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Geschichte KZ Sachsenhausen 1943

Wie Stalins Sohn wirklich starb

Um das Ende Jakow Dschugaschwillis, dem Sohn Stalins, im KZ Sachsenhausen ranken sich Legenden. Jetzt zeigt eine Akte, warum die Aufarbeitung des Falls nach 1945 zum Lehrstück über den Umgang mit ehemaligen SS-Wärtern geriet.
Leitender Redakteur Geschichte
Jakow Dschugaschwilli (1907–1943), Stalins ältester Sohn, im Jahr 1941 Jakow Dschugaschwilli (1907–1943), Stalins ältester Sohn, im Jahr 1941
Jakow Dschugaschwilli (1907–1943), Stalins ältester Sohn, im Jahr 1941
Quelle: Wikimedia / Public Domain

Die Sonne ist gerade untergegangen, die Dämmerung über dem Vorort von Berlin weicht allmählich der Dunkelheit. Es ist kurz nach 20 Uhr an diesem 14. April 1943, einem Mittwoch, als es im „Sonderlager A“ an der Spitze des KZ Sachsenhausen in Oranienburg zu einem Wortwechsel zwischen einem Gefangenen und einem SS-Mann kommt. Sekunden später hängt der KZ-Häftling tot im Stacheldrahtzaun; in seinem Kopf steckt eine Kugel.

Der 36-Jährige war nur eines von mehr als 30.000 Opfern des Konzentrationslagers nördlich der Reichshauptstadt; der Tod war hier alltäglich. Dennoch ist dieser Fall besonders. Denn nicht nur untersuchten bundesdeutsche Staatsanwälte gerade diesen Tathergang detailliert, um eine Anklage vorzubereiten. Sogar die SS selbst hatte schon am 15. April 1943 hochrangige Ermittler geschickt, die Spuren sicherten und Zeugen befragten: an einem Ort des dauernden gewollten Sterbens wie Sachsenhausen mehr als ungewöhnlich.

Das lag an der Person, deren Leben gewaltsam geendet hatte: Jakow Dschugaschwilli, geboren 1907, war der älteste Sohn von Josef Dschugaschwilli, besser bekannt unter seinem Kampfnamen „Stalin“, dem Herrscher über die Sowjetunion. Seines Vaters wegen war der am 16. Juli 1941 bei Witebsk gefangen genommene Artillerie-Oberleutnant auch nicht wie viele andere Rotarmisten dem Verhungern ausgeliefert oder in einer Massenerschießungsaktion ermordet worden. Vielmehr saß er zusammen mit vier britischen Gefangenen in einem Sonderbereich am Rande des KZ Sachsenhausen – gedacht als Faustpfand. Im Gegensatz zu den Häftlingen im Hauptlager sollte sein Leben unbedingt geschützt werden.

25 Jahre später war Stalins Sohn wieder Thema, diesmal ging er anlässlich der damals gerade erschienenen Memoiren von Stalins Tochter Swetlana Allilujewa durch die Weltpresse. Zum Beispiel berichtete das Magazin „Der Spiegel“: „Gewiss ist nur, dass Stalins Sohn von Oktober 1941 bis August 1943 im Offizierslager (‚Oflag‘) XIII D in Hammelburg (Unterfranken) und dann bis Herbst 1944 im Oflag XC in Lübeck-Vorwerk gefangengehalten wurde.“ Es folgten wirre Spekulationen darüber, ob er 1945 vor der Befreiung durch die Rote Armee Selbstmord begangen habe, in einem Lazarett gestorben oder im argentinischen Exil ertrunken sei, vielleicht aber auch „irgendwo in Europa untergetaucht“ immer noch lebe.

Die Leiche Jakow Dschugaschwillis im KZ Sachsenhausen
Stalins Sohn bei der Gefangennahme (oben); die Leiche Jakow Dschugaschwillis im KZ Sachsenhausen (unten)
Quelle: picture-alliance / akg-images

Rasch meldeten sich Wichtigtuer zu Wort. Ein ehemaliger KZ-Wärter verkündete per Artikel in der „Bild am Sonntag“ (erscheint wie WELT AM SONNTAG im Verlag Axel Springer), er kenne die Wahrheit: Sein Vorgesetzter, der KZ-Folterknecht in Sachsenhausen, Kurt Eccarius, habe Stalins Sohn Anfang April 1944 im Hof des KZ-Gefängnisses mit Pistolenschüssen ermordet.

