Rasender Stillstand – Rossinis „Il viaggio a Reims“ im Theater Aachen begeistert Jung und Alt

Theater Aachen/IL VIAGGIO A REIMS/ Foto © Annemone Taake

Wer jetzt in der Karnevalszeit eine spritzige, inspirierende und lebensnahe Komödie sehen will, der sollte nach Aachen ins Stadttheater fahren. Dort hat der niederländische Regisseur Michiel Dijkema die erste Oper inszeniert, die in einem Stau spielt. Es ist „Il viaggio a Reims“ von Gioachino Rossini. Mit enormer Spielfreude und großer Virtuosität spielt das relativ junge perfekt eingespielte Ensemble die Wartenden, die sich mit allerlei Flirts und skurrilen Situationen die Zeit vertreiben. (Rezension der Premiere v. 13. Januar 2024)

 

„Wer ist Europa?“ – unter dieses Motto stellt die neue Intendantin Elena Tzavara die Spielzeit 2023/24 im Theater Aachen. Da passt Gioachino Rossinis vorletzte Oper „Il viaggio a Reims“ ganz hervorragend, denn sie enthält als Schlusstableau ein Medley von acht regionaltypischen Musikstücken, die zum Teil immer noch Nationalhymnen sind. Sie passt auch deswegen besonders gut, weil Reims die Partnerstadt von Aachen ist. Reiseprospekte von Reims lagen im Zuschauerraum aus.

Die „Reise nach Reims“ ist eine Auftragskomposition Rossinis anlässlich der Krönung des französischen Königs Karl X. und wurde am 19. Juni 1825 in Anwesenheit Karls X. im Pariser Théâtre-Italien uraufgeführt. Die Oper mit neun Nummern in zwei Bildern hat zehn Hauptrollen, darunter drei Sopran-Primadonnen, eine Mezzosopran-Primadonna, zwei Tenöre, vier Bassbuffos und acht Nebenrollen. Sie ist unsterblich durch das Ensemble No. 7: „Gran pezzo concertante“ mit 14 Sängerinnen und Sängern, welches das erste Bild abschließt und damit alle anderen Ensembles des Komponisten in den Schatten stellt. Man konnte die Melodie dieses spritzigen Reitermarsches nicht mehr aus dem Kopf kriegen. Rossini hat den besten Sängerinnen und Sängern seiner Zeit Belcanto-Arien und -Ensembles auf den Leib geschrieben, die einfach gute Laune machen.

Theater Aachen/IL VIAGGIO A REIMS/ Foto © Annemone Taake

Als Regisseur Michiel Dijkema das Libretto zum ersten Mal las, erkannte er intuitiv, dass es gar keine Handlung enthält, nur zahlreiche Anspielungen auf Anwesende bei den Krönungsfeierlichkeiten. Die kennt heute keiner mehr. Er verlegte das Ganze kurzerhand in die Gegenwart – in einen Stau, denn alle wollen nach Reims zu den Krönungsfeierlichkeiten, aber es gibt in Plombières keine Pferde für die Kutschen. Die Texte und Rollen wurden leicht modifiziert, so wurde aus der Wirtin des Hotels die Reiseleiterin des Unternehmens „Zur goldenen Lilie“. Grund des Aufenthalts ist eine „Route Barrée“ – Straßensperrung. Das entscheidende Handlungsmoment ist das Warten. Während alle auf die Weiterfahrt warten, geschehen zahlreiche kleine und große Dramen. Die Figuren sind alle der Comedia dell´Arte angelehnt, und die überaus fantasievollen typgerechten Kostüme von Jula Reindell werfen Schlaglichter auf die Charaktere.

