Die Stimmung kochte auf den Straßen von Paris. Seit Wochen gab es in Frankreichs Hauptstadt Massenproteste – erst von linken Studenten, dann von immer mehr Arbeitern, schließlich war vom Generalstreik die Rede. Das Benzin an den Tankstellen ging zur Neige, Fabriken wurden besetzt, zunehmend irreale Forderungen aufgestellt – es herrschte politischer Aufruhr.
Immer mehr Protest richtete sich gegen Charles de Gaulle, den ersten und nach zehn Jahren immer noch amtierenden Präsidenten der Fünften Republik. Der 77-jährige General, dem Frankreich im Zweiten Weltkrieg und erneut in der Staatskrise Ende der 50er-Jahre so viel zu verdanken hatte, war amtsmüde; er verstand die heftigen Aufwallungen der Gefühle schlicht nicht. In Sprechchören wurde sein Rücktritt verlangt.
Am 29. Mai 1968 lief plötzlich ein Gerücht um auf den Straßen von Paris: De Gaulle sei aus der Hauptstadt geflohen, mit dem Hubschrauber – Ziel unbekannt.
Es wurde spekuliert: War er zurückgetreten? Würde er zurücktreten? Oder bereitete er das Eingreifen der Armee vor? Wollte er die Massenproteste, die bei Weitem größer waren als alles, was 1968 auf den Straßen des Bundesrepublik geschah, zusammenschießen lassen? Stand Frankreich ein Militärputsch unter Führung des ordnungsgemäß gewählten Staatsoberhauptes bevor?
Fest steht: Gegen Mittag dieses Mittwochs stieg der Präsident in seinen bereitstehenden Hubschrauber, eine Alouette III, und ließ starten. Erst unmittelbar vor dem Abheben hatten die beiden Piloten das Ziel genannt bekommen: Baden-Baden und dort das Hauptquartier der französischen Truppen in Deutschland.
Für deren Oberbefehlshaber, General Jacques Massu, kam die Nachricht über die Visite überraschend: Er erfuhr um 14.45 Uhr, dass der Hubschrauber mit dem Präsident, seiner Frau und seinem Adjutanten in fünf Minuten landen würde.
So beschrieb es Massu selbst 1983 in seinem Büchlein „Baden 68. Souvenirs d’une fidélité gaulliste“, das nie auf Deutsch erschienen ist. Kein Wunder: Der Band richtete sich ausschließlich an ein französisches Publikum, das den Untertitel als Ironie erkannte – denn Massu war alles andere als ein „treuer Gaullist“.
Der Präsident und der 18 Jahre jüngere aktive General zogen sich zum Vier-Augen-Gespräch zurück. Was die beiden wirklich erörterten, darüber wurde nicht Protokoll geführt. Dafür streuten aber de Gaulle wie Massu reichlich Nebelkerzen.
„Alles ist aus“, habe de Gaulle ihm zuerst gesagt, behauptete Massu in seinem Büchlein, das sollen die ersten Worte de Gaulles gewesen sein, als er in Baden-Baden landete. Die Kommunisten hätten eine totale Lähmung des Landes provoziert, klagte er demnach weiter: „Ich habe nichts mehr in der Gewalt. Deshalb ziehe ich mich zurück, und da ich mich und meine Familie in Frankreich bedroht fühle, suche ich bei Ihnen Zuflucht, um mir darüber klar zu werden, was ich machen soll.“
Aber stimmte diese Version? De Gaulles selbst ließ eine andere Deutung streuen. Demnach soll er den überraschenden Flug gegenüber Vertrauten begründet haben: „Ich werde die Scheinwerfer auf mich lenken! Die tun ja so, als gäbe es mich nicht mehr! Denen werde ich es schon zeigen!“
Diese Version ist allerdings auch nicht besonders glaubwürdig: eigne offensichtlich unvorbereitete Flucht, die noch dazu geheim ablief und nur durch Gerüchte bekannt wurde, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken?
Oder ging es eigentlich um etwas ganz anderes? Wollte de Gaulle den Fallschirmjäger-Offizier und Haudegen Massu, der 1957/58 im Algerienkrieg durch ausgesprochene Brutalität und Rücksichtslosigkeit aufgefallen war, für ein militärisches Eingreifen gewinnen?
Wenn der große Held Frankreichs des Zweiten Weltkriegs und der vor allem bei der Landbevölkerung populäre Nachkriegsgeneral Massu gemeinsam einen Militäreinsatz gegen die streikenden Arbeiter befehlen würden, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Armee folgen würde. Wollte de Gaulle also Massus Einverständnis, einen Bürgerkrieg zu führen?
