Jean Asselborn: Der Minister im Rennradsattel | TOUR

Jean AsselbornDer Minister im Rennradsattel

Tim Farin

 · 26.11.2021

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Foto: Christoph Papsch
Der Luxemburger Jean Asselborn ist der am längsten amtierende Außenminister in der EU – und der Spitzenpolitiker mit den meisten Rennradkilometern. Für TOUR nahm sich der leidenschaftliche Europapolitiker und Radsportler Zeit für eine gemeinsame Runde in seiner Heimat.

Die Nachrichtenlage ist dramatisch in diesem Spätsommer, für die internationale Politik steht enorm viel auf dem Spiel. Im schwelenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine geht es auch um geopolitische Konsequenzen weit über die Region hinaus. Und in Afghanistan folgt auf den Umsturz die humanitäre Katastrophe. Sie führt in Europa mal wieder zum Streit über den Umgang mit Flüchtlingen. Für den am längsten amtierenden Außenminister der Europäischen Union türmen sich die Aufgaben – doch diesen einen Termin möchte er unbedingt wahrnehmen. „Ich bin zwar ausgelaugt“, sagt Jean Asselborn an einem Sonntagmorgen im August am Telefon, „aber wir machen das, das ist jetzt wichtig.“

„Das“ ist eine gemeinsame Rennradtour, zu der ich mit dem luxemburgischen Außenminister verabredet bin. Der Spitzenpolitiker hat Lust und offenbar auch das große Bedürfnis, sich nicht nur aufs Rad zu setzen – sondern daraus auch eine Geschichte zu machen, die ihn bei seinem liebsten Hobby porträtiert. Ein paar Tage vor dem Termin hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seinen luxemburgischen Freund in einem Interview als den besonders sportbegeisterten Spitzenpolitiker hervorgehoben. In jedem Fall ist der 72-Jährige ein Unikat: Wer sonst verbindet so viele politische Akzente mit aktivem Radsport?

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Kiew, Brüssel, Bonn. Es ist nicht einfach, im Terminkalender des Außenministers eine Lücke zu finden. Noch schwieriger aber gestaltet es sich, eine Regenlücke in der Wettervorhersage auszumachen. Es ist nicht so, dass Jean Asselborn nur bei Sonne fahren würde. Wie wäre er sonst auf die gut 9.000 Kilometer gekommen, die er in den ersten knapp acht Monaten des Jahres auf seinem Garmin gesammelt hat? Aber er ist medialer Vollprofi und weiß, dass nicht nur das innere Erlebnis zählt, sondern auch die äußeren Bilder, die entstehen. Außerdem ist es einfach viel schöner in der lieblichen Hügellandschaft Luxemburgs, die Asselborn seinen Besuchern gern zeigen möchte. „Ich glaube, wir haben hier im Eischtal und der Umgebung einige der schönsten Radstrecken in ganz Europa.“

Das geputzte Rad steht bereit

Als der Tag für die gemeinsame Ausfahrt gekommen ist, scheint der Minister es kaum erwarten zu können. Der Termin ist für 11 Uhr ausgemacht, die Anfahrt dauert wegen des Verkehrschaos im flutgeschädigten deutschen Westen sechs Minuten länger – aber schon um 11.04 Uhr schickt er eine Kurznachricht, ob alles klargehe. Als wir ankommen, schaut der Minister bereits aus dem Fenster im Obergeschoss seines Hauses in der Kleinstadt Steinfort, ein stattliches Gebäude aus den 1990er-Jahren, die Garage steht offen, das geputzte schwarz-rote Rennrad bereit. Asselborn pfeift, er kommt nach unten, begrüßt die Besucher mit sportlicher Corona-Faust. Es ist ein Termin, den er mit positiver Energie angeht. Eine schöne Abwechslung von allem, was er sonst unter Hochdruck betreibt. Gerade eben hat er noch ein langes Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ beendet – das sei hart gewesen, stöhnt der Routinier. Wie so oft ging es um Flüchtlinge, diesmal aus Kabul, Asselborn kämpft für ihre Aufnahme in der Europäischen Union, wie schon seit vielen Jahren. Aber er weiß, dass dieser Kampf schwierig ist, vielleicht nicht zu gewinnen.

Fit fürs Amt

Kaffee im Wohnzimmer, ein lockerer Plausch zum Warmwerden. Asselborn trägt schon Radschuhe, überm Trikot hat er eine rote Sportjacke an. Als ich das Wort „Masochismus“ in den Mund nehme, um eine Eigenschaft von Radsportlern zu beschreiben, lacht der Politiker. Die Fähigkeit und sogar der Wunsch zu leiden, gehört für viele Radler zum Hobby, zumindest an besonderen Tagen, und auch der Minister kennt das. Aber der Sport entspannt ihn auch. „Um dieses Amt zu machen, muss man physisch fit sein, man muss einen Ausgleich finden. Oft schläft man schlecht. Daher sollte man auch nicht viel Alkohol trinken“, sagt er. Sein Geheimrezept, um den Stoffwechsel nach dem Aufstehen zu unterstützen: Wasser mit Apfelessig und Honig – oder seit Neuestem das französische Milchprodukt Faisselle, eine Art Frischkäse, mit Honig. Das tue ihm gut, sagt er. Und ebenso gut tun ihm die Radeinheiten, wenn er aus dem Flieger steigt.