Für die Staatsanwaltschaft München II war das Grund genug, im Herbst 1967 ein laufendes Ermittlungsverfahren gegen Eccarius um den Verdacht des Mordes an Jakow Dschugaschwilli zu erweitern. Doch schon nach den ersten Vernehmungen zeigte sich: Diese Aussage konnte nicht stimmen. WELT AM SONNTAG liegt die entsprechende Akte mit 209 Blatt Umfang vor.

Es blieb nur eine Sicherungskopie auf Mikrofilm erhalten

Ihr zufolge kam der Durchbruch für die Ermittlungen Mitte Februar 1968. Das US-Außenministerium veröffentlichte 14 Seiten Dokumente und zehn Fotos aus dem April 1943 – einen Bericht, den zwei Ermittler der Abteilung Kriminalpolizei, des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) nach dem Tod von Dschugaschwilli aus Zeugenaussagen zusammengestellt hatten. SS-Chef Heinrich Himmler schickte ihn anschließend an Hitlers Außenminister; das in vertrautem Ton gehaltene Anschreiben begann mit der Anrede „Lieber Ribbentrop“. Angloamerikanische Spezialisten hatten das Material am 12. Juni 1945 in einem Aktenversteck in Thüringen gefunden.

Einige Wochen lang überlegten westliche Diplomaten, den Bericht ihrem (Noch-)Verbündeten Stalin als Geste des guten Willens zur Verfügung zu stellen; doch dann entschieden sie sich dagegen, weil der Beleg für den Tod seines Sohnes die Gespräche auf der Potsdamer Konferenz hätte belasten können. Es blieb nur eine Sicherungskopie auf Mikrofilm erhalten, die vergessen im Magazin des State Department in Washington lag, bis die Angelegenheit 1967 durch die Memoiren der Stalin-Tochter Aktualität gewann.

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In dem Bericht waren auch die Namen mehrerer am 14. April 1943 diensthabender SS-Wachleute im Sonderlager des KZ Sachsenhausen genannt. Nun konnten die Münchner Staatsanwälte richtig loslegen. Sie ermittelten deren Aufenthaltsorte und vernahmen sie. Weil nach dem Bericht des RSHA ein gewisser Konrad Harfich Stalins Sohn in den Kopf geschossen hatte, eröffneten sie ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes gegen den inzwischen 66 Jahre alten Rentner. Ein wichtiger Zeuge war sein ehemaliger Vorgesetzter Karl Jüngling, als SS-Mann im Range eines Unteroffiziers verantwortlich für das „Sonderlager A“ am Rande des KZ.

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Weder Harfich noch Jüngling konnten in Untersuchungshaft genommen werden – keiner der gesetzmäßigen Gründe lag vor: Wiederholungsgefahr so wenig wie Verdunkelungsgefahr (die Beweise existierten ja) und auch keine Fluchtgefahr, denn Ende der 1960er-Jahre hatten bundesdeutsche Gerichte längst weitaus schwerer belastete KZ-Täter in Freiheit auf ihren Prozess warten lassen, wenn es denn überhaupt eine Anklage gab. Die Akte der Staatsanwaltschaft, die heute problemlos im Staatsarchiv München eingesehen werden kann, zeigt die Gewissenhaftigkeit der Strafverfolger – und dabei beispielhaft die Gründe für das weitgehende Scheitern der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen.

Aussagen vor Diplomaten

Es begannen weitere Recherchen und Zeugenvernehmungen. Der 1943 ins „Sonderlager A“ geschickte RSHA-Ermittler äußerte sich ebenso wie Jüngling und Harfich sowie mehrere weitere SS-Leute. Um Aussagen der vier britischen Mitgefangenen zu bekommen, wandte sich die Staatsanwaltschaft München an die deutsche Botschaft in London; allerdings konnte einer der vier wegen seines Allerweltsnamens nicht ausfindig gemacht werden, zwei weitere waren bereits verstorben. Der letzte jedoch sagte vor einem Diplomaten ausführlich aus. Die Aussagen ehemaliger Häftlinge legten nahe, dass Harfich vor oder nach seiner Funktion beim „Sonderlager A“ auch bei einem der übelsten Arbeitskommandos des KZ Sachsenhausen, dem Klinkerwerk, als Wachposten eingesetzt war. Deswegen wurde ein zusätzliches Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet.

