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Horst Köhler rutscht für die Wiederwahl nach links

Horst Köhler Horst Köhler
Bundespräsident Horst Köhler und seine Frau Eva Luise geben sich volksnah
Quelle: dpa
Am 23. Mai wird der Bundespräsident gewählt. Horst Köhler will eine zweite Amtszeit – und ist der erste Präsident, der sich für seine Wiederwahl gegen Herausforderer behaupten muss. Sein Vorsprung ist knapp. Darum gehört auch Kapitalismuskritik zum Repertoire des ehemaligen IWF-Chefs.

Die Sonne strahlt. Viele Menschen säumen den Marktplatz im schwäbischen Reutlingen. Horst Köhler nähert sich. Die versammelten Bürger applaudieren, winken oder versuchen, ein Foto mit dem Bundespräsidenten zu erheischen. „Es ist angerichtet“, verkündet die Oberbürgermeisterin stolz. Die Honoratioren sind präsent. Das Jugendorchester spielt auf. Die Stadt ist stolz auf ihren hohen Besucher. Es ist schließlich ein halbes Jahrhundert her, dass ein Bundespräsident Reutlingen besucht hat.

Horst Köhler mag die Reisen durch das eigene Land, er schätzt die Gespräche und Begegnungen jenseits von Berlin. Zu rund zehn „Regionalbesuchen“ bricht Köhler pro Jahr auf. In dieser Woche, am Dienstag nach Ostern, flog er für zwei Tage nach Bayern. Dem schlossen sich zwei weitere Tage in Baden-Württemberg an, seiner Wahlheimat. In Ludwigsburg ist der Mann aufgewachsen, der nächsten Monat wiedergewählt werden will. Köhler strebt eine zweite Amtszeit im Schloss Bellevue an – ohne allerdings eine sichere Mehrheit zu besitzen. Das ist ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik, die just an jenem 23. Mai ihren 60. Geburtstag begeht. Es dürfte eine spannende Bundesversammlung werden.

Knapp fünf Jahre liegt Köhlers erste Wahl zum Staatsoberhaupt zurück. Dieser Mai 2004 erscheint heute wie graue Vorzeit. Ein Mann namens Gerhard Schröder regierte das Land. Köhler, damals weithin unbekannt, galt als „schwarz-gelber Kandidat“, als Vorbote einer Koalition aus Union und FDP. „Vorfahrt für Arbeit“, verlangte er damals. Ein Jahr später stimmte Köhler der Auflösung des Bundestags und Neuwahlen zu.

Doch zur erhofften schwarz-gelben Regierung kam es nicht. Angela Merkel zog ins Kanzleramt, an der Spitze der großen Koalition moderiert und koordiniert sie seither. Zuweilen kommt die Bundeskanzlerin recht präsidial daher; kürzlich bezeichnete sie sich gar, Sigmund Freud ließ grüßen, als „Staatsoberhaupt“. Köhler hat sich zwar nicht zum Regierungschef ausgerufen, agierte aber stets überaus politisch, verweigerte die Ausfertigung von Gesetzen, mischte sich in die Tagespolitik ein, beklagte die politische Streitkultur oder forderte eine „Agenda 2020“.

Mit Köhlers Interesse an einer zweiten Amtszeit war in Berlin weitgehend gerechnet worden, im Mai vorigen Jahres kündigte er seine Kandidatur an. Die SPD unter Kurt Beck nominierte damals Gesine Schwan, die bereits 2004 gegen Köhler angetreten und recht knapp unterlegen war. Heute wirbelt die Wirtschaftkrise das Land durcheinander. Köhler, einst Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), sieht sich hier gefragt.

Erst kürzlich widmete Köhler seine „Berliner Rede“ der Krise. Der rhetorisch sonst wenig brillante Präsident geißelte engagiert das kurzfristige Profitstreben, mahnte Regeln an und erklärte die Krise zur Chance eines Neuanfangs. Dabei klang es ein wenig wohlfeil, als er konstatierte, besser hätte man in eine Eisenbahnlinie durch den von ihm geliebten afrikanischen Kontinent investiert als in Papiere der Lehman Brothers. Kapitalismuskritik ist inzwischen eben längst kein Privileg der Linken mehr.

