Jürgen Habermas: „Es gibt keine unbeweglichen Identitäten“
Der bekannteste lebende Vertreter der Kritischen Theorie ist eine der einflussreichsten intellektuellen Stimmen der Gegenwart. Im Interview erinnert sich Jürgen Habermas an Theodor W. Adorno – und spricht über die großen Themen unserer Zeit: Coronakrise, Rechtsruck, Identitätspolitik und die Zukunft Europas.
Herr Habermas, wenn ein junger Mensch, der vielleicht gerade seinen Schulabschluss gemacht hat, sich angesichts von Klimakrise, grassierendem Populismus und digitaler Überwachung die Welt zu erschließen versucht, welches philosophische Werk würden Sie ihm oder ihr empfehlen? Wäre es eines aus dem Umfeld der Kritischen Theorie?
Ich würde keinen dieser zeitdiagnostischen Schnellschüsse empfehlen, sondern als Anstiftung zum Philosophieren die zweieinhalb Seiten empfehlen, die in Hegels Handschrift unter dem etwas irreführenden Titel des Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus überliefert sind. Selbst wenn jemand – sagen wir eine junge Abiturientin – den Kontext dieser Zeilen nicht versteht, wird sie die transzendierende Kraft eines poetisch-philosophischen Denkens spüren, das damals – wenige Jahre nach der Französischen Revolution – die Freunde Hegel, Schelling und Hölderlin bewegt hat. Daraus sind ja philosophische und dichterische Werke hervorgegangen, die die Welt bewegt haben und noch bewegen. Wenn dann dieser philosophische Funke gezündet hat, würde ich ihr oder ihrem interessierten Freund Hegels verwirrende, aber in die richtigen Bahnen lenkenden „Jugendschriften“ zur Lektüre empfehlen. Am Ende werden die beiden die Begriffe von Freiheit und von Liebe, das heißt von der Gegenseitigkeit intersubjektiver Beziehungen überhaupt kennengelernt haben, die sie, in welche Richtung ihr eigenes Denken sie auch immer führen wird, nicht mehr vergessen werden.
Sie sind der letzte Vertreter der Kritischen Theorie, der Theodor W. Adorno noch persönlich kannte. Zum ersten Mal haben Sie ihn nach dem Erscheinen Ihres Artikels Dialektik der Rationalisierung im Merkur (1954) getroffen – da waren Sie Mitte zwanzig. Erinnern Sie sich an dieses Treffen? Wie war Ihr Verhältnis zur „ersten Generation“ der Frankfurter Schule?
Beim ersten Treffen im Januar 1955 war Adorno in der Öffentlichkeit noch nicht „Adorno“. Die in ihren Bewegungen geschmeidige, gleichzeitig entgegenkommende und sich doch nach außen abschirmende Person, die mich, wie ich erst später sah, an Horkheimers Schreibtisch empfangen hat, begrüßte mich mit betonter, zugleich undurchdringlicher Höflichkeit. Die transparente, zur zweiten Natur gewordene Intellektualität der gestochen artikulierten Sprache verriet vielleicht ein Moment des Gekünstelten, das den unvorbereiteten Besucher überraschte. Ich konnte damals nicht ahnen, was die folgenden viereinhalb Jahre im fast täglichen Umgang mit diesem genialen, verletzbaren, gegenüber Institutionen wehrlos-hypersensiblen Geist für mich bedeuten würden – in meiner philosophischen, überhaupt in meiner mentalen Entwicklung. Adorno war eine Person, die nicht nicht denken konnte. Er stand fast immer unter Strom. Das hatte fast etwas Schmerzhaftes. Umso entspannter waren gastfreundliche Abende in kleiner geselliger Runde, wenn sich der Hausherr sicher fühlen durfte. Adorno führte ein bürgerliches Leben, ging mittags zum Essen nach Hause und kam pünktlich um drei Uhr nachmittags, Arm in Arm mit Gretel, von der nahen Klettenbergstraße zurück ins Institut.
Wenn Sie insgesamt an diese Zeit zurückdenken, gibt es für Sie bestimmte Parallelen zur oder Konstanten in die Gegenwart? Oder haben wir es heute – politisch, gesellschaftlich und kulturell – mit einer völlig anderen Welt zu tun, die auch andere analytische Zugänge erfordert?
