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Wie Sex zur Wissenschaft wurde

Feuilletonredakteur
Vor 100 Jahren begründete der Berliner Arzt Iwan Bloch mit seinem Buch "Das Sexualleben in unserer Zeit" die Sexualwissenschaft. Bloch wollte sie als eigenständige, interdisziplinäre Forschung etablieren - eine Idee, von der im Deutschland des 21. Jahrhunderts kaum etwas übrig geblieben ist.

Wenn Magnus Hirschfeld der viel gefeierte "Einstein des Sex" war, dann war Iwan Bloch zumindest der Heisenberg. Denn der Berliner Hautarzt hat das theoretische Fundament zur Sexualwissenschaft gelegt, deren Gründung von Laien meist allein Hirschfeld zugeschrieben wird.

Doch Bloch erlebte die zwanziger Jahre, in denen die Sexualwissenschaft geradezu in Mode kam, nicht mehr. Er starb 1922, drei Jahre, nachdem sein Freund und Kollege Hirschfeld ein "Sexualwissenschaftliches Institut" gegründet hatte - dort, wo heute einsam das "Haus der Kulturen der Welt" im Tiergarten steht, war damals ein nobles Innenstadtviertel.

Während Hirschfeld mit weltweitem Echo Kongresse organisierte und sein Haus zu einer Pilgerstätte für Patienten und Wissenschaftler wurde, geriet Bloch allmählich ein bisschen in Vergessenheit. Aber der frühe Tod bewahrte ihn auch davor, mit anzusehen, wie 1933 Hirschfelds Institut von den Nazis verwüstet und die junge Wissenschaft als jüdische Perversion beschimpft wurde.

Blochs Buch "Das Sexualleben in unserer Zeit" gilt als das Gründungsmanifest der Disziplin. Die neue Wissenschaft sollte die Sexualität interdisziplinär "nicht bloß vom Standpunkte des Arztes, sondern auch von dem des Anthropologen und Kulturhistorikers" betrachten. In seiner Vorrede schrieb er, "dass eine rein medizinische Auffassung des Geschlechtslebens, obgleich sie immer den Kern der Sexualwissenschaft (hier taucht der Begriff zum ersten Male auf, die Red.) bilden wird, nicht ausreiche, um den vielseitigen Beziehungen des Sexuellen zu allen Gebieten des menschlichen Lebens gerecht zu werden."

Auf dem Deckblatt des im Verlag Louis Marcus veröffentlichten Werkes steht als Erscheinungsjahr "1907", deshalb wird die Geburt der Sexualwissenschaft von allen Historikern auf jenes Jahr datiert. In Wirklichkeit ist "Das Sexualleben in unserer Zeit" aber schon Anfang Dezember 1906 erschienen. Am 4. 12. 1906 bewarb der Verlag das Buch im "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel" unter der Rubrik "Neu erschienene Bücher". Und in meiner Ausgabe hat der erste Besitzer als Kaufdatum sogar den 1. Dezember 1906 notiert. Eine solche Vordatierung war gängige Verlagspraxis: Auch die Erstausgabe von Sigmund Freuds "Traumdeutung" erschien Ende 1899 mit dem Datum "1900".

Bloch wurde 1872 in Delmenhorst als Sohn eines Viehhändlers geboren und ging in Hannover zur Schule. Er studierte Medizin, ließ sich in Berlin als Arzt nieder, legte sich eine gewaltige Bibliothek zu und erwarb sich als Autodidakt eine universelle Bildung, die weit über sein Fachgebiet hinausging. Er schrieb auch ein Buch über die Einflüsse des Geruchssinns auf die erotischen Empfindungen ("Die sexuelle Osphresiologie, 1901) und machte Epoche als Wiederentdecker des Marquis de Sade, dessen "Die 120 Tage von Sodom" er 1904 erstmals nach dem Manuskript veröffentlichte. Das Buch wurde zu einer Bibel der Surrealisten.

