Das Urteil erfuhr der Delinquent aus dem Autoradio. Mit Tempo 160 raste der DDR-Liedermacher Wolf Biermann am 16. November 1976 in einem Dienstwagen der IG Metall, gesteuert von einem Chauffeur, über die Autobahn nach Bochum, als er plötzlich im Autoradio auf die laufenden Nachrichten aufmerksam wurde. Denn der Sprecher verkündete: „Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik entzogen.“
Biermann fiel aus allen Wolken. Einen Tag zuvor hatte er seinen 40. Geburtstag gefeiert und war damit an Lebensjahren älter geworden, als sein Vater Dagobert Biermann hatte werden dürfen – der überzeugte Kommunist und Jude war 1943 im Alter von 39 Jahren im KZ Auschwitz ermordet worden. Und drei Tage zuvor hatte Wolf Biermann in Köln vor mehreren tausend Zuhörer ein Konzert gegeben, das erste seit Ende 1965. Da nämlich hatte das SED-Zentralkomitee ihm wie einer Reihe anderer durchweg links eingestellter DDR-Künstler (etwa Stefan Heym und Heiner Müller) ein Auftrittsverbot auferlegt – für einen Liedermacher wie ihn praktisch ein Berufsverbot.
Deshalb war er nur nach Einholen der Zusicherung, nach seiner Tournee mit geplanten fünf Konzerten nach Ost-Berlin zurückkehren zu dürfen, in die Bundesrepublik gereist. Doch am 16. November 1976, einem Dienstag, ließ SED-Partei- und DDR-Staatschef Erich Honecker in der regulären Sitzung des Politbüros überraschend als vierten Tagesordnungspunkt (nach der formalen Bestätigung des Protokolls über die vorherige Sitzung, den Glückwünschen zu Leonid Breschnews 70. Geburtstag und der Absegnung der geplanten Ausstrahlung von Honeckers Neujahrsansprache im DDR-Fernsehen) die Aberkennung der Staatsbürgerschaft Biermanns behandeln.
Laut dem überlieferten Ergebnisprotokoll bestätigten die SED-Machthaber den Vorschlag des „Berichterstatters“ Honecker. Das Politbüro verabschiedete ferner sogar den Wortlaut der Erklärung, die „die zuständigen Grenzorgane gegenüber Biermann“ abgeben sollten: „Sie haben während ihres Aufenthalts in der BRD ihre staatsbürgerlichen Pflichten gegenüber der DDR grob verletzt. Deshalb wurde ihnen entsprechend Paragraf 13 des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt. Aufgrund dessen wird Ihnen die Einreise in die DDR und die Durchreise im Transit durch die DDR untersagt.“
Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ (ND) veröffentlichte eine ausführlichere Begründung. Biermann habe „mit seinem feindseligen Auftreten“ gegenüber der DDR „sich selbst den Boden für die weitere Gewährung der Staatsbürgerschaft der DDR entzogen“. Was aber wurde dem Liedermacher konkret vorgeworfen? „Am 13. November trat er in einer Massenveranstaltung in der Kölner Sporthalle auf, die vom Fernsehen und Rundfunk verbreitet wurde“, hieß in dem großen Zweispalter auf der zweiten Seite der Parteizeitung. „Er hat den Abend ganz allein bestritten und ein Programm gestaltet, das sich ganz bewusst und gezielt gegen die DDR und den Sozialismus richtete.“
Der Artikel stammte vom stellvertretenden ND-Chefredakteur Günter Kertzscher, der übrigens 1934 Mitglied der SA geworden und 1937 der NSDAP beigetreten war, unmittelbar nach dem (kurzen) Ende der Aufnahmesperre. Kertzscher legte gegen Biermann richtig los: „Was er dort noch als DDR-Bürger und in einem kapitalistischen Land an Hass, Verleumdungen und Beleidigungen gegen unseren sozialistischen Staat und seine Bürger losgelassen hat, macht das Maß voll. Schon jahrelang hat er unter dem Beifall unserer Feinde sein Gift gegen die DDR verspritzt.“ Fast lustig immerhin war Kertzschers Formulierung, der Liedermacher gebe vor, „links zu fahren“, stehe „in Wahrheit rechts“.
Die Attacke des ND-Vizechefs wurde schon in der nächsten WELT-Ausgabe indirekt widerlegt. Denn Günter Zehm, damals verantwortlicher Redakteur für Kulturpolitik der seinerzeit in Bonn ansässigen Redaktion und wirklich ein sehr konservativer Journalist, analysierte im Leitartikel am 18. November 1976 die Tournee des Liedermachers durch die Bundesrepublik mit anschließender Rückkehr in die SED-Diktatur ebenso kritisch wie scharf formuliert.