Beides ist richtig: Die Menschen und ihre Bedürfnisse, Ängste und Wünsche ändern sich nicht so schnell – oder allenfalls so oberflächlich, wie sich Moden ändern. Demgegenüber haben sich die Lebensverhältnisse und die politischen Umstände im Zuge des beschleunigten technologischen und sozialen Wandels dramatisch verändert. Damals war das Bewusstsein der deutschen Bevölkerung national beschränkt und vergleichsweise reaktionär, aber der Zukunft zugewandt. Mit dem Rückenwind des wirtschaftlichen Aufschwungs spürte man, trotz der bedrückenden mentalen und personellen Kontinuitäten mit der NS-Zeit, dass sich etwas besserte. Heute ist die Bewusstseinslage längst ins Defensive umgeschlagen. Dafür ist die Pandemie eher symptomatisch. Die Globalisierung der Verkehrs- und Produktionsverhältnisse, die Digitalisierung der Arbeits- und Kommunikationsverhältnisse, die drastischen Folgen der Klimakrise wecken nicht eben Hoffnung. Gerade an der Ökologie zeigt sich, dass sich mit den Phänomenen natürlich auch die analytischen Zugänge ändern. Andererseits ist das alte Problem, wie die kapitalistisch erzeugten Krisen und die wachsenden sozialen Ungleichheiten durch staatliche Regulierung aufgefangen werden können, nicht verschwunden; es hat sich im Zuge der ökonomischen Globalisierung und der Klimakrise sogar verschärft. Nach wie vor unbewältigt, wird dieses Problem in der durchschnittlich wohlhabender gewordenen Gesellschaft gleichzeitig als trivial wahrgenommen und in den Hintergrund gerückt. Und die Politik verzichtet auf Orientierung, Gestaltungswillen und Perspektive, passt sich opportunistisch der wachsenden Komplexität der beunruhigenden Verhältnisse an – ohne noch erkennbar irgendetwas zu wollen.
Sie selbst haben 2019 mit Auch eine Geschichte der Philosophie noch einmal ein umfangreiches, zweibändiges Werk vorgelegt, in dem es nicht zuletzt auch um die Rolle der Philosophie in der Gegenwart geht. Welche ist das aus Ihrer Sicht?
Die Wissenschaften machen, indem sie sich immer weiter spezialisieren, Fortschritte; aber sie verlieren dabei nicht ihren wissenschaftlichen Charakter, sondern verstärken ihn eher. Auch die Philosophie muss sich, indem sie auf diese Erkenntnisfortschritte reflektiert, immer weiter spezialisieren. Aber sie würde aufhören, Philosophie zu sein, wenn sie darüber „das Ganze“ aus den Augen verlieren würde. Damit meine ich nicht „die Welt im Ganzen“, sondern den nur implizit mitgegebenen lebensweltlichen Hintergrund, vor dem wir uns fragen, was die wissenschaftlichen Fortschritte für uns bedeuten. Dieser Selbstbezug auf uns als Individuen, als Zeitgenossen und als Menschen überhaupt, unterscheidet die philosophische Selbstverständigung von den methodisch auf ihre jeweiligen Objektbereiche gerichteten Wissenschaften. Der holistische Bezug zu der Lebensgeschichte, die uns jeweils als Individuen prägt, zu dem geschichtlichen Kontext, der uns jeweils zu Zeitgenossen macht, und zu dem Modus des In-der-Welt-Seins, in dem wir uns überhaupt als Menschen vorfinden, steht in Spannung zu einer Aufsplitterung in Spezialprobleme. Mit meinem letzten Buch wollte ich auch zeigen, wie sich mit Hume und Kant zwei auseinanderdriftende Denklinien verzweigen. Die eine versteht Philosophie als eine wissenschaftliche Disziplin unter anderen, die sich, was ja nicht falsch ist, auf die rationale Rekonstruktion eines bestimmten, nur intuitiv Gewussten spezialisiert – auf das Wissen, wie man etwas wahrnimmt oder fühlt, wie man handelt oder spricht, wie man Wissenschaft betreibt oder Recht spricht. Die andere Richtung benutzt dieses rekonstruierte Wissen, um mit einem Blick auf die jeweils drängenden Probleme einen Beitrag zur rationalen Welt- und Selbstverständigung der zeitgenössischen Generationen zu leisten. Diese entgegengesetzten Richtungen begegnen übrigens komplementären Gefahren – denen des Szientismus und des Dilettantismus.
