• Wallerstein, Immanuel. 1974. The Modern World-System I: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century. New York et al.: Academic Press.

  • Wallerstein, Immanuel. 1980. The Modern World-System II: Mercantilism and the Consolidation of the European World Economy, 1600–1750. New York et al.: Academic Press.

  • Wallerstein, Immanuel. 1989. The Modern World-System III: The Second Era of Great Expansion of the Capitalist Word-Economy, 1730 s–1840 s. New York et al.: Academic Press.

  • Wallerstein, Immanuel. 2011. The Modern World-System IV: Centrist Liberalism Triumphant, 1789–1914. Berkeley: University of California Press.

  • Wallerstein, Immanuel. 2004. Das moderne Weltsystem I: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert. Wien: Promedia.

  • Wallerstein, Immanuel. 2012. Das moderne Weltsystem II: Der Merkantilismus. Europa zwischen 1600 und 1750. Wien: Promedia.

  • Wallerstein, Immanuel. 2004. Das moderne Weltsystem III: Die große Expansion. Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert. Wien: Promedia.

  • Wallerstein, Immanuel. 2012. Das moderne Weltsystem IV: Der Siegeszug des Liberalismus (1789–1914). Wien: Promedia.

1 Rekonstruktion der zentralen Inhalte

In dem vierbändigen Werk Das moderne Weltsystem legt Immanuel Wallerstein (1930–2019) eine Gesellschaftstheorie vor, die sich in dreifacher Hinsicht als kritische Alternative zum sozialwissenschaftlichen Mainstream der Nachkriegszeit versteht (vgl. Wallerstein 2018, S. 25). Erstens wird als Analyseeinheit nicht der Nationalstaat, sondern ein globales Netzwerk von Produktions- und Tauschbeziehungen herangezogen. Zweitens werden die engen methodischen Reviere der einzelnen Sozialwissenschaften zugunsten einer holistischen Makro-Perspektive überwunden. Drittens wird die heutige Welt nicht zeitdiagnostisch, sondern unter Berücksichtigung der langen Dauer erklärt.

Das moderne Weltsystem (MWS) hat sich nach Wallerstein schon im „langen 16. Jahrhundert“ (1450–1640) herausgebildet und unterscheidet sich von anderen (vormodernen) Weltreichen oder Imperien, die ebenfalls durch internationalen Handel geprägt waren, wie etwa dem Chinesischen Kaiserreich, durch ein kompetitives und dezentralisiertes Staatensystem. Eine weitere Besonderheit des MWS ist seine kapitalistische Prägung. Waren die Imperien durch redistributiv-tributäre Ökonomien gekennzeichnet, so dominiert im MWS „die Produktion zum Zweck des Absatzes auf einem Markt mit dem Ziel, den größtmöglichen Profit zu realisieren“ (Wallerstein 1979, S. 43). Das dritte Merkmal sind strukturelle Ungleichheiten im Welthandel zwischen zentralen und peripheren Regionen, die im Wesentlichen mit starken und schwachen Staaten gleichzusetzen sind. Neuartig am MWS ist schließlich auch, dass es mittlerweile den gesamten Globus umspannt. Wallerstein wählt in seinem opus magnum einen Analysezeitraum von etwa 400 Jahren, um historische Trends zu erkennen, die die Handlungsmöglichkeiten von Staaten in der Gegenwart vorstrukturieren.

Das moderne Weltsystem enthält viel Geschichte und vergleichsweise wenig soziologische Theoriebildung (Zündorf 2010, S. 44). Band I dreht sich um die Geburt des kapitalistischen Weltsystems aus der Krise des Feudalismus im 14. und 15. Jahrhundert. Die epochale Strukturkrise wird durch das Zusammenspiel von Grundwidersprüchen in der Feudalstruktur, klimatischen Verschlechterungen und konjunkturellen Abschwüngen infolge technologisch bedingter Restriktionen erklärt. Die Krise wurde nach Wallerstein vor allem durch die geografische Ausweitung der Arbeitsteilung sowie durch starke Staatsapparate überwunden, die die überseeische Expansion vorantrieben. Im „ersten 16. Jahrhundert“ kristallisiert sich der Nordwesten Europas, darunter vor allem Spanien, zum „ökonomischen Herzstück der europäischen Weltwirtschaft“ heraus (Bd. I, S. 339). Das „zweite 16. Jahrhundert“ ist auf die Bildung von kohärenten Nationalstaaten ausgerichtet, die nach einer maximalen Nutzung der Schifffahrtswege streben (Bd. I, S. 374). Es lässt sich eine vorläufige Positionsverteilung der Staaten bzw. Regionen im Weltsystem ablesen: In der Peripherie des MWS (u. a. Osteuropa, Lateinamerika) leistet die Mehrheit „erzwungene verkaufsorientierte landwirtschaftliche Arbeit“ (Bd. I, S. 123). Die Vormachtstellung des Zentrums (u. a. Niederlande) resultiert vor allem aus der „politisch-ökonomischen Fähigkeit, die Preise für die importierten Rohstoffe niedrig zu halten“ (Bd. I, S. 285). Regionen der Semiperipherie (u. a. Norditalien) handeln mit Produkten des Zentrums in Peripherie-Regionen und/oder mit peripheren Waren im Zentrum.

