Ein Indiz, kein Beweis – aber immerhin. Nur einige Minuten lagen zwischen der (formell notwendigen) Aufhebung der Immunität des Bundestagsabgeordneten Jürgen W. Möllemann durch das Plenum am 5. Juni 2003 gegen zwölf Uhr (Bundestagsvizepräsident Hermann Otto Solms hatte im Reichstag durch Probe und Gegenprobe festgestellt: „Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen“) und seinem plötzlichen Tod. Etwa um 12.30 Uhr schlug der langjährige FDP-Politiker nach dem Absprung aus einem Flugzeug ungebremst auf einem Feld bei Marl in Nordrhein-Westfalen auf.
Unfall oder Selbstmord? Diese Frage stellte sich an jenem Donnerstag, und sie ist nie klar beantwortet worden. Ohne Zweifel war die politische Karriere Möllemanns am Ende. Staatsanwälte und Polizisten standen bereit für eine Razzia in 25 Wohnungen und Geschäftsräumen des Politikers und fünf weiterer Personen in 13 Orten in Liechtenstein, Luxemburg, Deutschland sowie auf Gran Canaria. Hintergrund waren Ermittlungen wegen der Finanzierung von Wahlkampfaktionen Möllemanns vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2000 und vor der Bundestagswahl 2002.
Dabei ging es unter anderem um ein Flugblatt, in dem der ehemalige Bundesminister und Vizekanzler Israels Ministerpräsidenten Ariel Scharon und zugleich den Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden Michel Friedman scharf attackiert hatte – im Namen der FDP. Möllemann war daraufhin wegen offensichtlichen Antisemitismus aus seiner Partei und der Bundestagsfraktion ausgeschlossen worden, hatte sich aber geweigert, sein Mandat im Bundestag aufzugeben.
Da es hinsichtlich der Bezahlung dieser durch „Postwurfsendung an alle Haushalte“ in Nordrhein-Westfalen verteilten Wahlkampf-Botschaft offene Fragen gab, nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf. Zuerst sagte Möllemann nichts über die Herkunft des Geldes. Dann sollte es aus seinem „Privatvermögen“ stammen. Schließlich sollte ein anonymer „dritter Mann“ von einem Konto der luxemburgischen Banque Nationale gespendet haben. Spätestens jetzt waren die Fahnder in Düsseldorf skeptisch.
Im November 2002 stießen Betriebsprüfer dann auf immense Geldtransfers: Von 1995 bis 1999 waren in fünf Tranchen 5,2 Millionen Mark von der Curl AG in Liechtenstein, offenbar einer Briefkastenfirma, auf ein Konto von Möllemanns Düsseldorfer Firma Web-Tec geflossen. Dieses Unternehmen, unscheinbar in der feinen Düsseldorfer Achenbachstraße gelegen und mit vier Mitarbeitern eher klein, befasste sich offiziell mit „Exportberatung“ – was immer das sein sollte.
Möllemann sagte den Fahndern lediglich, es habe sich um Honorare für „Beratertätigkeiten im Ölgeschäft“ gehandelt. Gerüchteweise wurde bekannt, dass ein Geschäftsmann namens Rolf W. mit Möllemanns Firma verbandelt sei. Der wiederum stand in Verdacht, mit verschiedenen umstrittenen Deals Schmiergelder verdient zu haben.
Unmittelbar vor Beginn der Durchsuchungen (die nach Aufhebung von Möllemanns Immunität umgehend zu erwarten waren) stieg der Politiker in ein Flugzeug, um seinem Hobby nachzugehen, dem Fallschirmspringen. Manche seiner Mitspringer fanden, er habe ganz normal gewirkt; andere wussten von Andeutungen zu berichten, die auf einen Suizid hätten schließen lassen – allerdings erst im Nachhinein.
Jedenfalls sprang Möllemann aus der Maschine, absolvierte den freien Fall, öffnete dann seinen Schirm – und trennte ihn. Diese Möglichkeit hat jeder Fallschirmspringer, falls sich der Hauptschirm beim Öffnen verhakt hat. Denn stets verfügt ein Springer über einen Reserveschirm, der in der Regel mit einem durch Messung des Luftdrucks und der Fallgeschwindigkeit gesteuerten Öffnungsautomat versehen ist.
So eine Sicherheitsschaltung hatte auch Möllemanns Reserveschirm, doch der Öffnungsautomat war an jedem 5. Juni 2003 nachweislich ausgeschaltet. Dem üblichen gegenseitigen Check durch die Mitspringer soll Möllemann ausgewichen sein, indem er bei diesem Ritual ein Glas Wasser trinken ging – so zumindest die Erinnerung einiger Kameraden; andere hatten davon nichts mitbekommen.
WELT zitierte in der Ausgabe am 6. Juni 2003 den Kieler Rechtsanwalt, Landtagsabgeordneten in Schleswig-Holstein und engen Weggefährten von Möllemann Wolfgang Kubicki mit den Worten: „Wenn es Selbstmord war, muss es entschieden worden sein in der letzten Sekunde.“
Die Staatsanwaltschaft ermittelte auch nach Bekanntwerden von Möllemanns Tod weiter, allerdings nicht gegen ihn (mit dem Tod des Beschuldigten endet jede Strafverfolgung automatisch), sondern gegen fünf weitere Personen. Als Ergebnis musste die FDP mehr als zwei Millionen Euro Sanktion wegen Verstoßes gegen das Parteiengesetz bezahlen. Hingegen ließen sich Vermutungen über eine Verstrickung von Web-Tec in Waffen- oder andere fragwürdige Geschäfte nicht erhärten. Möllemanns Nachlass endete mit einer Insolvenz und Verbindlichkeiten von drei Millionen Euro.
„Man kann nicht ausschließen, dass es Selbstmord war; man kann es aber auch nicht sicher sagen“, hieß es 2007 bei der Vorstellung des staatsanwaltschaftlichen Abschlussbericht zu Möllemanns Tod. Ein zufällig entstandenes Amateurvideo des Todessturzes erbrachte auch keine wesentlichen Erkenntnisse.
Eine Parallele zum Fall Barschel 1987 drängt sich auf. Auch der gescheiterte Ministerpräsident von Schleswig-Holstein starb unter ungeklärten und umstrittenen Umständen in der Badewanne eines Genfer Hotels. Auch um ihn waberten Gerüchte um Waffenhandel und andere fragwürdige Geschäfte, die nie belegt werden konnten. Auch gegen Barschel wurden Ermittlungen vorbereitet – zu denen es dann nicht mehr kam; stattdessen mussten seine Todesumstände untersucht werden. Ein eindeutiges Ergebnis gab es nicht.
Während des Sitzungstages traf im Bundestagsplenum die Todesnachricht ein. Die gerade amtierende Vizepräsidentin unterbrach und sagte: „Bevor wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, darf ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.“ Die anwesenden Abgeordneten erhoben sich und die Vorsitzende verkündete: „Heute Mittag erreichte uns die Nachricht vom Tod unseres Kollegen Jürgen Möllemann. Noch wissen wir nichts über die näheren Begleitumstände seines plötzlichen Todes (...) Wir trauern um unseren verstorbenen Kollegen und drücken seiner Familie unser tief empfundenes Beileid aus.“
Sollten Sie selbst das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können. Weitere Hilfsangebote gibt es bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
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