Einen Nachruf soll ich schreiben? Auf dich, Tobias, meinen besten und ältesten Freund? So einen bedächtigen Text, wohlgesetzte Worte des Abschieds? Mit dem ich dein Leben noch mal angemessen würdige, auf unsere gemeinsamen Jahrzehnte zurückblicke und meine Trauer über deinen Knall und Fall über dich und mich hereingebrochenen Tod ausdrücke?
Das kann ich nicht, das geht nicht, meen Kleena, du bist ja noch da! Du sitzt ja noch hier in unserer Küche, wie am Tag vor deinem 60. Geburtstag, den du auf gar keinen Fall feiern wolltest, und der daraufhin beleidigt beschloss, dein letzter zu werden. Du schlenkertest ja noch hier durch die Räume und erzähltest Anna und mir von deinem Umzug, weil dein Vermieter deine Wohnung für sich braucht.
Wie schwer dir der Abschied von der Knaackstraße fällt nach 30 Jahren, von den netten Leuten in deinem Haus, die so lange deine Nachbarn waren. Von neuen und alten Möbeln. Von der ewigen Pandemiekacke, die kein Ende nimmt. Von neuen Büchern und neuen Filmen und Gott und der Welt.
„Watt macht’n ihr zu Weihnachten?“
„Na Family. Und du?“
Jan Josef Liefers: Unsere Väter ließen uns nicht los
„Weeß noch nich, wir werden uns wieder mit Luki bei meena Mutta treffen.“
Deine Family, das waren für mich immer dein Bruder Lukas und deine Mutter Hedi. Komischerweise dachte ich nicht auch an Thomas, deinen Vater, den berühmten Theaterregisseur. Dabei ist das ein verdammt neuralgischer Punkt und sicher eins der stärksten Bänder unserer Freundschaft: unsere Väter und wir. Beide leben schon lange nicht mehr, aber die lassen uns und wir lassen die irgendwie nicht los. Auch am Sonntag kommen wir wieder auf die beiden zu sprechen, beim Spazierengehen draußen im nahen Park, als die Hunde raus müssen. Da hab ich dir ein Geheimnis verraten, etwas, das nur ein einziger Mensch außer dir kennt. Jetzt bin ich froh, dass ich das gemacht habe und noch mal dein Verständnis, deine Verbundenheit spüren konnte, da waren wir uns richtig nah.
Meistgelesene Artikel
Ich will was Großes von dir erzählen. Damit alle, die das hier lesen und dich nicht kennen, was Relevantes von dir erfahren. Wenigstens das Nötigste. Wenigstens so viel, dass sie denken: „Ach schade Mensch, da hat’s ja mal wieder den Falschen erwischt, da musste ja wohl mal wieder einer von den Guten gehen, von denen es immer zu wenige gibt, die wir so gut brauchen können, die immer fehlen.“ Und dass die dann auch ein bisschen traurig werden, dass du nicht mehr da bist. Vielleicht bin ich nicht gut genug als Schreiberling, das hinzukriegen. Vielleicht muss das einer der Schriftsteller und Autorinnen machen, die du so toll fandest, die du so liebtest wie die gesamte Literatur.
Erster Tag Schauspielschule Ernst Busch in Schöneweide 1983. Wir sind das erste Studienjahr, das von Anfang an in dem ungemütlichen Neubau studieren soll. Von außen ist es immer noch eine Baustelle. Ein Haufen junger Leute sammelt sich im Foyer. Einige werden – wie wir beide – viele Jahre später hauptsächlich durch Filmemachen ihren Lebensunterhalt verdienen, was uns im Nachhinein den spöttischen Spitznamen „Hollywood-Studienjahr“ einhandelte.