Auf die Phase ökonomischer Expansion („A-Phase“) folgte eine Periode der Kontraktion („B-Phase“ des Kondratjew-Zyklus) im „langen 17. Jahrhundert“ (1600–1750), das vor allem durch Machtverschiebungen im Zentrum gekennzeichnet ist. In Band II stellt Wallerstein am Beispiel der Niederlande sein Modell des Hegemonialzyklus vor: Um 1600 wurde Holland nicht nur zum „wichtigsten […] Produktionszentrum der europäischen Weltwirtschaft“, sondern auch zum „Lagerhaus der Welt“ (Bd. II, S. 48). So wurde etwa importiertes englisches Tuch massenweise gefärbt und wieder nach England exportiert. Die Überlegenheit in Produktion und Handel setzte sich im Finanzwesen fort. Die Niederlande konnten jedoch nur zeitweise die Spielregeln im zwischenstaatlichen System bestimmen. Es folgten mehrere Phasen hegemonialer Kämpfe: Zuerst rivalisierten England und Frankreich mit den Niederlanden in einer ersten Periode des annähernden Mächtegleichgewichts; um 1800 kann England als neue Hegemonialmacht Frankreich ökonomisch, politisch und militärisch hinter sich lassen. Eine Schlüsselerklärung für diesen Verlauf sieht Wallerstein darin, dass England – anders als Frankreich – aufgrund von Rohstoffknappheit darauf angewiesen war, den Außenhandel zu intensivieren (Bd. II, S. 118).

Band III behandelt die zwei Megatrends des „langen 18. Jahrhunderts“ (1730–1840): Die Auswirkungen der politischen Revolution in Frankreich und der industriellen Revolution in England, die beide von Wallerstein nicht als abrupte Umwälzungen angesehen werden, sowie die erneute Expansion der Weltwirtschaft. Frankreichs Unterstützung der Kolonisten im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775–1783) schwächte die Briten nur geringfügig, verdoppelte jedoch die französische Staatsschuld (Bd. III, S. 120). Die darauffolgenden Revolten in Frankreich werden nicht als bürgerliches Aufbegehren interpretiert, da Bürgertum und Aristokratie längst ineinander aufgegangen seien. Es sei eine „Revolution […] im Bereich der Werte“ gewesen, in der „der ideologische Überbau den Anschluss an die ökonomische Basis“ gefunden habe (Bd. III, S. 57 und 78). Die industrielle Revolution sei ebenso nicht als Zäsur zu sehen, sondern als Verfestigung des schon lange bestehenden MWS (Bd. III, S. 372). Am bedeutendsten ist hingegen nach Wallerstein die im 18. Jahrhundert stattfindende Ausdehnung der europäischen Weltwirtschaft ins Osmanische und Russische Reich sowie nach Westafrika.

In Band IV wird der Triumphzug des zentralistisch ausgerichteten Liberalismus im 19. Jahrhundert „zur vorherrschenden Doktrin der Geokultur des Weltsystems“ beschrieben (Bd. IV, S. 321). In einer Art Fortsetzung des Slogans der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ bestand das Programm der Liberalen aus drei Hauptelementen: schrittweise Ausweitung des Wahlrechts, Ausbau der staatlichen Rolle beim Arbeitsschutz und in Gesundheitseinrichtungen, Ausgleich von Einkommensschwankungen im Lebenszyklus (Wallerstein 2018, S. 74). Das liberale Gleichheitsdispositiv legitimiere das kapitalistisch verfasste MWS, stehe jedoch in scharfem Widerspruch zu den weiterhin bestehenden (globalen) Ungleichheiten im MWS.