Sie haben bereits die Corona-Krise angesprochen. Diese hat die enormen Spannungen zwischen individueller Freiheit und staatlicher Regulierung im Namen der Gesundheit zutage gefördert. Wie beurteilen Sie das Agieren der staatlichen Institutionen in der Pandemie?
Ich halte den Kurs der Bundesregierung, der freilich gegen die opportunistisch hin und her hampelnden Ministerpräsidenten und -präsidentinnen nicht konsequent durchgesetzt worden ist, für richtig. Die deutsche Diskussion über den richtigen Kurs der Pandemiebekämpfung ist bis vor Kurzem durch die Kontroverse zwischen den Verteidigern strikter Vorbeugungsmaßnahmen und den Fürsprechern eines libertären Öffnungskurses beherrscht worden. Ein interessanter blinder Fleck ist die ausgesparte rechtsphilosophische Frage, ob der demokratische Rechtsstaat Politiken verfolgen darf, mit denen er grundsätzlich vermeidbare Infektions- und Todeszahlen in Kauf nimmt. Der Staat ist in der Krise auf eine ungewöhnliche Kooperation der Bevölkerung angewiesen, die von allen Bürgern starke Einschränkungen, sogar von verschiedenen, ungleich belasteten Gruppen, herausragende solidarische Leistungen verlangt. Und zwar muss er diese Solidarleistungen schon aus funktionalen Gründen rechtlich erzwingen dürfen. Die Aporie zwischen Rechtszwang und Solidarität ergibt sich daraus, dass in der Pandemie eine in unserer Verfassung selbst zwischen den beiden tragenden Prinzipien angelegte Spannung aufbricht – die zwischen der demokratischen Selbstermächtigung der Staatsbürger zur gemeinsamen Verfolgung kollektiver Ziele einerseits und der staatlichen Gewährleistung subjektiver Freiheiten andererseits. Beide Momente ergänzen sich, solange es im Normalzustand um die innere Reproduktion der Gesellschaft geht. Sie geraten aber außer Balance, sobald die außerordentliche kollektive Anstrengung zur Abwehr einer „von außen“ das Leben der Bürger bedrohenden Naturgefahr von den Bürgern Solidarleistungen erfordert, die über das üblicherweise erwartete bescheidene Maß an Gemeinwohlorientierung hinausgehen. Ich denke, dass diese asymmetrische Beanspruchung der Bürgersolidarität auf Kosten gleichmäßig gewährleisteter subjektiver Freiheiten durch die Herausforderungen einer Ausnahmesituation gerechtfertigt ist. Aber legitim ist sie natürlich immer nur auf Zeit.
Mit den sogenannten „Querdenkern“ scheint im Rahmen dieser Ausnahmesituation eine neue Art des Protests die politische Bühne betreten zu haben, eine, die lediglich lose verbunden ist und deren ideologisches Bindemittel vor allem in der Leugnung von Fakten besteht. Peter Sloterdijk bemerkte jüngst im Hinblick auf die „Querdenker“, es handele sich um „Figuren wie aus dem Spätmittelalter, die den Weg in die Moderne und damit zu naturwissenschaftlicher Evidenz und zum Staatsbürgertum innerlich nicht mitgegangen sind. Das hat im Verwechseln der eigenen Wünsche mit der Welt etwas Kleinkindliches.“ Würden Sie in diesem Fall mit Sloterdijk übereinstimmen?
Der Beschreibung stimme ich zu. Ich würde sie durch einen auffälligen Zug ergänzen. An der Bewusstseinslage dieser Leute fällt nämlich ein merkwürdiger Kontrast auf: Einerseits projizieren sie ihre verdrängten Ängste verschwörungstheoretisch auf dunkle Mächte, die sich der Autorität der bestehenden Institutionen bedienen. Das Autoritäre dieser geschlossenen, meistens antisemitisch besetzten Weltbilder verrät die rechtsradikalen Wurzeln dieses Potenzials, das von der AfD sofort erkannt worden ist. Andererseits erlaubt die Denunziation der bestehenden Ordnung den Coronaleugnern ein antiautoritäres Auftreten: Ihre Demonstrationszüge bieten das libertäre Erscheinungsbild linker Jugendproteste. Die Demonstranten können sich auf diese Weise zu den „wahren“ demokratischen Verteidigern einer durch die angeblich autoritäre Regierung verletzten Verfassung aufspielen. Tatsächlich spiegelt sich in diesem libertären Habitus nur jene nackte Verfolgung eigener Interessen, die man sonst eher bei Vertretern eines radikalisierten Wirtschaftsliberalismus vermutet. Aber hier ist es der Egozentrismus der Schwachen und Marginalisierten, nicht der Robusten. Nach meinem Eindruck wird uns dieses Protestpotenzial ganz unabhängig vom Auslöser der Pandemie noch lange beschäftigen. Ich vermute, dass sich darin jene Art der systemisch erzeugten sozialen Desintegration äußert, deren Ursachen Präsident Biden nach dem Sturm aufs Kapitol wohl richtig diagnostiziert hat und die er nun mit dem Versuch einer Rückkehr zu rooseveltschen Programmen beseitigen will.