Indoor-Rauchen war damals kein Problem, also wurde ordentlich geraucht. Cabinet, F6, Juwel 72, seltener Club oder für die ganz Harten Karo. Zwei Typen stehen dort am Rand und qualmen Tabakspfeifen. Das war damals bereits eher ein seltener Anblick. Der eine war ich, der andere warst du, Tobias. Gelber Prestige, der roch gemütlich nach Vanille, den kriegte man nicht immer, und der schmeckte besser als der braune. Das erste gemeinsame Fachgespräch darüber brauchte nur wenige Worte, bis die erste Gemeinsamkeit ausgemacht war. Es folgten noch unzählige mehr: dass wir beide aus Theaterfamilien stammten, dass wir Filme liebten, Berliner Pilsner Spezial, gutes Theater, gutes Essen. Und so kam immer mehr dazu, auch unser Freund Axel, der Dritte im Bunde. Wir wurden während des Studiums und in unseren ersten drei Jahren am Deutschen Theater dermaßen symbiotisch, dass einige überzeugt waren, wir wären ein schwules Paar. Du hast mir grinsend erzählt, dass sogar dein Vater das mal in den Ring warf. Wir haben einfach immer alles zusammen gemacht. Alles, außer schlafen.
„Wir haben am 4. November 1989 Reden auf dem Alex gehalten“
Das hast du in der Hagenauer erledigt, ich in der Gleim. Wir haben Dieter Mann, dem Intendanten, gegen seinen Willen die Baracke als Spielstätte abgerungen und mit „Der stumme Diener“ von Harold Pinter eröffnet, lange bevor Ostermeier die kleine Bühne berühmt machte. Wir haben zusammen „Lenz“ von Georg Büchner am BAT in der Belforter Straße und sogar im Moskauer Künstlertheater gespielt und auf der Demo am 4. November Reden gehalten.
Wir waren zusammen, als die Mauer fiel und sind dann mit dem Fahrrad von Vancouver nach Los Angeles gefahren. Two guys like us can easily go one hundred and twenty miles a day! Wir haben uns am ersten Tag verloren und am dritten zufällig in der Pampa wiedergefunden. Wir hatten nur eine Matte und einen Schlafsack dabei, nicht mal ein Zelt. Haben zum Abendbrot Bier getrunken, am Pazifik in den Dünen gepennt und sind jeden Morgen klitschnass vom Tau aufgewacht. Wir haben in Oregon mit einem ausgewachsenen Bären gefrühstückt, und du hast vor Schreck dabei deine Kamera geschrottet. Und dann bist du nach Wien ans Burgtheater gegangen und ich ans Thalia nach Hamburg.
Das fanden einige sehr gut und wirklich an der Zeit, dass wir endlich mal ohne einander klarkommen. Mir scheint es heute so, als wäre das keine gute Idee gewesen. Hier würde ich gerne noch mal hin, zu diesem Moment. Als wir uns das nächste Mal wiedersahen, war aus dir ein anderer Typ geworden, ein ehrgeiziger Sportler, ein Marathonläufer. Du sahst ganz anders aus, kaum wiederzuerkennen. Dünn und sehnig. Hast nur noch trainiert, wie ein Profi.
Ich fand das gut, war auf deiner Seite, wie immer. Aber mir ist auch der Schreck in die Glieder gefahren. Was war denn nur passiert? Hast du dir etwas gesucht, bei dem niemand, der dich von früher kannte, dir das Wasser reichen konnte? Etwas, bei dem jedweder Vergleich mit anderen ins Leere lief? Oder war das einfach nur überbordende Begeisterung für den Laufsport?
Du wurdest der schnellste Amateur, den ich kannte. Und es ging dir richtig gut damit. Für deinen besten Berlin-Marathon brauchtest du zweieinhalb Stunden. Kaum warst du raus aus der Zielzone, hast du dir noch in Laufklamotten ein Pfeifchen angesteckt, die anderen Läufer haben dich angeguckt, als wärst du ein Alien. Das war schon cool.
Mit Disziplin und Konsequenz und Hingabe wurde aus dir „Marathonmann“. Egal, was wir früher alles an Sport zusammen gemacht hatten, jetzt warst du in einer eigenen Liga. Ich und andere um dich herum haben das bewundert. Und irgendwann mischte sich da Sorge hinein, Sorge um den Freund, dessen Körper immer weniger wurde, aber dessen Herz, Liebe, Zuneigung, Hilfsbereitschaft gleich groß blieben, sogar wuchsen.