Die letzten zwei Bände der Buchreihe sind nicht erschienen. Der abschließende Band VI hätte „die strukturelle Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft zum Thema“ gehabt (Band IV, S. 14). Wallerstein sah das MWS zu Beginn des 21. Jahrhunderts an einem Tiefpunkt angelangt. Der Liberalismus als Ideologie, die Wohlfahrtsprojekte im Zentrum des MWS und das für die Kapitalakkumulation unabdingbare Staatssystem seien geschwächt und der sich abzeichnende Verlust der Vormachtstellung des Westens sowie die erschöpften Möglichkeiten der Unternehmen, soziale und ökologische Kosten zu externalisieren, würden das Ende des Kapitalismus ankündigen (vgl. Wallerstein 2002; Wallerstein et al. 2019). Welches Weltsystem dem Kapitalismus nachfolge, sei nicht vorhersagbar. Dieses habe jedoch die Lebensqualität der weltweiten Arbeiterschaft nicht verbessert, sondern verschlechtert (Wallerstein 1984, S. 89).

2 Theoretischer Kontext und Werkbezüge

Das moderne Weltsystem ist ein Frontalangriff auf „Modernisierungstheoretiker“ und deren Auffassung, dass die Industriemoderne – neben dem Neolithikum – die wirkungsmächtigste Entwicklung in der Geschichte der Menschheit sei, die langfristig den ganzen Globus erobern werde (u. a. Parsons 1986). Nach Wallerstein führen sehr unterschiedliche evolutionäre Pfade zur Nationenbildung, Demokratisierung oder Urbanisierung, und Probleme der Unterentwicklung ließen sich nicht durch „Entwicklungshilfe“ und ähnliches lösen, sondern nur durch grundlegenden Strukturwandel im Weltsystem.

Eine weitere Abgrenzung gegenüber Dependenztheoretikern (u. a. Henrique F. Cardoso, dem späteren Präsidenten Brasiliens) und Imperialismustheoretikern (u. a. Rosa Luxemburg) findet unter anderem insofern statt, als eine Theorie für einen geographisch breiten und zeitlich längerfristigen Rahmen (ca. 400 Jahre) entwickelt wird. Das moderne Weltsystem übernimmt Theorieelemente, die sich vor allem im dreibändigen Werk über Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philips II. des Historikers Fernand Braudel (1998) finden. Die These von der Einheit der Mittelmeerwelt überträgt Wallerstein auf die ganze Welt (Collins 1981, S. 46).

Adaptiert werden auch marxistische Kernargumente vom „ungleichen Tausch“ und vom Staat als politische Agentur des Kapitals: So wie Unternehmer im Zentrum des MWS den von Arbeitern geschaffenen Mehrwert sich aneignen würden, so transferierten sie auch das in der Peripherie erzeugte Surplus mit Hilfe starker Staatsapparate ins Zentrum. Während sich in Das moderne Weltsystem Literaturbezüge zum dritten Band des Kapitals finden, in dem Marx auf die Bedeutung des Weltmarkts beim Übergang vom Feudalismus zur kapitalistischen Produktionsweise eingeht, werden marxistische Autoren, wie etwa Paul Sweezy, die den Kapitalismus ebenfalls als internationales und hierarchisch strukturiertes System charakterisiert haben (vgl. Baran und Sweezy 1973), entweder ignoriert oder kritisiert. Mit der Institutionalisierung der Weltsystem-Theorie, also etwa der Gründung des Fernand Braudel Center an der Binghamton University (1976) oder der Internetzeitschrift Journal of World Systems Research (1996), bildete sich unter dem Titel Weltsystem-Analyse (WSA) eine Denkschule heraus, der sich heute weltweit Autoren, darunter Christopher Case-Dunn (1989) oder Emmanuel Arghiri (1972), zurechnen. Die WSA ist vor allem durch Wallersteins Konzeption von industriewirtschaftlichen Auf- und Abschwungsphasen (A- und B-Phasen), von polit-ökonomischen Hegemoniezyklen sowie durch die Zuordnung von Staaten zum Zentrum oder zur (Semi-) Peripherie des MWS beeinflusst (vgl. Babones 2015).

