Jean-Claude Juncker: „Europa sollte Zufluchtsort statt Festung sein“
  1. Startseite
  2. Politik

Jean-Claude Juncker: „Europa sollte Zufluchtsort statt Festung sein“

KommentareDrucken

Der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verteidigt die europäischen Werte und warnt die Parteien der Mitte davor, „rechtsextreme Sprüche nachzuäffen“.

Er war jahrzehntelang eine der großen Figuren der europäischen Politik: Als Präsident der EU-Kommission prägte Jean-Claude Juncker einen Staatenverbund, der sich einerseits auf gewisse Werte geeinigt hat, die aber längst nicht mehr von allen Mitgliedern geteilt werden, wie Juncker im Gespräch mit IPPEN.MEDIA sagt – vor allem in einer Frage.

Herr Juncker, acht von zehn Europäerinnen und Europäer sind einer Umfrage zufolge der Meinung, dass Wahlen immer wichtiger werden. Was gibt Ihnen Hoffnung, dass all diese Menschen im Juni auch zur Europawahl gehen?

Die Europäer haben ein Feingefühl dafür entwickelt, dass wir eine geschlossene und stärkere Europäische Union brauchen. Wegen der geopolitischen Wirrnisse, die wir derzeit erleben, wird sich dieses Umfrageergebnis auch in der Wahlbeteiligung widerspiegeln. Da bin ich ganz sicher.

Spüren Sie angesichts all der Kriege und Krisen einen gewissen Abstumpfungseffekt in der Bevölkerung?

Die Gefahr bestand. Ich hoffe aber, dass wir über diese Phase hinaus sind. Die Umfrage, die Sie zitieren, gibt jedenfalls Anlass zur Hoffnung, dass die Menschen in Europa verstehen, was die Stunde geschlagen hat. Die Gefahr von Rechts muss gestoppt werden. Wir sind ja mittlerweile so weit, dass gestandene europäische Parteienfamilien nachplappern, was die extreme Rechte an kruden Gedanken einbringt. Als Europäer müssen wir uns dem entschieden entgegenstellen.

Jean-Claude Juncker bei seiner Abschiedsrede 2019 im Europäischen Parlament.
Jean-Claude Juncker bei seiner Abschiedsrede 2019 im Europäischen Parlament. © picture alliance/dpa | Philipp von Ditfurth

In Deutschland machen sich die Parteien der demokratischen Mitte wechselseitig haftbar für den Höhenflug der AfD. Hat die Europawahl angesichts des europaweiten Rechtsrucks eine größere Bedeutung als vorherige Wahlen?

Es gehört ja zu den üblichen Politikersprüchen, dass man sagt, dass die folgende Wahl die wichtigste sei. Aber dieses Mal trifft das wirklich zu. Die extremen Kräfte müssen eingehegt werden. Ich glaube nicht, dass unsere grundlegenden europäischen Werte wie Freiheit und Rechtsstaatlichkeit mit einer Wahl weggeschwemmt werden. Allerdings warne ich davor, rechtsextreme Sprüche nachzuäffen.

Wen haben Sie im Sinn?

Nun, ich habe vor allem Viktor Orbán (Ministerpräsident von Ungarn, Anm. d. Red.) in Erinnerung, der sagt: „We must occupy Brussels“, wir müssen Brüssel besetzen, um die Europäische Union zu verändern.

Juncker über Ungarns Regierungschef: „Wir haben Orbán immer wieder gewarnt“

Die EU versteht sich wie die Nato als eine „Wertegemeinschaft“. Werden die maßgeblichen europäischen Werte von allen Mitgliedern geteilt?

Ich habe da einige Zweifel, gerade was Ungarn anbelangt. Aber generell gilt, dass die Europäer mit dem Begriff der wehrhaften Demokratie etwas anzufangen wissen – und eben nicht die Ränder stärken werden.

Glauben Sie, dass Sie als Präsident der Europäischen Kommission immer angemessen mit Orbán umgegangen sind?

Wir waren stets geduldig und sind in kontroversen Verhandlungen immer wieder auf Ungarn zugegangen. Gleichzeitig haben wir Orbán immer wieder gewarnt, dass er es mit seinem Populismus nicht übertreiben sollte. Mit seiner Haltung zu Fragen, die den Kern unserer europäischen Werte berühren, waren wir häufig nicht einverstanden.

Zu den größten Kritikpunkten auch gemäßigter Regierungschefs gehört die Migrationspolitik. Was hat die EU an dieser Stelle versäumt?

Nicht die EU hat etwas versäumt. Meine Kommission hat 2015 weitreichende Begradigungsvorschläge zur Migration vorgebracht, um Ordnung hineinzubringen. Diese Beschlüsse wurden von einigen Mitgliedstaaten aber nicht umgesetzt. Die Staats- und Regierungschefs haben in der Migrationskrise große Fehler gemacht.

„In der EU-Kommission wurde Merkels Willkommenskultur ausnahmslos geteilt“

Wer genau hat welche Fehler gemacht?

Ich meine die Mitgliedstaaten, die zu solidarischem Handeln nicht bereit waren. Der grundsätzliche Fehler lag in der falschen Analyse, die Migrationsproblematik beträfe nur einige Länder und nicht die gesamte Europäische Union. Mir hat die deutsche Haltung in dieser Zeit imponiert. In der EU-Kommission wurde die Willkommenskultur und Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ ausnahmslos geteilt.

Über die Jahre hat es in der CDU einige Absetzbewegungen gegeben.

In der Migrationskrise kann ich keine gravierenden Fehler erkennen. Was die Deutschen 2015 und 2016 für sich entschieden haben, halte ich nach wie vor für zielorientiert und moralisch gerechtfertigt. Ich habe die deutsche Haltung bewundert. Ich werde nie vergessen, wie die deutsche Zivilgesellschaft angesichts der zunehmenden Flüchtlingsbewegungen solidarisch gehandelt hat.

Mit Blick auf die noch immer hohen Migrationszahlen wird häufig vorgebracht, man könne nicht allen helfen. Was fangen Sie mit solch einem Satz an?

Ich finde ihn richtig. Der Vorstellung, dass Europa alles Leid der Welt humanitär regeln könnte, kann ich nicht anhängen. Es gibt gute Gründe, sein Glück woanders zu suchen. Wir können aber nicht alle Wirtschaftsflüchtlinge in Europa aufnehmen. Das schaffen wir nicht. Europa darf jedoch auch keine Festung werden. Europa muss ein Zufluchtsort für politisch Verfolgte bleiben.

Auch interessant

Kommentare