Der Sport, das betont er stets, bedeutet ihm viel. Als Kind ließ er sich von französischsprachigen Radioreportagen der Tour de France verzaubern, fieberte mit dem luxemburgischen Tour-Sieger Charly Gaul. Im Laufe der Jahre knüpfte er enge Bande zu Profis aus seinem Land, vor allem mit Andy Schleck ist er verbunden. Es gibt ein Foto im Keller der Asselborns, aufgenommen in Palma de Mallorca, das die beiden zeigt. Der Politiker setzte sich beim damaligen französischen Präsidenten François Hollande so lange ein, bis Andy Schleck Ende 2014 endlich die Porzellanvase ausgehändigt bekam, die Tour-de-France-Sieger traditionell erhalten. Schleck war nach der Disqualifikation von Alberto Contador auf den ersten Platz des Tour-Podiums von 2010 gerückt, doch der Spanier hatte die Vase nicht herausgegeben.

Gemeinsame Radtouren bekommen die beiden berühmten Landsmänner bisher nicht zustande. Generell fährt der Außenminister etwa drei Viertel seiner Strecken alleine, aber es gibt auch feste Radkollegen. Manchmal kommt er mit zwei Männern aus seiner Nähe zusammen, manchmal verabredet er sich mit einem Freund, man trifft sich dann auf halber Strecke. Aber Asselborns voller Terminkalender mit vielen Reisen lässt oft nur spontane Touren zu, wenn es gerade passt.

„Wenn ich nicht mehr Rad fahren kann, ist der Ofen aus“, wird Asselborn in seiner Biografie „Merde Alors!“ zitiert. Aber ist es angemessen, sich in einer so dramatischen Weltlage aufs Rad zu schwingen? Müsste der Minister nicht nur über ernste Themen nachdenken? „Da geht der Mensch kaputt“, flüstert er, dann sagt er lauter: „Die, die nur Politik im Kopf haben, drehen sich im Kreis.“ Ihm biete der Sport Ausgleich, Regeneration, die Möglichkeit zur neuen Konzentration.

Aufsteiger aus dem Arbeitermilieu

Asselborn spricht mit Stolz über seinen Werdegang – eine Laufbahn, die zu den Mühen des Radsports passt. Er verließ die Schule früh, arbeitete in der Reifenfabrik Uniroyal, bald darauf als Beamter in Luxemburg und dann in seiner Heimatgemeinde Steinfort, wo er später auch Bürgermeister war. Nebenher paukte er, bis er als 27-Jähriger die Hochschulreife hatte, studierte danach Zivilprozessrecht im französischen Nancy. Asselborn ist ein glaubhafter Vertreter der klassischen Sozialdemokratie, ein Aufsteiger mit Wurzeln im Arbeitermilieu.

Das Rennradfahren entdeckte er allerdings recht spät für sich: 1994 während der Koalitionsverhandlungen mit den luxemburgischen Christdemokraten kam ihm die Einsicht: „Ich dachte, dass ich nur noch sitzen, sitzen, sitzen werde. Dagegen wollte ich etwas machen“, erinnert sich der Politiker. Erst fuhr er mit dem Mountainbike einer seiner beiden Töchter, doch schon 1995 hatte er ein Rennrad – und unternahm gleich seine erste Fernfahrt im Sommer: Von Luxemburg ging es nach Fréjus in den französischen Alpen. Es war der Auftakt einer bemerkenswerten sportlichen Laufbahn.

Wir haben Glück mit dem Wetter, die Sonne kommt sogar durch und scheint auf Asselborns strahlend gelbe Windjacke. Seine Haut ist braun gebrannt, seine Beine beachtlich definiert. Es ist nur eine gute Woche her, dass Asselborn seine alljährliche Sommertour mit dem Rennrad beendet hat. Am Lenker seines Aero-Rennrads zeugt noch die Halterung einer Tasche vom Abenteuer – und weckt die Erinnerung an tägliche Updates, die der Minister an etwa 2.000 Menschen über Facebook geschickt hat. Gute 1.000 Kilometer hat er, größtenteils alleine, durch Frankreich zurückgelegt. Seit gut zwei Jahrzehnten macht Asselborn solche Touren Jahr für Jahr, auch wenn er zwischendurch mal in politischen Krisen einspringen und die Fahrt unterbrechen oder ein gestohlenes Rennrad ersetzen lassen musste. „Diese Fahrt im Sommer ist der Höhepunkt, auf den ich mich am meisten freue. Aber das heißt auch, dass ich das ganze Jahr durchfahren muss.“