Dass der Kapitalismus durch aufeinanderfolgende Phasen der wirtschaftlichen Expansion und Kontraktion gekennzeichnet ist, gilt für Wallerstein als „eine der allgemeinen Aussagen der Sozialwissenschaften, die wohl am wenigsten umstritten ist“ (Hopkins und Wallerstein 1979, S. 165). Die von Wallerstein den Staaten zugedachte primäre Funktion besteht darin, das „‚freie‘ Funktionieren des kapitalistischen Marktes zu behindern, um somit die Gewinnaussichten einer oder mehrerer Gruppen zu verbessern“ (Wallerstein 1983, S. 306). Im Wettbewerb der Staaten des Zentrums habe es eine Abfolge von Hegemonien – Niederlande (1620–1650), Großbritannien (1850–1873), USA (1945–1967) – gegeben, die nicht durch wirtschaftliche Auf- oder Abschwünge allein erklärt werden könne und stets zyklusartig ein Ende fänden (vgl. das Hegemonialzyklen-Schema in Hopkins und Wallerstein 1982, S. 188 f.). Die primäre Funktion der Staaten im Zentrum des WMS sei es, Staaten der (Semi-) Peripherie zu disziplinieren, wie etwa im Fall des Einmarsches der USA in den Irak („Operation Desert Storm“ 1991). Dagegen sei es die Aufgabe der Staaten der Semipheripherie – Brasilien oder Indien im 21. Jahrhundert – den Druck aus der Peripherie zu dämpfen. Letztere würden mehrheitlich von politischen Klassen gelenkt, die die Interessen des Zentrums teilten.

3 Diskussion und Kritik

Gerade in der Zeit von akademischer Fragmentierung und Spezialisierung beeindruckt Wallersteins Ein-Mann-Projekt durch die synthetische Kraft umfassender Deutungen und durch die quasi enzyklopädische Beherrschung historischer Details (Nölke 2006, S. 349). Wallersteins größter Verdienst ist es vielleicht, als „Analytiker der Globalisierung avant la lettre“ (Zündorf 2010, S. 10) einen Perspektivenwechsel in den Sozialwissenschaften weg von der Analyse einzelner Nationalstaaten im Hier und Jetzt hin zur Betrachtung der langen Dauer des Weltsystems angeregt zu haben. Seit Erscheinen des ersten Bandes wurden auf Das moderne Weltsystem zumeist entweder Lobeshymnen gesungen (Thirsk 1977) oder es wurde einer Fundamentalkritik unterzogen (Zolberg 1981). Offensichtlich polarisieren die vier Bände sehr. Im Folgenden werden lediglich die wichtigsten Einwände gegen Wallersteins Theoriegebäude vorgestellt.

Erstens basiert Das moderne Weltsystem auf zahlreichen (struktur-)funktionalistischen Argumenten (vgl. Imbusch 1990, S. 137 ff.). Im Wesentlichen ist die Funktion der Staaten durch ihre Position im System weitgehend determiniert. Ist ein historisches Ereignis erstmals in das Prokrustesbett des Weltsystemmodells gezwängt worden, hat es den Anschein, als hätten die relevanten Akteure entsprechend gehandelt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Staaten keine (autonome) Handlungsfähigkeit („Agency“) zukommt (Skocpol 1977). Zweitens wird in Frage gestellt, ob der Kapitalismus tatsächlich erst im 16. Jahrhundert entstanden ist und ob die Ausbeutung der „Peripherie“ eine Grundvoraussetzung für den modernen Kapitalismus war (vgl. Elsenhans 1984). In einer Variante dieser Kritik wird Wallerstein Ethnozentrismus vorgehalten und argumentiert, dass wir in einem afro-euroasiatischen Weltsystem leben, das schon vor 5000 Jahren kapitalistische Elemente aufwies (Frank 1998). Drittens ist das weitgehend auf der Marxschen Arbeitswerttheorie basierende zentrale Theorie-Element des „ungleichen Tausches“, d. h. des Surplus-Transfers von der Peripherie in das Zentrum, problematisch, da nicht hinreichend zwischen Staaten und Unternehmen als eigentlichen Profiteuren unterschieden wird und Länder-Unterschiede in der Kapitalintensität und in der Qualifikation der Arbeitenden vernachlässigt werden (vgl. Zündorf 2010, S. 106). Viertens sind Inkonsistenzen zwischen den ersten drei Bänden und vierten Band sowie den aktuellsten Schriften nachweisbar. Während Wallerstein historische Entwicklungen anfangs gänzlich aus den Makro-Strukturen heraus erklärt, argumentierte er zuletzt, dass (in Krisenzeiten) Akteure durch ihren Willen die Strukturen des MWS ändern könnten. Genau genommen müsste daher das Hauptwerk „unter Berücksichtigung der neuen theoretischen Sichtweise neu geschrieben werden, damit es wieder eine in sich schlüssige Weltsicht ergibt“ (Heinze 2012, S. 351). Schließlich wird auch bemängelt, dass Wallerstein zentrale Thesen nicht systematisch empirisch fundiert. So sucht man etwa im modernen Weltsystem vergeblich nach Belegen für Wallersteins Kernargument, dass Feudalherren zur Umwandlung des Feudalismus in den Kapitalismus durch kollektive und gezielte Aktionen beigetragen hätten.