Ihre Theorie des kommunikativen Handelns betont das Ideal eines offenen, herrschaftsfreien Diskurses zwischen allen Bürgerinnen und Bürgern. Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, wenn die wesentliche Grundlage der Kommunikation selbst zum kontroversen Gegenstand des Diskurses wird – etwa bei der Frage des gendersensiblen Sprechens?
Ich will nicht noch einmal auf das Missverständnis zurückkommen, dass jene unvermeidlichen pragmatischen Unterstellungen, die wir bei jeder ernsthaften Teilnahme an irgendeiner Argumentation unwillkürlich vornehmen müssen, etwas mit dem „Ideal der Herrschaftsfreiheit“ zu tun haben könnten. Aber die aktuelle Diskussion, auf die Sie anspielen, halte ich, offen gestanden, für läppisch. Relevanter ist das grundsätzliche Thema, das Sie mit Ihrer Frage berühren – jene Gefahr, die vom Sog der sozialen Medien für die Verfassung der politischen Öffentlichkeit ausgeht und die der öffentlichen Kommunikation die Grundlage der Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“ entzieht. Wenn unter Bürgern eine halbwegs aufgeklärte politische Meinungs- und Willensbildung zustande kommen soll, muss die Öffentlichkeit so strukturiert sein, dass sich konkurrierende öffentliche Meinungen zu denselben, jeweils relevanten Fragen bilden können. Die digitalen Plattformen fördern jedoch eine Vielfalt von in sich kreisenden Kommunikationsinseln, die die Teilnehmer von den Kommunikationsflüssen der redaktionell geprüften Informationen, Themen und Stellungnahmen abschneiden und die dadurch die nationalen Öffentlichkeiten so fragmentieren, dass sich die Bürger nicht mehr über dieselben Themen auseinandersetzen und im Extremfall nicht einmal mehr in derselben politischen Welt leben. Aber das ist ein weites Feld …
Der Linken wird in diesem Zusammenhang oft der Vorwurf gemacht, sie verstricke sich in elitistische, identitätspolitische Diskurse und trage so mit Schuld an dem Erfolg rechtspopulistischer Kräfte. Ist da etwas dran?
In dieser öffentlichen Diskussion gehen viele verschiedene Motive durcheinander. Soweit unsere Sensibilität im Umgang mit Migranten oder überhaupt mit Angehörigen fremder ethnischer oder kultureller Herkunft geschärft wird, sind ja die Initiativen, die von Vertretern der Postkolonialen Studien ausgehen, politisch wünschenswert. Das gilt ebenso für das verwandte Thema der Erinnerung an die koloniale Vergangenheit des Deutschen Reiches und an den erst jüngst vom Bundestag anerkannten Genozid der deutschen Kolonialverwaltung von Südwestafrika an den Nama und Herero. Der Kritik an rassistischen Vorurteilen und Verbrechen liegt immer der universalistische Grundsatz der gleichen Achtung für jeden zugrunde. Deshalb darf man die kulturellen Unterschiede auch nicht gleichzeitig naturalisieren. Es stimmt nicht, dass der kritisierte andere im Gehäuse seiner Kultur oder im Kontext seiner Herkunft und Sozialisation gewissermaßen gefangen ist. Verschiedene Kulturen bilden keine füreinander undurchdringlich abgeschotteten Universen, und sie prägen auch keine gegeneinander unbeweglichen „Identitäten“. Dass eine solche Skepsis im Zusammenhang mit der Übersetzung des wunderbaren Gedichtes, ja Gesanges von Amanda Gorman bei Joe Bidens Amtseinführung aufkommen konnte, erklärt sich wohl nur aus hermeneutisch verfehlten Hintergrundannahmen.