„Biermann wollte den Pelz waschen, ohne ihn nass zu machen. Er wollte den Kuchen essen und ihn gleichzeitig behalten. Weniger metaphorisch ausgedrückt: Er wollte der totalitären Diktatur zu Leibe rücken, ohne sie doch im Kern zu treffen.“ Zehm schloss: „So etwas konnte auf die Dauer nicht gutgehen.“ Nach Kertzschers angeblichem „Beifall unserer Feinde“ klang das nicht – und WELT gehörte zweifellos zu den schärfsten Feinden der SED-Diktatur.
Tatsächlich war Biermann 1976 noch überzeugter Kommunist. Doch zugleich verspottete er die SED-Größen. Über den Ost-Berliner Parteichef Paul Verner, zugleich Mitglied des Politbüros, dichtete er etwa: „Das ist der ganze Verner Paul, ein Spatzenhirn mit Löwenmaul ...“ Auch Horst Sindermann, damals gerade vom bedeutungslosen Posten des Vorsitzenden DDR-Ministerrates abgeschoben auf die noch unbedeutendere Funktion des Vorsitzenden der DDR- „Volkskammer“, bekam seinen Spott ab. Biermann reimte: „Ach Sindermann, du blinder Mann, Du richtest nur noch Schaden an.“
1936 in eine kommunistisch geprägte Familie geboren, wuchs Biermann nach dem Zweiten Weltkrieg als Halbwaise in seiner schwer zerstörten Heimatstadt auf. 1950, als 13-Jähriger, fuhr er nach Ost-Berlin zum „Deutschlandtreffen der Jugend“ und gelobte dort Treue zur DDR. Mit 16 Jahren siedelte Biermann 1953, kurz vor dem Volksaufstand am 17. Juni, in die DDR über – auf Anweisung der westdeutschen KPD, die in ihm offenbar ein Nachwuchstalent sah. Er machte Abitur und begann ein Studium der „Politischen Ökonomie“, also des Marxismus-Leninismus. Später wechselte er zum Fach Philosophie, aber 1963 wurde ihm der Abschluss verweigert.
Denn Biermann hatte sich inzwischen zum unorthodoxen Kommunisten gewandelt, der einige der zahlreichen Missstände der SED-Diktatur ansprach. Schon 1963 erhielt er ein erstes, noch zeitlich begrenztes Auftrittsverbot in der DDR. Im folgenden Jahr reiste er zum ersten Mal zu einem Konzert in die Bundesrepublik, drei Jahre nach dem Mauerbau – das zeigt, dass Biermann noch privilegiert war. Vielleicht hoffte die Partei aber auch nur, dass er freiwillig im Westen bleiben würde. Als er jedoch auch von einer zweiten Westreise nach Ost-Berlin zurückkehrte, war ein totales Auftrittsverbot die Folge. Nun war Biermann mit gerade einmal 29 Jahren ein Dissident. Veröffentlichen konnte er nur noch in West-Verlagen, auftreten gar nicht mehr.
Die Ausbürgerung nach der unter falschen Zusicherungen genehmigten Westreise im November 1976 war die logische Konsequenz. Nur einmal, 1982, durfte er ausnahmsweise nach Grünheide bei Ost-Berlin reisen, um sich von seinem todkranken Freund Robert Havemann zu verabschieden. Biermann bekannte sich nun zum „Eurokommunismus“; sein Manager wurde der Stasi-Spitzel Diether Dehm (IM „Willy“). Über den Umfang dieses Verrates stritten sich Biermann und Dehm später teilweise öffentlich.
Nach der Wiedervereinigung fand Biermann in den rund 50.000 erhaltenen Seiten seiner Stasi-Akte Hinweise auf mehr als 70 Spitzel, die im Laufe der Jahrzehnte über ihn berichteten. Eine Tätigkeit als Chefkorrespondent Kultur bei WELT ab 2000 blieb Episode; Biermann profilierte sich aber als unabhängige Stimme mit stets streitbaren Thesen. 2007 wurde er Ehrenbürger des Landes Berlin, was die SED-Nachfolgepartei verhindern wollte – hatte der Liedermacher doch die rot-rote Koalition in der Bundeshauptstadt doch gerügt: Es sei „verbrecherisch, dass die SPD mit der PDS ins Bett“ gehe. Am 15. November 2022 beging Biermann seinen 86. Geburtstag.
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