Wir radeln im gemächlichen Tempo vor seinem Haus los, zwischen Äckern hindurch, hinab ins „Tal der sieben Schlösser“ – und plaudern ohne Pause. Es ist ein Mix aus Fragen und Erzählungen in beide Richtungen, viel Sport, Privates, aber auch ernste Themen – und auch wenn Asselborn ein fröhliches Gemüt zeigt, seine Aussagen sind ungeschönt und ungefiltert. Er sorgt sich um die alten Werte jenes Europas, für das er öffentlich so laut kämpft – gegen Österreichs Regierung, aber vor allem gegen die Machthaber in Polen und Ungarn. Es ist erstaunlich, so ganz ohne Filter und ohne Personenschutz ein paar Stunden neben einem europäischen Regierungsmitglied auf dem Rad zu sitzen. In Deutschland oder Frankreich wäre das undenkbar. Die Verhältnisse sind anders hier im Großherzogtum Luxemburg. „Ich habe mehr Freiheit in der Bewegung und in der Aussage“, sagt der Politiker. Nur einmal, als der damalige US-Außenminister John Kerry, selbst begeisterter Rennradler, 2016 hier im Westen Luxemburgs eine Runde mit Asselborn drehte, war das Sicherheitsaufgebot erheblich.

Demut durch Rennradfahren

Am Château d’Ansembourg pausieren wir für einen Blick auf das historische Gemäuer und für Fotos. Der Minister schaut auf sein Handy. Ein fernöstlicher Diplomat hat Interesse an überzähligen Impfdosen bekundet, Asselborn ruft einen Kollegen an, ein paar Sätze später ist das Thema in Gang gebracht. Dann blickt er noch in die E-Mails – und schon kann es weitergehen. Heute ist es nur eine gemächliche Tour, wir biegen hin und wieder mal in einen kurzen Anstieg ein. „Wenn Sie wollen, können Sie hier aber ganz schnell die Höhenmeter vom Ventoux zusammenbekommen“, sagt Asselborn. Es ist keine zwei Wochen her, dass er wieder den Mont Ventoux hochgefahren ist, wie jedes Jahr im Sommer, er hatte Glück, der starke Wind kam erst am folgenden Tag. Der Berg zieht ihn an, die Erfahrung mit dem Rennrad dort ist ihm besonders wichtig. „Man sieht da, wie klein man ist. Und jedes Jahr wird man kleiner“, sagt Asselborn. Es ist die Demut, die Rennradfahrer vor dem Pass erleben, ein Gefühl, das Asselborn besonders oft anspricht. Man hinterfrage sich zwangsläufig selbst als Rennradfahrer, glaubt er.

Jean Asselborn kann sich kein Leben ohne diesen Sport mehr vorstellen. Oft, so erzählt er, kommen ihm auf dem Rad die entscheidenden Ideen für eine Rede, einen politischen Vorschlag. Er lernt, seine eigene Zähigkeit zu erkennen, trainiert das Durchhalten. Und er genießt die Zeit an der frischen Luft. „Ich brauche den Sauerstoff, deswegen fahre ich auch bei Regen und manchmal sogar bei Schnee, auch wenn es nur eine kurze Runde ist.“ Wenn er aus dem Flieger steigt, es eine Lücke im Kalender gibt, ein paar Tage frei sind: Asselborn tritt in die Pedale, sammelt Kilometer, atmet durch. Selten habe ich bei Terminen mit Prominenten das Gefühl, dass ausreichend Zeit ist. Aber hier, an diesem Donnerstag in Luxemburg, scheint der Minister sich alle Zeit der Welt zu nehmen.

Irgendwann muss dann aber doch Schluss sein. Jean Asselborn hat sein Rad in die Garage gebracht, vorbei an zwei gerahmten Zeitungs-Karikaturen von ihm als Rennradfreak, und sich wieder mit energischer Corona-Faust verabschiedet. Auf der Rückfahrt höre ich im Autoradio die Meldung von Explosionen am Flughafen in Kabul. Es ist eine internationale Krise von enormen Dimensionen. Wenige Tage später schickt Asselborn eine Nachricht aus Brüssel, wo er beim Ministerrat seine Forderungen vertritt. Er bedankt sich für den schönen gemeinsamen Radtag. Der „Kampf“ mit den Innenministern der EU, schreibt er, verlange ihm mehr ab als drei Ventoux. „Muss da durch“, schreibt Asselborn. Wie das geht, hat er ja auf dem Rennradsattel oft genug erfahren.

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