Der IWF-Chef a.D. gestand ein, mit Vorstößen für mehr Regeln einst gescheitert zu sein. Eines aber fehlte in Köhlers Rede: Dass auch er manche Bedrohung, die eine oder andere Gesetzeslücke, einige Exzesse selbst nicht gesehen hat – diese simple Sache festzustellen rang sich Köhler nicht durch.

Schon Köhlers Wort von der Globalisierung, die zum „Monster“ werden könne, hatte mancher Sozialdemokrat als Anbiederung interpretiert. In der SPD heißt es nun, Köhler habe in der Berliner Elisabethkirche eine „Catch-all-Rede“ gehalten. Der Präsident als Wahlkämpfer? Köhler streitet das ab. Er betreibe keinen Wahlkampf, hatte er schon zur Anmeldung seiner erneuten Kandidatur verkündet. Unstrittig aber ist: So, wie das Land derzeit nach links rückt, so rückt der Präsident mit – einen solchen Ruck hatten wohl die wenigsten im Jahr 2004 von Köhler erwartet. Über die Notwendigkeit, den Kündigungsschutz einzuschränken, redet er längst nicht mehr.

„Heimat und Globalisierung“ hat Köhler zum Motto seiner Reise durch Baden-Württemberg gemacht. Mehrfach spricht er am Donnerstag von der Krise als einer „Zäsur“, als einem „Paradigmenwechsel“. Er mahnt „ganzheitliches Denken“ an, ein „neues Wirtschaften“, spricht viel von Nachhaltigkeit. Nicht nur in wirtschaftlichen Kategorien dürfe man denken, sagt der Bundespräsident, der studierte Ökonom, der frühere Finanz-Staatssekretär, der Technokrat.

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Nicht alles werde gut, aber Deutschland werde gestärkt aus der Krise herausgehen, erklärt der Bundespräsident wieder und wieder. Zuversicht, anpacken, anstrengen – das sind Schlüsselbegriffe Horst Köhlers. Er denkt dabei wohl auch an seine eigene Biografie. Ein wenig Werkgerechtigkeit schimmert ohnehin bei dem protestantischen Schwaben immer durch. Für Max Weber wäre Köhler ein Beleg mehr für seine Theorie von der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus gewesen.

„Nicht an sich zu zweifeln“, rät Köhler den Studenten der Hochschule Reutlingen. Gut eine Stunde lang ist er hier zu Gast, dreimal kommt ihm diese Formulierung über die Lippen. „An sich selber glauben ist das Wichtigste“, sagt er noch einmal. Appelliert Horst Köhler damit auch an Horst Köhler?

Der Präsident verlangt sich und den Seinen viel ab. Ein Aufsteiger aus armen Verhältnissen. Das verbindet ihn mit Baden-Württemberg, an dessen schlechte Zeit – karge Böden, wenig Industrie, Auswanderung – er zuweilen erinnert. Köhler ist 66 Jahre alt, am Ende einer zweiten Amtszeit wäre er 71. Er aber will es noch einmal wissen. Womöglich sieht Köhler in der Krise gar das Thema seiner Präsidentschaft, das er bislang nicht recht gefunden hat.

„604 sichere Stimmen haben wir. Mit den Freien Wählern 614. Das wird klappen“, heißt es in der CDU. In den ersten beiden Wahlgängen benötigt Köhler die Stimmen von 613 Wahlleuten. Möglicherweise wählt ihn der eine oder andere aus der SPD. Köhler aber geht alles andere als selbstgewiss in diese Wahl – auch wenn ihn 70 Prozent der Deutschen laut einer Umfrage von Infratest Dimap für die ARD wählen würden.

Vielleicht liegt Köhlers Unsicherheit daran, dass er in große Fußstapfen tritt. Nur drei Bundespräsidenten haben zwei Amtszeiten absolviert. Neben Heinrich Lübke und Richard von Weizsäcker ein protestantischer Schwabe, der als Bundespräsident vor einem halben Jahrhundert Reutlingen besucht hat. Der Mann ist bis heute vielen Deutschen präsent. Sein Name: Theodor Heuss.

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