In einem Gespräch mit den Blättern für deutsche und internationale Politik aus dem Jahr 2016 vertraten Sie die Auffassung, dass die demokratischen Parteien AfD-Anhänger „kurz und trocken als das abtun (sollten), was sie sind – der Saatboden für einen neuen Faschismus“. Gilt das nach wie vor?
Das Verständnis für die „besorgten Bürger“, das damals gefordert wurde, hat den Skandal von Erfurt nicht verhindert, auch nicht die jüngst zustande gekommene Deutschlandkoalition, die in Sachsen-Anhalt nur notwendig wurde, weil Ministerpräsident Haseloff mit Abweichlern seiner eigenen CDU-Fraktion rechnen muss, die lieber mit der AfD koalieren würden. In der alten Bundesrepublik haben wir ein halbes Jahrhundert Auseinandersetzungen über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und für ein angemessenes politisches Selbstverständnis der Bürger unserer Republik durchgefochten. In diese Tradition sind im wiedervereinigten Deutschland die jüngeren Generationen hineingewachsen. Warum sollte ich, nach alledem, für Herrn Maaßen und für die, die ihn wählen, noch politisch Verständnis aufbringen?
Sie waren seit jeher ein starker Befürworter der europäischen Integration. War es vor diesem Hintergrund ernüchternd zu sehen, dass am Beginn der Coronapandemie vor allem nationalstaatliche Krisenbewältigung betrieben wurde beziehungsweise nationale Egoismen zum Tragen kamen?
Dass sich in der Coronapandemie die Nationalstaaten – trotz der koordinierenden Tätigkeit internationaler Organisationen, wie insbesondere der Weltgesundheitsorganisation – als die eigentlich handlungsfähigen Akteure bewährt haben, ist ja kaum erstaunlich. Immerhin hat die EU-Kommission für die Mitgliedstaaten die Beschaffung und Verteilung des knappen Impfstoffes übernommen; damit hat sie innerhalb der Grenzen ihres wirtschaftlich insgesamt privilegierten Gebietes das Gefälle verhindert, das sonst bei der Versorgung mit lebensrettenden Medikamenten zwischen wirtschaftlich stärkeren und weniger starken Mitgliedstaaten eingetreten wäre. Vor allem hat aber das zeitliche Zusammentreffen der Budgetberatungen mit der italienischen Katastrophe zu Beginn der Pandemie dazu geführt, dass Macron und Merkel ihre Initiative für ein gemeinsames europäisches Hilfsprogramm durchsetzen konnten. Dieser Aufbaufonds ist deshalb bemerkenswert, weil er die Kommission autorisiert, wenn auch zunächst nur für den Zweck der Bewältigung der Pandemiefolgen, gemeinsame europäische Schulden aufzunehmen. Damit ist die Schwelle zu den von der Bundesrepublik und den Nordländern bisher hartnäckig verweigerten Eurobonds zwar noch nicht genommen. Aber seit dem Maastricht-Vertrag ist der Beschluss zur gemeinsamen Schuldenaufnahme der erste ernsthafte Schritt zu einer weitergehenden Einigung.
Der Philosoph Bertrand Russell wurde 1959 von der BBC gefragt, was er zukünftigen Generationen mit auf den Weg geben würde. Er gab zwei Hinweise, einen intellektuellen und einen moralischen. Der intellektuelle Hinweis bestand darin, dass man sich stets nur auf die Fakten und die dahinterliegenden Wahrheiten konzentrieren, sich also nicht von Wunschdenken leiten lassen sollte. Der moralische Hinweis bestand darin, dass wir in einer zunehmend globalisierten Welt zusammen leben, nicht zusammen sterben müssen, es also die kollektive Ausbildung von Mitgefühl und Toleranz braucht. Was würden Sie zukünftigen Generationen mit auf den Weg geben?