Suzanne Jerosme als Fashion Victim Contessa di Folleville im Leopardencatsuit verliert ihr Reisegepäck – eine Walze hat den Koffer platt gefahren – und gleich zwei Dottori, die Bass-Buffos Pawel Lawreszuk alias Barone di Trombonok und Stefan Hagendorn alias Don Prudenzio, wollen sich um ihr Wohl kümmern. Die polnische Witwe Alexandra Urquiola im Chanel-Kostümchen flirtet mit dem spanischen Don Alvara, dem Bass Jorge Ruvalcaba, und befeuert damit die Eifersucht des russischen Conte di Libenskof, des Tenors Randall Bills, mit dem sie das Auto teilt. Der aufkommende Streit wird durch die überirdisch schöne Harfenmusik der römischen Improvisationskünstlerin Corinna, lyrischer Sopran, Gastsängerin Laia Vallés im zugeknöpften weißen Kleid, verhindert. Auf der Stelle verliebt sich der englische Motorradrocker Jonathan Macker als Lord Sidney in sie, aber auch Ángel Macìas, der feurige französische Cavaliere Belfiore im helllila Maßanzug, macht ihr den Hof, wird aber bildstark – der Anzug hängt hinterher in Fetzen – abgewiesen. In einer unbeobachteten Minute schnüffelt SungJun Cho als Don Profondo – Nomen est Omen – im Reisegepäck der Mitreisenden und schwadroniert über nationale Eigenheiten.

Theater Aachen/IL VIAGGIO A REIMS/ Foto © Annemone Taake

Die schöne Corinna, die im Liebesglück mit Lord Sydney ihr Haar geöffnet und ihr hochgeschlossenes Kleid abgerüstet hat, singt begleitet von ihrer Harfe das traumhaft schöne Loblied auf den künftigen Monarchen, der diese Huldigung im Zuschauerraum huldvoll entgegennimmt. Die Solo-Harfenistin des Sinfonieorchesters Aachen kam zum Schlussapplaus mit auf die Bühne. Aus der Not macht man eine Tugend und beschließt, vor Ort ein Fest zu feiern – mit 50 Feiernden, dem Chor und Extrachor unter der Leitung von Jori Klomp auf der Bühne, und drei ungewöhnlichen Gästen.

Das Bühnenbild von Michiel Dijkema bestand aus vier Autos, einem Motorrad und einem kleinen Wohnanhänger, in dem Corinna mit ihrer Harfe reiste, auf einer Straßenfahrbahn mit Randstreifen, die man vom Rang aus besonders gut erkennen konnte. Aus Absperrplanken wurden für die Feier am Schluss Tische und Bänke improvisiert. Mit großem Schwung dirigierte Chanmin Chung das mit perfekter Italianitá aufspielende Sinfonieorchester Aachen.

Das Aachener Theater, frisch renoviert, ist am 15. Mai 1825 mit der Oper „Jessondra“ von Louis Spohr eröffnet worden. Im Gegensatz zu Rossinis Opern, von denen sich vor allem die Komödien „Il barbiere di Siviglia“ und „La Cenerentola“ im Repertoire gehalten haben, ist diese Oper heute vergessen.

Theater Aachen/IL VIAGGIO A REIMS/ Foto © Annemone Taake

Rossini ist in seinen Komödien, was Situationskomik, Musikalität und Virtuosität angeht, zeitlos. Auch die ernsten Rossini-Opern finden wieder ihr begeistertes Publikum, weil sie ausgesprochen schöne Melodien und anspruchsvolle Ensembles haben. Das Aachener Haus ist ideal für Belcanto-Opern, denn es ist mit seinen 730 Plätzen nicht zu groß und hat eine gute Akustik. Die neue Intendantin Elena Tzavara, über die anwesende Premierengäste mit großem Stolz sprachen, hat das mitten in der Stadt liegende Haus mit seiner Infrastruktur nach dem Vorbild der Oper Lyon tagsüber geöffnet und die Büste Herbert von Karajans im November 2023 ins Museum gegeben und wieder durch die ursprüngliche Mozart-Büste ersetzt. Elena Tzavara hat während ihrer Tätigkeit als Leiterin der Kinderoper Köln von 2009 bis 2012 durchgesetzt, dass dort auch Kompositionen zeitgenössischer Komponisten statt gekürzter Repertoireopern gespielt wurden. Am Preis „Oper des Jahres“, den die Kölner Oper 2012 bekam, hat Tzavara mit der Kölner Kinderoper großen Anteil.

„Il viaggio a Reims“ ist eine rundum kurzweilige Produktion, die ein Schlaglicht darauf wirft, wie wir Europäer wirklich sind. Unbedingt sehenswert!

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Theater Aachen / Stückeseite
  • Titelfoto: Theater Aachen/IL VIAGGIO A REIMS/ Foto © Annemone Taake
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