Die erste "Sexuelle Revolution" um die vorige Jahrhundertwende herum wurde nicht nur von Bloch, Hirschfeld und ihren Kollegen Albert Moll und Max Marcuse getragen. Zu ihren Pionieren gehörte auch der Schweizer August Forel, dessen "Die Sexuelle Frage" 1905 in bahnbrechender Weise sogar die Sodomie völlig wertfrei wissenschaftlich betrachtet hatte. Ein anderer Vorreiter war der Brite Havelock Ellis. 1897 erschien sein Buch "Sexual Inversion", eine epochemachend sachliche Studie über Homosexualität. Sein "Sex in Relation to Society" (1910) spricht schon im Titel aus, was all diese Pioniere der Sexualwissenschaft von ihren Vorgängern unterscheidet: Sie sahen Sex als ein gesellschaftliches Phänomen. Bis dahin war der Mensch längst als politisches, religiöses, soziales und ökonomisches Wesen erklärt und akzeptiert - als sexuelles Wesen war er bestenfalls erkannt.

Erwin J. Haeberle, der beste Kenner der Frühgeschichte der Sexualwissenschaft, schreibt über Iwan Bloch: "In seiner privaten Praxis als Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten wurde er täglich mit den medizinischen Symptomen eines sexuellen Elends konfrontiert, dessen tiefere gesellschaftliche Ursachen wissenschaftlich unbeachtet blieben." Dieses "Elend" bestand vor allem in Geschlechtskrankheiten, die damals in einem kaum noch vorstellbaren Ausmaß wüteten, und in der Massenprostitution. Die Prostitution sei für die frühe Sexualwissenschaft die "Frage aller Fragen" gewesen, berichtet Haeberle, "weil sie einen ,Januskopf' hatte, dessen eines Antlitz auf die Natur, dessen anderes auf die Kultur hinwies, d. h. in der Prostitution fanden sich die biologischen und soziologischen Aspekte des Sexuellen in der auffälligsten Weise vereinigt."

Bloch und Hirschfeld waren - wie der Sozialist Ellis - auch auf politischem Gebiet eher fortschrittlich eingestellt. Damit waren sie eher Ausnahmen: Die wenigsten unter den Frauen und Männern, die in den vergangenen zwei Jahrhunderten über Sexualität und Gesellschaft nachgedacht haben, wollten Revolutionäre sein, doch die meisten haben als solche gewirkt. Wo schon das Verkünden der Fakten oder manchmal auch nur das bloße Aussprechen einen Bruch mit der Konvention des schamhaften Schweigens darstellen, wurden sie zu unfreiwilligen Rebellen. Prominente Beispiele dafür sind der geradezu manisch disziplinierte Bildungsbürger Alfred Kinsey, der zeitlebens treu die Republikaner wählte, oder der patriarchalische Freud. Erst recht gilt das für einen konservativen klinischen Psychiater wie Richard von Krafft-Ebing mit seiner Fallsammlung "Psychopathia Sexualis" von 1886, in der erstmals auch unerhörte sexuelle Abweichungen zum Gegenstand moralfreier "Erfahrungswissenschaft" wurden.

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Von dem Schlag 1933 hat sich die Sexualwissenschaft in Deutschland nie wieder erholt. Sie fand Asyl in Amerika: Forscher wie Kinsey oder dessen Fortsetzer William Masters und Virginia Johnson, die erstmals das menschliche Sexualverhalten auf breiter empirischer Datenbasis untersuchten, wurden ihre neuen Leitfiguren.

In Deutschland dagegen hat die Disziplin paradoxerweise gerade in dieser vollkommen sexualisierten Zeit einen schweren Stand. Als wären die Heilserwartungen, die man in den sechziger Jahren mit der sexuellen Aufklärung verknüpfte, heute peinlich, schämt man sich ihrer wie eines Schmuddelkindes. Das Institut für Sexualwissenschaft in Frankfurt ist Ende September dieses Jahres für immer geschlossen worden. Und in Berlin ist die Sexualwissenschaft eine Abteilung des Universitätsklinikums Charité. Haeberle kritisiert, dass die "quasi-automatische Gleichsetzung von Sexualwissenschaft und Sexualmedizin und ihre damit begründete Einsperrung in medizinische Fakultäten in Deutschland schon einmal überwunden" war. Doch von Blochs Idee einer eigenständigen interdisziplinären Forschung, ist am 100. Geburtstag nicht mehr viel übrig geblieben.

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