Ignaz Seipel, Univ.-Prof. Dr.

19.7.1876 – 2.8.1932
geb. in Wien, Österreich gest. in Wien, Österreich

Katholischer Theologe, österreichischer Bundeskanzler (1922-24, 1926-29)

Ehrungen

Ehrung Titel Datierung Fakultät
Ehrendoktorat Dr. jur. h.c. 1930/31 Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät
Denkmal Arkadenhof 1950 Katholisch-Theologische Fakultät

Die Ehrung wird 2022/23 aufgrund von Ignaz Seipels Antidemokratismus und Antisemitismus sowie seiner Förderung militanter rechter Gruppierungen als „diskussionswürdig“ eingestuft. Seipel unterstützte den Aufbau militanter rechtsradikaler Gruppierungen in Wien, u.a. seit 1920 als Vorstandsmitglied der Geheimorganisation „Vereinigung für Ordnung und Recht“, die die gewaltsame Ausschaltung der Sozialdemokratie plante und mit bayrischen Rechtsradikalen um Georg Escherich zusammenarbeitete. Während seiner 1. Amtszeit als Bundeskanzler (1922-1924) einer christlichsozial-großdeutschen Koalition koordinierte Seipel die Distribution von Industriegeldern an rechte Milizen, u.a. die rechte Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreichs unter dem Antisemiten Hermann Hiltl.
Im September 1920 forderte Seipel in einer deutlich antisemitisch getönten Rede einen Numerus clausus für Jüdinnen und Juden an höheren Schulen, Hochschulen und Universitäten.
Als Bundeskanzler von 1926 bis 1929 bekämpfte Seipel besonders die Sozialdemokratische Arbeiterpartei sowie den Austromarxismus und unterstützte die Militarisierung von paramilitärischen Milizen wie der Heimwehr. Zu diesem Zweck schloss er die CS mit der Großdeutschen Volkspartei, dem Landbund und der nationalsozialistischen Riehl- und Schulz-Gruppe zu einer antimarxistischen Front zusammen („Bürgerblock“).
Nach der Nationalratswahl in Österreich 1927 wurde die gegen die österreichische Demokratie gerichtete Grundhaltung forciert. Doch bereits 1920 hatte Seipel die parlamentarische Demokratie sehr skeptisch betrachtet und sich für eine teilweise Entmachtung des Parlaments zu Gunsten eines mit umfassenderen Befugnissen ausgestatteten Bundespräsidenten ausgesprochen. Unter dem politischen Schlagwort der „wahren Demokratie“ propagierte er eine Säuberung des Systems vom „Übel der Parteienherrschaft“.
Im austrofaschistischen Ständestaat galt Seipel als Gründungsvater des Regimes.

Funktionen

Senator Katholisch-Theologische Fakultät 1918/19

Ignaz Seipel wurde am 19. Juli 1876 als Sohn eines Fiakers, später Theaterportiers in kleinbürgerliche Verhältnisse der Wiener Vorstadt geboren und früh Halbwaise. Nach der Matura am Staatsgymnasium in Wien-Meidling 1895 wurde er ins Wiener Priesterseminar aufgenommen und studierte an der Universität Wien Theologie. 1899 wurde er zum Priester geweiht und diente dann einige Jahre als Hilfsseelsorger und Religionslehrer. In dieser Zeit promovierte er 1903 an der Theologischen Fakultät Wien zur Trinitätslehre Hermann Schells und habilitierte sich 1907 als Schüler des Moraltheologen Martin Schindler zu „wirtschaftsethischen Lehren der Kirchenväter“.

Erst 33-jährig wurde Seipel 1909 als Professor für Moraltheologie nach Salzburg berufen, wo er maßgeblich zur wissenschaftlichen Aufwertung des akademischen Betriebes der Fakultät beitrug und bald eine führende intellektuelle Rolle im katholischen Gesellschaftsleben der Stadt einnahm. Hier publizierte er im Kriegsjahr 1916 auch sein staatstheoretisches Hauptwerk („Nation und Staat“), mit dem er sich im katholisch-politischen Establishment der Monarchie als politischer Denker und potenzieller Wortführer empfahl.

