Horst Kasner: Vom Vater lernte Merkel die Lust am Widerborstigen - WELT
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Vom Vater lernte Merkel die Lust am Widerborstigen

Theologe Horst Kasner Theologe Horst Kasner
Horst Kasner wusste wie es westlich der Mauer aussah, Angela Merkel nicht
Quelle: dpa/DPA
1954 zog der Theologe Horst Kasner aus Hamburg in die SED-regierte Provinz und fällte damit die zentrale Lebensentscheidung für die Biografie seine Tochter.

Was wäre aus Angela Merkel geworden, hätte ihr Vater 1954 sie nicht als Baby aus der Bundesrepublik in die DDR gebracht, aus dem weltoffenen Hamburg nach Quitzow im damals noch bestehenden SED-regierten Land Brandenburg?

Es hat die eine oder andere Andeutung Merkels gegeben, dass sie sich darüber so manche Gedanken gemacht hat. Wenn der Eindruck nicht täuschte, kam in solchen Andeutungen eine komplizierte Gefühlslage zum Ausdruck. Es war ja die zentrale Lebensentscheidung ihrer Biografie. Ohne den fremdverfügten Umzug wäre Merkel möglicherweise nicht Bundeskanzlerin geworden. Ohne den fremdbestimmten Umzug hätte sie aber eine andere Jugend gehabt, und wer weiß, was in der Rückschau auf ein verwirrend abenteuerliches Leben am Ende schwerer wiegen wird.

Fremdbestimmt? Es war doch ihr Vater Horst Kasner, der den Entschluss gefasst hat, nach Brandenburg zu gehen.

Er folgte dem Wunsch des Hamburger Bischofs Hans-Otto Wölber, einem an der Alster seinerzeit hoch geehrten Vertreters der nach-nazistischen, neuen freien Hansestadt. In Hamburg hatte der damals 28 Jahre alte Berliner Polizistensohn Kasner sein Theologiestudium abgeschlossen.

In Hamburg hatte er die aus Danzig vertriebene junge Latein- und Englischlehrerin Herlind Jentzsch geheiratet. Aus Hamburg weggehen? Die Heimatstadt des KPD-Führers Ernst Thälmann, die Stadt der roten Aufstände Anfang der 20er-Jahre und blutiger Kämpfe zwischen Nazis und Kommunisten zehn Jahre später, war gerade dabei, sich aus dem Horror der Feuersturmnächte der Zukunft zuzuwenden.

Deutschland war seelisch noch nicht geteilt

Seit 1946 hatte der aus China und den USA zurückgekehrte SPD-Emigrant Max Brauer die Stadt regiert, und die KPD war rasch zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Im Dezember 1953 übernahm ein CDU-Bündnis die Regierungsgeschäfte; der neue Bürgermeister Kurt Sieveking, aus alter Hamburger Familie, war unter den Nazis in das jüdische Bankhaus Warburg eingetreten, noch vor der „Arisierung“ der Bank. Es gab 1954 eine florierende Konzert- und Theaterszene, die Presse erkor sich Hamburg statt Berlin zum neuen Sitz, der Aufschwung blühte. Und aus dieser Stadt wollte Horst Kasner in den Osten gehen, aufs Land, in die „Sowjetzone“?

Was aus heutiger Sicht unverständlich erscheint, war im Herbst des Jahres 1954 keineswegs absurd. Deutschland war seelisch noch nicht geteilt. Man erwartete nach Stalins Tod Änderungen. Die vier Mächte redeten wieder miteinander. An eine Mauer dachte niemand. Ulbrichts Regime schien nach dem Arbeiteraufstand des Vorjahres auf verlorenem Posten zu stehen. Die SED wirkte instabil; sie würde vergehen, sobald die Russen abzögen. Die Trübsal der späten DDR hatte sich noch nicht lähmend über alle Gemüter gelegt.

Führung im Osten dachte damals noch gesamtdeutsch

Da wollte Bischof Wölber die Weichen für Eventualitäten stellen. Brandenburg durfte nicht pfarrerlos werden. Hamburgs Hinterland reichte geistig bis nach Breslau und Königsberg. Brandenburg war nahe. Horst Kasner war im Übrigen keineswegs der einzige, der damals aus Hamburg in die SBZ umzog. Die SED machte Angebote, um Fachkräfte anzuwerben. Auch die Führung im Osten dachte damals noch gesamtdeutsch.

