Literarischer Hintergrund | Jakob der Lügner
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Literarischer Hintergrund

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DDR-Literatur

In der Aufbauphase des Sozialismus finden die Ziele der DDR-Führung bei den Autoren, auch bei Jurek Becker, ungebrochene Unterstützung, was nicht zuletzt auch darin begründet liegt, dass viele Schriftsteller im antifaschistischen Widerstand oder im Exil waren; als Gegner des Naziregimes bietet ihnen der neue sozialistische Staat daher ein hohes Identifikationspotenzial. Besonders die Aussicht auf einen demokratischen Staat, in dem die Werte Freiheit und Gleichheit hochgehalten werden sollen, sind die Gründe für die Hoffnungen vieler Autoren. Von Anfang an ist damit aber auch eine strikte Vorstellung der DDR-Offiziellen hinsichtlich der Art und Weise des literarischen Schaffens verbunden.

Jurek Beckers Roman grenzt sich wesentlich von anderen Werken ab, die in der DDR erscheinen und sich mit dem Thema Holocaust beschäftigen. Zunächst muss aber erst ein Blick darauf geworfen werden, was in der DDR als Standard für literarische Arbeiten angesehen wird. Gemeinhin wird die sozialistische Literaturtheorie als „Sozialistischer Realismus“ bezeichnet. Ihm liegen konkrete Merkmale zugrunde, die literarische Werke aufweisen müssen, um im sozialistischen Staat anerkannt zu werden. Zunächst muss der Text durch eine Parteilichkeit für die Sache des Sozialismus gekennzeichnet sein und die Wirklichkeit aus dieser Perspektive heraus abbilden. Weiterhin soll die gesellschaftliche Entwicklung hin zum oder durch den Sozialismus dargestellt werden. Eng damit verknüpft ist die Darstellung des Aufbaus des Sozialismus durch den alltäglichen Helden. Daraus resultiert eine Art der Wirklichkeitsdarstellung, die die Übereinstimmung der Ziele der Gesellschaft mit denen des Individuums impliziert.

Schlussendlich gehört aber auch die Beleuchtung der Gegenseite zum Credo des Sozialistischen Realismus. Das bedeutet, die Darstellung des Faschismus und Antifaschismus hat einen festen Platz im Rahmen dieses Literaturverständnisses. Die Literatur in der DDR hat demgemäß einen hohen pädagogischen Wert. Sie soll im Zuge des Aufbaus des Sozialismus den Menschen erziehen und aufklären. Um die „Botschaft“ des Sozialismus zu vermitteln, sollen die traditionellen Schreibformen verwendet werden. Die modernen Formen des Schreibens, etwa die Montagetechnik, sollten vermieden werden, weil sie nicht ohne Weiteres verstanden werden können und somit die pädagogische Aufgabe der Literatur behindern könnten.

Kein Widerstand und kein Held

Jurek Becker bekennt sich zwar zum Sozialismus, gerät aber schon früh in Konflikte mit dem System. „Jakob der Lügner“ weicht in besonderem Maße von der Linie ab, die durch das Konzept des Sozialistischen Realismus vorgegeben ist. Jurek Becker verarbeitet zwar den Faschismus in seinem Roman, allerdings auf seine sehr eigenwillige Art und Weise, die nichts mit der parteigetreuen Sicht zu tun hat. Zwar kommen die Deutschen als brutale Beherrscher im Roman vor, der Fokus richtet sich aber klar auf Jakob und sein Radio, sodass es zu keiner ausgeprägten Verurteilung des Naziregimes kommt. Des Weiteren wird eigentlich kein antifaschistischer Widerstand dargestellt. Ganz im Gegenteil, über den Erzähler erfährt der Leser vor allem, warum es eben keinen Widerstand gab.

Daher finden wir im Text auch keinen typischen Helden des Alltags, der sich gegen die Nazis erhebt oder gar dafür sein Leben einsetzt. Alle Tode im Buch resultieren vielmehr aus Hoffnungslosigkeit, Angst und im Falle von Herschel Schtamm aus einer Unachtsamkeit. Darüber hinaus kann die Darstellungsweise in „Jakob der Lügner“ nicht als realistisch bezeichnet werden; dies aber ist eine Grundforderung des Sozialistischen Realismus. Die ständigen Perspektivenwechsel, die oftmals verwirrend miteinander verwoben sind, wecken eher Fragen und Zweifel auf der Seite des Lesers, anstatt ihm eine einfach, ideologische Weltsicht zu vermitteln. Trotz der klaren Abweichungen wurde Jurek Becker 1975 mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet, allerdings erregen spätere Werke, wie „Schlaflose Tage“ (1978), zunehmend offiziellen Ärger.

Holocaust-Literatur?

Jurek Beckers Roman reiht sich in den Diskurs über den Holocaust ein, setzt dabei aber ungewöhnliche Akzente. Zum Ersten bezieht sich Becker in keinster Weise auf irgendwelche Dokumente, die als historische Belege für die Handlung dienen können. Des Zweiten hat er das Getto im Buch keinem wirklichen Ort nachempfunden. Zwar war Jurek Becker als Kind im Lodzer Getto und hat das Getto Lodz vermessen, jedoch hat der Autor zum einen keinen belastbaren Erinnerungen an diese Zeit, zum anderen ist aus den Ortsangaben im Roman nicht eindeutig zu erschließen, dass es sich um das Getto in Lodz handelt.

Neben dieser nicht auf Fakten basierenden A...

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