Spielt man diese auf den ersten Blick kaum glaubhafte Möglichkeit durch, so wird viel verständlich. Zum Beispiel Massus Buch, das de Gaulles Schwäche beim Baden-Baden-Besuch in den Mittelpunkt stellte: „Ich merke sofort, dass der General nicht mehr er selbst ist, vor mir sitzt ein angeschlagener, müder Mann“, schrieb der Kommandeur 1983 über den Staatspräsidenten.
Das könnte auch eine bewusste Verzeichnung gewesen zu sein, um vom eigentlichen, politisch hochbrisanten Gehalt des Gespräches abzulenken. Zwar auf Kosten de Gaulles, aber was machte das schon – immerhin war er schon 1970 kurz vor seinem 80. Geburtstag gestorben.
Für eine solche Spekulation spricht auch, was de Gaulle nach seiner Rückkehr tat. Nach knapp zwei Stunden hob seine Alouette wieder in Baden-Baden ab und brachte den Präsidenten zu seinem Privathaus nach Colombey les Deux Églises. Von hier aus wandte sich de Gaulle per Rundfunk an die Franzosen.
Sechs Tage zuvor hatte er noch eine allgemein als schwach bewertete TV-Ansprache gehalten. Nun klang seine Stimme ganz anders – willensstark und in sich selbst ruhend. Unter anderem sagte de Gaulle: „Ich habe meine Entschlüsse gefasst. Unter den gegenwärtigen Umständen werde ich mich nicht zurückziehen. Ich werde nicht den Premierminister wechseln, der die Anerkennung von uns allen verdient. Ich löse heute die Nationalversammlung auf. Ich beauftrage die Präfekten, die Subversion zu jeder Zeit und an jedem Ort zu verhindern.“
Der Präsident verhängte faktisch also den zivilen Ausnahmezustand, um „Einschüchterung, Vergiftung und Tyrannei“ zu bekämpfen, die „durch organisierte Gruppen und eine Partei“ ausgelöst worden seien, die „ totalitär“ sei. Das richtete sich gegen die französischen Kommunisten, die tatsächlich alles taten, um in Frankreich eine revolutionäre Situation zu erzeugen.
Gleichzeitig liefen mehrere Hunderttausend Anhänger von de Gaulle demonstrierend durch Paris. Sie zeigten damit, dass die protestierenden Studenten und streikenden Arbeiter keineswegs die Volksmeinung repräsentierten.
Das bestätigte der Ausgang der Wahlen zur Nationalversammlung am 23. und 30. Juni 1968: Schon in der ersten Runde der nach reinem Mehrheitswahlrecht organisierten Abstimmung erreichte die gaullistische Koalition fast drei Fünftel der Stimmen, in der Stichwahl bei leicht niedrigerer Wahlbeteiligung fast genau so viel. Die Kommunisten und die Sozialisten kamen auf je ein Fünftel. Das ergab nach französischem Wahlrecht eine Vier-Fünftel-Mehrheit der Mandate für de Gaulle.
Zum Zeitpunkt der Abstimmung war der Straßenprotest bereits vollkommen zusammengebrochen. Die linken Gegner de Gaulles hatten im Mai wochenlang die Innenstädte durch ihre Lautstärke und ihre Radikalität dominiert, doch wirklich stark waren sie nicht gewesen. Direkt nach de Gaulles Radioansprache hatte der Generalstreik geendet, Mitte Juni wurde in allen Betrieben Frankreichs wieder regulär gearbeitet.
Das Militär war nicht eingesetzt worden. Der von manchen Radikalen erhoffte, von den weitaus meisten Franzosen aber befürchtete Bürgerkrieg war ausgeblieben. Massu schwieg vorerst zu den Hintergründen des Kurzbesuches am 29. Mai 1968.
De Gaulles Zeit lief dennoch ab. Der Präsident hatte entgegen seiner Zusage seinen Premier Georges Pompidou doch wenige Wochen später abgelöst. Im Frühjahr 1969 scheiterte Charles de Gaulle mit seinem Versuch, eine radikale Reform der verkrusteten Regionalverwaltung per Volksabstimmung durchzusetzen, und trat zurück. Die Krise des Mai 1968 hatte er zwar bewältigt – aber damit war die Kraft des Generals aufgebraucht.
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