Als Nachfolger Schindlers 1917 auf den moraltheologischen Lehrstuhl nach Wien berufen wurde er alsbald von der Politik vereinnahmt und zog sich universitär auf die Rolle eines Honorarprofessors zurück.

Neuscholastisch geprägtes Denken bestimmte dessen ungeachtet weiter das politische Handeln, etwa in der emotionalen Indifferenz gegenüber politischen Systemen, die er primär nach deren Gewährleistung des zeitlichen wie (im kirchlichen Sinne) überzeitlichen Gemeinwohls der Bevölkerung beurteilte. Auch als Politiker behielt Seipel eine strikt nach priesterlichen Idealen ausgerichtete Lebensführung und einen auffallend bescheidenen Lebensstil bei.

Die politische Laufbahn

Im Herbst 1918 amtierte Seipel für einige Tage als Minister für Soziale Fürsorge im letzten kaiserlichen Kabinett. Ab 1919 bis zu seinem Tod 1932 gehörte er dem Nationalrat an. In den kritischen Novembertagen 1918 vor Ausrufung der Republik erwirkte Seipel in Absprache mit maßgeblichen kirchlichen wie katholisch-politischen Größen bei Kaiser Karl die Akzeptanz einer Erklärung, in der dieser auf jeden weiteren Anteil an den Staatsgeschäften verzichtete und sich dem Ergebnis einer künftigen Volksabstimmung über die Staatsform unterwarf. Diese Erklärung schuf für monarchistisch gesinnte Teile der Christlichsozialen Partei und Kirche eine Brücke zur Akzeptanz der neuen Verhältnisse und trug zusammen mit der von Seipel anfangs befürworteten Koalition mit den Sozialdemokraten und Großdeutschen entscheidend zur Konsolidierung des jungen neuen Staatswesens bei.

Nach Aufkündigung der Koalition avancierte Seipel als Ko-Architekt der Verfassung von 1920 und Obmann der Christlichsozialen Partei ab 1921 zu einem der wichtigsten Politiker der Ersten Republik und einem der bedeutendsten Exponenten des politischen Katholizismus des Landes bzw. ideologischen Gegenspieler zum sozialdemokratischen Parteiführer Otto Bauer. Von 1922 bis 1924 sowie 1926 bis 1929 amtierte er als Bundeskanzler, im Herbst 1930 als Außenminister der Republik. Hauptverdienst der Kanzlerschaft war zweifellos die Währungsreform von 1922, die das Ende der Nachkriegsinflation bewirkte, allerdings um den Preis des Anstiegs der Arbeitslosigkeit und Sinkens der Realeinkommen. Seine bestimmende Persönlichkeit ließ die Erste Republik zum „Kanzlerstaat“ werden, obwohl die Verfassung dafür wenig Grundlage bot (s. fehlende Richt­linien-Kompetenz). 1924–26 unternahm Seipel zahlreiche Vortragsreisen ins Ausland und war publizistisch tätig.

Die zweite Kanzlerschaft ab 1926 war vom Versuch der Ausgrenzung der Sozialdemokraten (SDAP) geprägt, wofür eine wachsende Kulturkampfstimmung maßgeblich war. In der vormals antisemitisch-populistischen, primär an Klientelpolitik orientierten Christlichsozialen Partei war mit Seipel ein ‚dezidiert katholischer‘ Flügel ans Ruder gekommen, der kirchliche Kulturbastionen um jeden Preis halten wollte (v.a. das absolute Scheidungsverbot für Katholiken). Im Widerstreit der Loyalitäten entschied sich Seipel für streng kirchliche Positionen, die er zuweilen strikter auslegte als der Episkopat des Landes, und wurde darin vom Nuntius in Wien, Enrico Sibilia, bestärkt. Seipel ließ sich auch zu diskreten diplomatischen Schritten im Sinne des Hl. Stuhles in Russland bewegen und wechselte dazu den Botschafter in Moskau aus. Einer Übersiedlung des Völkerbundes nach Wien stand er wegen „sittlicher Gefahren“, die er von vielen liberalen Diplomaten für Wien erwartete, ablehnend gegenüber.