Ich stimme Russell in beiden Punkten zu, würde aber seinen moralischen Hinweis auch auf Tatsachen stützen: Historische Tatsachen wie die Abschaffung der Sklaverei, die Überwindung kolonialer Herrschaft, die Verurteilung von Folter, die Abschaffung der Todesstrafe, die Gewährleistung von religiöser Toleranz, Meinungsfreiheit oder sexueller Gleichberechtigung werden offensichtlich nicht nur aus unserer beschränkten okzidentalen Sicht als Fortschritte in der Institutionalisierung von Freiheiten begrüßt. Niemand zweifelt an wissenschaftlichen Fortschritten. Aber es gibt ebenso Fortschritte im Gebrauch der praktischen Vernunft. Diese können uns zwar keine Zuversicht auf die Überwindung der aktuellen, schier unlösbar scheinenden Probleme einflößen. Aber sie können uns im Sinne einer "docta spes", einer gelehrten Hoffnung, wenigstens dazu ermutigen, von unserer praktischen Vernunft Gebrauch zu machen, um die Welt wenigstens um ein Winziges besser zu machen. Für diese Gesinnung, die aus Kants Werk wie aus keinem anderen spricht, kann die Philosophie auch heute gute Gründe beibringen. •
Jürgen Habermas zählt zu den bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. In den 1950er-Jahren war er Assistent bei Adorno und Horkheimer am Institut für Sozialforschung. Mit der Entwicklung der Diskursethik führte er die Kritische Theorie in der zweiten Generation weiter. Er lehrte unter anderem in Frankfurt und Berkeley und war Direktor des Max-Planck-Instituts in Starnberg. Habermas erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und den Kyoto-Preis. Veröffentlichungen u. a. „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Suhrkamp, 1962, Neuauflage 1990), „Theorie des kommunikativen Handelns“ (Suhrkamp, 1981), „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (Suhrkamp, 2019)
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Kommentare
Ich tue mich schwer mit Habermas. Ich bin zu dumm, um ihn zu verstehen. Popper ging es ähnlich. Viel Schwülstiges, Aufgeblasenes. Was sich sagen lässt, lässt sich klar sagen. Will er verstanden werden? Ich zweifle.
Mitgefühl und Toleranz (Russel) - individuelle Werte, die im Verlaufe der Evolution in kleinen Gruppen entstanden, da Vorbedingung des Zusammenwirkens, das zum Überleben unabdingbar war. Globale Geltung würde heute erst, aber wenigstens internationale Geltung bedeuten. Die Ideen der individuellen Würde des Menschen und der Natur, wie sie in der Zeit der französischen Revolution aufkamen, sind in unserer Zeit zwar weltweit bekannt (UNO-Charta, nationale Verfassungsdokumente), aber nicht allgemein anerkannt, ja werden sogar aus Überzeugung relativiert, z. B. in China. Hier hat die Wirtschaft zwecks Hebung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt sowie die Einheit und Stabilität Chinas Vorrang vor individuellen Rechten. "Praktische Vernunft", "docta spes" - der globale Konsens, was darunter zu verstehen wäre, fehlt offensichtlich noch. Was tun (Frage Lenins 1903)? Erasmus von Rotterdam übertrug den ersten Satz des Johannesevangeliums in seiner lateinischen Bibelübersetzung anders als bis dahin üblich: "Im Anfang war das Gespräch" (nicht: "Wort"). Dafür tritt Jürgen Habermas mit seiner Diskurs- und Konsens-theorie (in meinem Worten) der Wahrheits- und Wertfindung bis heute ein. Das heisst für mich "vorpraktische Vernunft", und das gibt mir eine erste Hoffnung auf weitere solche Schritte zum "(noch) besser machen", wenn auch bloss winzige.
Habermas zu Russels Rat an künftige Generationen:
Die Tatsachen, auf die Habermas Russels moralischen Hinweis gestützt sieht, waren das historische Ergebnis von Jahrzehnten, von Jahrhunderten, gar von Jahrtausenden, wobei die Kontingenz jeweils Beachtung verdient. Aktuell werden die Bürger im Monatsrhythmus mit einschneidenden politischen - ihre Lebenswelt umkrempelnden - Maßnahmen konfrontiert, die den Anspruch erheben, demoktratiefördernd, gleichstellend, inklusiv, gar aufklärerisch zu wirken. Vor der Verabschiedung des "gute" Heizungsgesetzes weiß jetzt nicht einmal jeder BT - Abgeordnete was genau drin steht.
Und gehört zur "docta spes", die Habermas in Anschlag bringt, nicht auch sein eigenes Argument, dass "Identität" nicht naturalisiert werden darf - auch nicht die von AfD - Anhängern? Dass die Gründe für das Aufkommen von Protestbewegungen (Atac, FFF, AfD u.a.) den jeweiligen Krisen geschuldet sind - den unbefriedigenden Antworten darauf bzw. der Ignoranz der regierenden Politik - scheint Habermas nicht der Rede wert. Warum?