Es muss diesen Punkt gegeben haben, von dem an es keine Hilfe mehr gibt
Etwas war entglitten. Dir selber und uns anderen, deinen Freunden, deiner Familie. Aber vor allem dir. Du hast uns beruhigt, alles erklärt und wolltest lange, dass wir dich einfach nur so akzeptieren, wie du bist. Und klar, das haben wir. Dann muss es diesen unsichtbaren Punkt gegeben haben, von dem an es keine Hilfe mehr gibt. Kein Arzt, kein Therapeut, kein Bruder und leider auch kein bester Freund konnten dich retten. So vielen anderen hast du geholfen, dir selber konntest du nicht helfen. Und niemand sonst konnte es.
Das will mir nicht in den Kopf! Das macht mich fertig. Als du dich am Sonntagnachmittag von Anna, Lilly, Lola und mir verabschiedet hast, haben wir uns in den Arm genommen, ich hab dich dabei kurz angehoben, wie eigentlich immer. Du Haut- und Knochenmann hast zu mir gesagt: „Mir geht’s eigentlich ganz gut, mein Kleener. Wirklich!“ Famous last words. Dann bist du auf dein Rad gestiegen und losgefahren.
Am nächsten Tag, dem Montag, deinem Geburtstag, wollten wir dich in der neuen Wohnung besuchen, wir haben dir morgens ein Geburtstagslied geschickt, aber du hast dich nicht zurückgemeldet.
Tell me why I don’t like Mondays!
„Ich versuche mir vorzustellen, wie dein letzter Morgen gewesen sein mag“
Deine Atze und deine Mama haben dich gefunden. Seitdem denke ich ununterbrochen an die beiden, an diesen tieftraurigen Moment der Wahrheit. Ich versuche mir vorzustellen, wie dein letzter Morgen gewesen sein mag. Dein karges Frühstück, für das dir dann keine Zeit mehr blieb. Wann hast du dich eigentlich entschieden, dein Leben allein zu verbringen, keine Frau, keine Kinder?
„Ich hab tolle Freunde, hab großartige Menschen um mich, wenn ich will“, hast du immer gesagt. „Zu Hause geht’s mir am besten, wenn ich ungestört meinen Stiefel machen kann.“ In dieser Sache waren wir immer ungleich. Ich hab so gut wie nie allein gelebt. Du warst und bleibst ja sowieso immer Teil meiner Familie. Das war schon so, als wir als Studenten zu meiner Oma Hilde nach Dresden fuhren, die uns durchgefüttert hat mit ihrem sensationellen Sauerbraten, Rotkohl und Klößen.
In den letzten Jahren hab ich dich nicht mehr essen sehen. Doch! Am letzten Sonntag! Da hast du dir einen Weihnachtskeks genommen, mir grinsend vor die Nase gehalten und ihn aufgegessen. Unser letzter gemeinsamer Tag war richtig gut. Richtig rundum schön. Das ist ein Trost. Und wer bis hierher gelesen hat und sich immer noch fragt, wer dieser Tobias Langhoff eigentlich war, dem sei gesagt, dass er ein Schauspieler war, der am Theater und in vielen guten Filmen gespielt hat. Ein Schauspieler von großer Eigenart, besonderem Talent und hoher Sensibilität. Einer der freundlichsten, empathischsten Kollegen, ein äußerst belesener Mann, ein geduldiger und nachdenklicher Gesprächspartner, ein neugieriger Junge, ein seltsamer Vogel, ein humorvoller Kerl mit ansteckendem Lachen, ein Schlaukopf und mein bester Freund.
Und wer Tobi zum Freund hatte, der hat es richtig gut getroffen. Das waren einige außer mir. Von nun an werden wir dich zusammen vermissen und erfüllt von Dank und Freude für den Rest unserer Tage an dich denken. Und so lebst du einfach weiter. Also pfeif auf einen Nachruf, den soll sonst wer schreiben! Denn du bist immer da, wenn ich will. Dann gehen wir zusammen mit dem Hund, fahren noch mal nach Ushuaia oder in die Kulturbrauerei oder quatschen über einen tollen Film oder ein schönes Buch, trinken dazu eine dieser exotischen Biersorten, die du immer im Kühlschrank hattest. Und jetzt suche ich im Keller irgendwo meine alten Pfeifen und stopfe mir eine und rauch’ die nach über zehn Jahren wieder.
Wie damals im Foyer der Schauspielschule.
Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de