist die Geschichte, man kann sie jetzt in all ihrer Grandiosität im Kino bewundern, eine ganz einfache. Eine Heldengeschichte. Eine sehr deutsche noch dazu.
Von einem Helden mit ungeklärter Herkunft, der auszieht sich selbst zu finden. Was anders nicht geht, als dadurch, dass er seine Wurzeln, seine Heimat, seine Herkunft findet. Eine Abenteuergeschichte. Eine Nummernrevue.
Michael Ende hat sie erfunden. Jim Knopf heißt der Held. Ein schwarzes Baby. Im Postpaket gestrandet auf Lummerland, der Insel mit zwei Bergen, einem komischen König, einem Lokomotivführer, einer Frau namens Waas und einem Extrembürokraten namens Ärmel.
Dass der Anfang von „Jim Knopf und die Wilde 13“ von Nebel bestimmt ist – es gehen vor Lummerland ständig Schiffe zu Bruch, weil sie nichts mehr sehen. Man braucht einen Leuchtturm – ist natürlich auch metaphorisch. Aber auch das nur nebenbei.
Über Meere und Berge bis nach Mandala, bis nach China, ist er mit Lukas, dem Lokomotivführer, und Emma, der Dampflok, gereist in Endes erstem „Jim Knopf“-Buch und in Dennis Gansels erstem Film. Letzterer war mit zwei Millionen Zuschauern der erfolgreichste deutsche Kinofilm 2018 und einer der teuersten zudem.
Auf der Suche nach sich selbst war Jim schon in Teil eins, hat Halbwesen getroffen, Kinder befreit, die wie er waren (nämlich entführt von Piraten, die sich die Wilde 13 nennen). Und hat einen fiesen Drachen überwältigt. Der, wenn er erstmal zum Goldenen Drachen der Weisheit geworden ist, ihm das Rätsel seiner Herkunft preisgeben wird.
Bevor wir jetzt zur eigentlich unverfilmbaren Scheinriesenhaftigkeit von „Jim Knopf und die Wilde 13“ kommen, müssen wir Dirk Ahner würdigen, der hat – den Druck von Millionen Ende-Lesern und fundamentalistischen Augsburger-Puppenkisten-Nostalgikern im Nacken – Endes Roman auf eine schnörkellose, familientaugliche Geschichte reduziert.
Ein Stationendrama mit maximalen Schaueffekten, das Dennis Gansel fast noch überzeugeder als vor zwei Jahren mit geradezu perfider Perfektion in ein Überwältigungskino umgesetzt hat, wie man das von einem deutschen Film fast noch nie gesehen hat.
Ein technisch hochgerüstetes Märchen, dem man trotzdem seine Gemachtheit, die Herkunft aus handwerklich hergestellten Kulissen genauso ansieht wie den Puppenkistenfilmen der Sechziger ihre Klarsichtfolienmeere und die Fadenführung der Figuren.
Was man da sieht auf der Leinwand und was als Familienfilm das beste ist, was man sich in diesem Jahr anschauen kann, ist allerdings gewissermaßen nicht viel mehr als Herr Tur Tur im quasi gesetzlich vorgeschriebenen Corona-Abstand.
Endes fast sechzig Jahre alte Legende vom fremden Kind, das als Gestrandeter unter Fremden aufwächst, beweist vielleicht gerade dadurch seine Überzeitlichkeit, dass Gansel sich so gar nicht darum kümmert, sie hervorzuheben. Sie zu aktualisieren. Einzusteigen in die Rassismusvorwürfe, die gerade auch gegen „Jim Knopf“ laut wurden in den vergangenen Jahren.
Vorwürfe, die sich aus den zugegeben eher problematischen Originalillustrationen und der leicht klischierten Gestaltung des Augsburger-Puppenkisten-Jim herleiteten. Und schon deswegen absurd waren, weil Ende mit seinem Erzählen bewusst gegen die Rassenideologie der Nationalsozialisten anging. Ein Kämpfer gegen die Entzauberung, die schnöde Nutzbarmachung der Welt: das denkbar falsche Opfer der Cancel Culture.
Jim Knopf, der seine geschichtlichen Wurzeln vielleicht in Jemmy Button hatte, dem Feuerländer-Jungen, der mit Charles Darwin fuhr, ist nämlich nicht nur ein Fremder, der in der Fremde glücklich wird, eine Heimat findet, ohne dass er das merkt.
Er ist ein Fremder unter Fremden, die einander selbst fremd sind. Die sich selbst die Frage ihrer Herkunft stellen müssten.
Wie kam Lukas nach Lummerland?
Weiß jemand etwas über die Dynastie von Alfons dem Viertelvorzwölften? Wie Frau Waas auf Lummerland strandete oder Herr Ärmel? Wie Lukas mit seiner Lok auf die Insel kam?
Lummerland ist ein Spiegel des identitätsvergessenen Deutschlands der Sechziger und des identitätssuchenden Deutschlands von heute.
Weil wir nicht nur wie die Lummerländer sind. Sondern auch wie die Piraten. Die Wilde 13, die nur zwölf sind. Alle gleich. Alle mit nicht mehr an Identität als einem Buchstaben.
Piraten, denen Jim, der selbst ziemlich zufällig zu seinem Namen kam, in der vielleicht schönsten Szene Namen gibt. Und damit ein Leben, ein Wesen schenkt.
Ein Ort, an dem man glücklich ist
So geht das weiter. Hinter jedem Spektakel öffnet sich die nächste Tür zum Verständnis der Geschichte, der Gegenwart, der Welt.
Und am Ende, das ist vielleicht das Tröstlichste für alle, die sich vertrieben fühlen oder bedroht von Fremden oder die geflüchtet sind, am Ende gibt es für alle einen Ort, an dem sie glücklich werden.
Das ist, so klein die Geschichte anfangs auch daherkommen mag, schon ziemlich groß. Geradezu riesenhaft groß.