Einen Wendepunkt für seine politische Haltung markierte zweifellos der Brand des Justizpalastes 1927 samt dem Massaker an Arbeitern, das Seipel endgültig als Feindbild der Sozialdemokratie einzementierte, die ihn als „Prälat ohne Milde“ attackierte und eine Kirchenaustrittswelle initiierte. Spätestens ab dieser Phase seines Wirkens trifft die Einschätzung Thomas Olechowskis zu, dass Seipel „sowohl dem republikanischen Prinzip als auch der Demokratie nach westlich-amerikanischem Verständnis skeptisch bis ablehnend gegenüberstand“.

Im Gefolge dessen stellte Seipel in Wort und Schrift die Lösungskompetenz der „Parteienherrschaft“ zunehmend in Frage und liebäugelte mit Modellen autoritärer Herrschaft (Heimwehren, Mussolini-Staat, präsidiale Republik). 1929 offenbarte er gegenüber dem Nuntius als Beweggrund für seinen Rücktritt als Kanzler, damit den Weg für energische Schritte gegen die Sozialdemokratie freizumachen, die er mit Rücksicht auf die Priesterwürde selbst nicht verantworten wollte. Zuletzt erblickte er im Stände-Konzept der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo Anno, die er in autoritärem Sinne auslegte, eine genuin katholische Antwort auf die brennende Frage und widmete ihr in einer Vortragsreise durch ganz Österreich Anfang August 1932 seine letzten Kräfte. In der Anschlussfrage blieb Seipel ungeachtet seiner beherzten Schritte im Sinne eines selbständigen Österreich ambivalent, neigte jedoch stärker zu Mitteleuropa- als zu Gesamtdeutschland-Konzepten.

Seipels nicht zuletzt durch rastlose Tätigkeit stets angeschlagene und nach einem Attentat 1924 schwer geschädigte Gesundheit machte den Wunsch illusorisch, 1931 als Bundespräsident zu kandidieren, und erlaubte keine Wiederaufnahme der universitären Lehrtätigkeit. Im selben Jahr bescherte ihm die Wiener Juridische Fakultät mit dem Ehrendoktorat eine letzte akademische Ehrung. Seipel verstarb nur 56-jährig am 2. August 1932 in einem Sanatorium im niederösterreichischen Pernitz.

Werke (Auswahl)

  • Die wirtschaftsethischen Lehren der Kirchenväter (= Theol. Stud. der Leo-Ges. 18) (Habilitationsschrift Universität Wien 1907).
  • Die Katholiken im gegenwärtigen Weltkrieg, Kriegsflugblätter (Salzburg 1914).
  • Nation und Staat (Wien 1916).
  • Neue Ziele und Aufgaben der katholischen Moraltheologie (o. O. 1926).
  • Wesen und Aufgabe der Politik und Der gegenwärtige Stand der Weltpolitik (Innsbruck 1930).
  • Der Kampf um die österreichische Verfassung (Wien 1930).
  • Der christliche Staatsmann (Augsburg 1931).
  • Der Friede. Ein sittliches und gesellschaftliches Problem (= Bücherei des Kath. Gedankens 10) (Wien 1937).

 

Archiv der Universität Wien, Rektorat GZ 629 ex 1930/31, GZ 1250 ex 1938/39

Oliver Rathkolb, Rupert Klieber

Zuletzt aktualisiert am 25.07.2023 - 21:25

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