Je mehr Informationen die Staatsanwälte sammelten, desto klarer wurde, was am 14. April 1943 tatsächlich geschehen war. Einige Wochen zuvor, wohl Anfang Februar 1943, hatte die SS Jakow Dschugaschwilli ins neu errichtete „Sonderlager A“ gebracht, nachdem er zuvor in verschiedenen Lagern für kriegsgefangene Offiziere und möglicherweise im Lagergefängnis von Sachsenhausen eingesperrt gewesen war. Außer ihm saßen hier der ebenfalls als Offizier der Roten Armee gefangengenommene Neffe des sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow, sowie vier Briten.

Einer von ihnen, ein Sergeant namens Thomas Cushing, unterhielt sich gelegentlich mit Dschugaschwilli, der sich ihm als „Stalins Sohn“ vorgestellt hatte. Dschugaschwilli verbrachte den Tag mit erzwungenem Nichtstun. Zeitweise versuchte der Brite, mit ihm gegenseitigen Sprachunterricht zu improvisieren, gab aber bald auf. In der zweiten Aprilwoche nahmen im „Sonderlager A“ die Spannungen zu. Stalins Sohn beschuldigte Molotows Neffen, ein Spitzel der Lager-Gestapo zu sein und vielleicht eine falsche Identität vorzutäuschen; die beiden sollen sich sogar geprügelt haben.

„Seien Sie ein Mann und schießen Sie mich!“

Am 14. April 1943 abends, kurz vor dem üblichen Einschluss der Vorzugsgefangenen in ihrer Baracke, verlangte Dschugaschwilli von Karl Jüngling, sofort zum Kommandanten des KZ, Anton Kaindl, gebracht zu werden. So ein Begehr war, bei allen Privilegien der Insassen des „Sonderlagers A“, dann doch zu viel. Jüngling antwortete, Dschugaschwilli möge eine „schriftliche Eingabe“ machen. Darüber ärgerte sich Stalins Sohn; er bestand nach den im Wesentlichen übereinstimmenden Aussagen von Cushing, Jüngling und Harfich weiter auf einem Gespräch mit Kaindl und schrie Cushing zufolge in gebrochenem Deutsch: „Seien Sie ein Mann und schießen Sie mich!“

Dann überschritt Dschugaschwilli die beiden niedrigen Stolperdrähte vor dem mit Starkstrom geladenen Zaun. In diesem Moment schoss Harfich auf seinen Kopf und traf ihn in den Schädel, „etwa vier Zentimeter vom rechten Ohr entfernt, knapp unterhalb des rechten Jochbogens“, wie es im knappen Untersuchungsbericht des SS-Arztes von Sachsenhausen hieß.

Ob Stalins Sohn in diesem Moment schon nach dem stromgeladenen Zaun griff oder ob er durch den Impuls des Treffers aus weniger als zehn Meter Entfernung nach vorn stürzte, ließ sich jedoch mit den wenigen seinerzeit gesicherten Spuren nicht klären. Jedenfalls, das zeigen die Fotos der RSHA-Ermittler, berührte Jakows rechte Hand den Starkstromdraht. Die nur als Mikrofilmkopien erhaltenen Fotos sind qualitativ zu schlecht, um Cushings Aussage zu bestätigen, dass Dschugaschwillis Gesicht stark verbrannt gewesen sei.

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Angesichts dieser Sachlage und des rechtsstaatlichen Prinzips in dubio pro reo musste die Münchner Staatsanwaltschaft das Strafverfahren gegen Harfich einstellen. Denn es war nicht hinreichend zu belegen, dass wirklich der Kopfschuss tödlich war. Hinzu kam die mehrfach unabhängig voneinander belegte Aufforderung von Stalins Sohn, der SS-Mann solle ihn erschießen. Zugunsten des Angeklagten musste angenommen werden, dass Jakow Dschugaschwilli Selbstmord durch fremde Hand beging, besser bekannt unter dem englischen Begriff suicide by cop. So blieb Harfich trotz des eingeräumten und auf jeden Fall tödlichen Kopfschusses straffrei. Die Prinzipien des Rechtsstaates verhinderten Prozess und Urteil, wie bei Tausenden anderen SS-Tätern und weiteren Kriegsverbrechern.

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