Kasner übernahm eine Pfarrstelle in Quitzow. Er fiel dort rasch dem 15 Jahre älteren Superintendenten Albrecht Schönherr auf, damals Direktor des Brandenburger Predigerseminars. 1957 beauftragte er Kasner mit dem Aufbau eines Pastoralkollegs für angehende Theologen. Familie Kasner zog auf den Waldhof bei Templin; abgelegener konnte man kaum leben, drei Jahre nach dem Weggang aus einer Millionenstadt, die anglophil geprägt war und in der das kirchliche Bürgertum enge Verbindungen nach Lateinamerika hatte.

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Die Umsiedler gingen aber nicht aus Gehorsam, sondern aus dem Gegenteil. Sie waren eigensinnig, sie waren linksbürgerlich, abenteuerlustig dazu, und sarkastisch gegenüber dem chromblitzenden Egoismus, den sie im Westen witterten. Optische Ähnlichkeiten der jungen DDR mit dem NS-Regime war eben notwendig, um kleine Ex-Nazis zu binden, oder den Russen geschuldet; die Umsiedler wollten linke deutsche Tradition weiterentwickeln, und sie kamen mit innerlich gebleckten Zähnen in den Osten, keine leichte Beute für SED-Apparatschiks.

Zumal Ost-Berlin war voll von solchen eigensinnigen Einzelkämpfern. Horst Kasner machte 1957 beim „Weißenseer Kreis“ mit, dessen Wortführer, unter anderem Schönherr, den strikten Westkurs des damals noch Berlin-Brandenburger Gesamtbischofs Otto Dibelius kritisierten, der in West-Berlin lebte. Es ging um links-christliche Alternativen, es war mehr ein innerkirchliches Ringen, es war noch kein völkerrechtliches Abgrenzungsdenken.

„Roter Kasner“ beharrte auf seinem Weltbild

Die Mauer hat Horst Kasner dann mitgefangen. Nun wurde der Auftrag Bischof Wölbers ein persönlicher Auftrag zur Selbstbehauptung. Und es würde kaum verwundern, hätte Kasner darin nicht ein Lebenselixier gesehen. Der Kampf um Freiräume mit allen Finessen hatte ja auch etwas Abenteuerliches, im Gegensatz zur satten Westkirche. Kasner bekam Privilegien, Westreisen, zwei Autos, Studienplätze für die Kinder. Er hat mit der Stasi geredet, sich aber offenkundig nicht fangen lassen. Im Waldhof gab es Westfernsehen, Westredner, Westliteratur.

Der eigensinnige „rote Kasner“ beharrte auf seinem Weltbild und einem strengen Arbeitsethos. Seine Regimekontakte waren vielleicht riskantes Schachspiel, aber kein Anbiedern; solche Menschen taugen nicht zu Linientreue und Verrat.

Merkel lernte Lust am Widerborstigen von ihm

Er freilich, der aus dem Studium Heidelberg und Hamburg kannte, wusste eben, wie es westlich der Mauer aussah. Angela Merkel wusste es nicht. Man kann sich vorstellen, wie sie, die in den 80er-Jahren in Sichtweite des Reichstags eine verfallene Wohnung besetzte, auf die kolportierte Bemerkung ihres Vaters bei dessen Besuch reagiert hat: „Weit hast Du es ja noch nicht gebracht.“ Sein eingesperrtes Leben war selbstverfügt, er hatte Lebensentscheidungen treffen dürfen. Das erzwungene Ruinenleben seiner Tochter, trotz Studium und Russlandfahrten, war fremdbestimmt.

Gelernt und ererbt hat sie von ihrem Vater die Lust am Widerborstigen. Erlebt hat sie durch ihn Existenzlagen, die listig machen, und viele Alltagsprobleme relativieren. Die Prägnanz, wenngleich nicht gerade familiäre Präsenz, der Vater hat mitgeholfen, Angela Merkel wetterfest zu machen.

Lob für die Tochter

Horst Kasner hat am 6.August seinen 85.Geburtstag noch erlebt. Er war stolz auf seine Tochter, aber hat es natürlich nicht wirklich gezeigt; Ostumsiedler dieses Schlages waren so. Ihre Lebensentscheidung, am selbst gewählten abgelegenen Ort wichtig zu sein, basierte auf kaum verhüllter Egozentrik; Lob für die Tochter, und sei sie Bundeskanzlerin, ist in solchem Weltbild irgendwie auch Schwäche. Es würde aber nicht erstaunen, wenn er das Amt als Krönung eines Lebensweges betrachtet hätte, der immer voll durch die Wand führte.

Am 2. September ist Horst Kasner, bis zuletzt aktiver Pfarrer auf dem brandenburgischen Lande und vermutlich mit sich ganz und gar im Reinen, gestorben.

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