Literatur

Jürgen Habermas: Der demokratische Diskurs muss in Zeiten von Social Media neu gelernt werden

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Konstantin Sakkas

In seinem neuen Buch ist der 93jährige Habermas auch Kapitalismuskritiker, vor allem aber Demokratietheoretiker. Ihm geht es, wie schon vor sechzig Jahren, um die Bedingungen einer deliberativen Politik.

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In der liberalen Demokratie sind alle Bürger gleichberechtigte Diskursteilnehmer

In der liberalen Demokratie sind nicht nur alle Bürger politisch gleichberechtigt, sondern auch gleichberechtigte Diskursteilnehmer. Das bedeutet, dass sie über die Voraussetzung ihrer eigenen Gleichberechtigung, nämlich den demokratischen und liberalen Rechtsstaat, frei und gleichrangig diskutieren, und zwar im vorparlamentarischen öffentlichen Raum, einem Phänomen, das Habermas historisch tief ausgeleuchtet hat.

Das Ergebnis dieses Diskurses schlägt sich dann politisch nieder – an der Wahlurne, aber auch in Revolten oder Revolutionen.

Neutrale Informationsangebote sollen möglichst alle Bürger auf den gleichen Wissensstand bringen

Das Problem besteht nun darin, dass nicht alle Bürger mit dem gleichen Wissensstand, dem gleichen Gerechtigkeitsbegriff und den gleichen Debattengrundsätzen am Diskurs teilnehmen. Das kann im Ergebnis des Diskurses zu Extremismus führen, siehe Trump, Gelbwesten, Querdenker.

Damit eine vernünftige, reflektierte Deliberation stattfinden kann, die dem Extremismus widersteht, muss der öffentliche geistige Raum also a priori aufgeklärt sein. Das zu gewährleisten, ist Aufgabe der Informationsangebote, die möglichst neutral, abwägend und in ihren Argumentationen faktenbasiert sein müssen.

Seit dem Siegeszug des Internets sind Rationalität und Faktenbasiertheit nicht mehr gewährleistet

Seit dem Siegeszug des Internets sind Rationalität und Faktenbasiertheit der nunmehr entgrenzten öffentlichen Informationsangebote nicht mehr gewährleistet. Dort wird überwiegend im Namen persönlicher Identitäten, Präferenzen und Ressentiments diskutiert, nicht, oder höchstens angeblich, mit dem inneren Anspruch auf Neutralität und Gemeinwohlorientierung.

Zudem werden die Grenzen des Sagbaren durch die Eigentümer der Plattformen bestimmt, was dazu führen kann, dass Unwahrheiten dort als legitime Meinungen vertreten werden dürfen; Habermas spricht von der »Plattformisierung der Öffentlichkeit«. Das Ziel der Deliberation und ihre diskursiven Bedingungen formuliert er so:

„Damit Mehrheitsentscheidungen von der jeweils unterlegenen Minderheit akzeptiert werden können, dürfen nicht alle Bürger ihre Wahlentscheidungen ausschließlich im kurzfristigen Eigeninteresse treffen. Ein hinreichender – und zudem repräsentativer – Anteil von ihnen muss willens sein, die Rolle des demokratischen Mitgesetzgebers auch gemeinwohlorientiert wahrzunehmen. [...] Eine zweite Bedingung [...] ist ein Maß an sozialer Gleichheit, das eine spontane und hinreichende Beteiligung der Wahlbevölkerung am demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess [...] ermöglicht.“
(Aus Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik)

Die Diskursteilnehmer müssen es sich also intellektuell, habituell und sozioökonomisch leisten können, sich dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“, so Habermas‘ berühmte Formulierung, zu beugen.

Immer mehr Mensch können am vorpolitischen Diskurs teilnehmen, aber dieser Diskurs muss erlernt werden

Die Ausweitung des Diskursfeldes begrüßt Habermas grundsätzlich: dank des Internets und smarter Endgeräte können ja immer mehr Menschen auch aus bildungsfernen und unintellektuellen Schichten am vorpolitischen Diskurs teilnehmen, womit sich eigentlich eine alte Version des Marxismus erfüllt. Aber diese Menschen müssen erstmal diskutieren lernen. Dazu muss das Diskursangebot intellektuell so eingerichtet werden, dass in ihm ein universalistisches Denken wieder zum Zuge kommen kann.

Habermas kritisiert die Akkumulation von Medienmacht durch die großen Social-Media-Plattformen

Dass das Internet reguliert werden müsse, ist selbst eine alte Forderung – die heute aber vor allem aus kapitalismuskritischer Warte erhoben wird. Der alte Habermas ist da weiter als viele junge Vertreter*innen der Kritischen Theorie: Er kritisiert die Akkumulation von Medienmacht durch die großen Social-Media-Plattformen vor allem deshalb, weil viele von deren Usern überhaupt erst zum demokratischen Diskurs erzogen werden müssen.

Gespräch Radikaler Universalismus und Strukturwandel der Öffentlichkeit – Sachbücher von Omri Boehm und Jürgen Habermas

Jürgen Habermas ist 93 Jahre alt. Er ist immer noch Deutschlands bekanntester Philosoph. Und Omri Boehm ist gerade Anfang 40, jüdisch-deutscher Philosoph in New York. Beide haben gerade Bücher veröffentlicht, die sich mit Verschwinden des gemeinsamen Fundaments in der Gesellschaft beschäftigen. Wird es in der Gesellschaft weiterhin etwas Verbindendes geben? Und wo sucht man das? In den Werten oder in den Medien?
Debattengespräch mit Konstantin Sakkas
Jürgen Habermas - Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik
Suhrkamp Verlag, 108 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-518-58790-4
Omri Boehm - Radikaler Universalismus
Aus dem Englischen von Michael Adrian
Ullstein Verlag, 176 Seiten, 22 Euro
ISBN 9783549100417

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