Homo Faber in Kirgistan
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Homo Faber in Kirgistan

In seinem Debütroman „Mit Aprikosen. Eine Flaschenpost“ beschreibt Olver Hösli eine persönliche Reise zum Yssykköl. Eine Rezension.

Ortsausfahrt am Yssykköl

In seinem Debütroman „Mit Aprikosen. Eine Flaschenpost“ beschreibt Olver Hösli eine persönliche Reise zum Yssykköl. Eine Rezension.

Sich auftürmendes, rotes Gestein. Fortlaufende, spitze Felsketten. Die Hügelflanken, zu Dünen zerfallend.“ In stakkatoartigen Sätzen beschreibt der Protagonist Willi seinen ersten Blick auf die Landschaft, in der sich Kadschi-Saj befindet. Das Dorf im Osten Kirgistans mit etwas mehr als 4.000 Einwohner:innen ist Hauptschauplatz des Debütromans des Schweizers Oliver Hösli „Mit Aprikosen. Eine Flaschenpost“. Kadschi-Saj liegt direkt am Yssykköl, dem größten See des Landes, dessen Umgebung trotz der Lagerung von radioaktivem Abfall Touristen aus Kirgistan und der ganzen Welt anzieht.

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Willi besucht Kadschi-Saj gemeinsam mit der Kirgisin Aisuluu, die er zuvor in der Hauptstadt Bischkek kennen gelernt hat. Bereits zu Anfang des Buches wird klar: Willi, ein ausgebildeter Ethnologe, ist auf der Suche. Nach was, ist er sich zunächst nicht einmal selbst sicher – nur mit Natur sollte es in Verbindung stehen. Für drei Tage leben er und Aisuluu in einem kleinen, von ihren Großeltern erbauten Häuschen, leben ein unbeschwertes Leben, baden im Yssykköl, essen sich an den Aprikosen aus dem Garten des Hauses satt und verlieben sich ineinander.

Im Einklang mit der Natur

Während die Aprikosen an den Bäumen am Yssykköl heranreifen, wächst in Willi eine abenteuerliche Idee: Wäre ein Leben inmitten der Natur in Kadschi-Saj nicht genau das, wovon er immer geträumt hat? Wer will schon in der langweiligen und aufgesetzten Schweiz sein Dasein fristen, wenn er stattdessen in Kirgistan im Einklang mit der Natur leben kann? Trotz aller Sorgen von Freunden und der Familie wagt er es und beginnt sein neues Leben in Kadschi-Saj. Willi und Aisuluu müssen jedoch schon bald feststellen, dass das Schicksal einige Herausforderungen für sie bereithält.

Gerade Willis etwas naive Vorstellung eines idyllischen Lebens im Einklang mit der Natur wird auf die Probe gestellt. Doch eines hilft ihm – das Niederschreiben seiner Gedanken. Und so können die Leser:innen an der Reise – nicht nur nach Kirgistan, sondern in Willis Seele – teilhaben. Im Zentrum steht dabei das Spannungsverhältnis zwischen der Sehnsucht nach einem natürlichen und traditionellen Leben und der Akzeptanz von gesellschaftlich-wissenschaftlichem Fortschritts, das sich in Willi und Aisuluu widerspiegelt. Die thematische Nähe zu Max Frischs Homo Faber ist dabei auf vielschichtige Weise erkennbar.

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Allem Anschein nach verarbeitet der Schweizer Autor Oliver Hösli in seinem ersten Roman zumindest teilweise seine eigene Lebensgeschichte, die ihn an den Yssykköl geführt hat, wo er noch heute lebt. Denn obwohl es nicht explizit gemacht wird, bestehen in den Lebensläufen des Autors und seinem Protagonisten einige Parallelen: Beide sind schweizer Ethnologen, besuchten eine Zeit lang die Universität in Bischkek und übten in ihrem Leben verschiedenste Berufe aus, so etwa in einer Notunterkunft für Asylsuchende. Die einzige offensichtliche Diskrepanz ist das Geburtsdatum: Hösli ist fünf Tage älter als der Protagonist seiner Geschichte.

Aprikosen am Yssykköl

Mit seinen 144 Seiten ist der Roman kurzweilig. Dem Autor gelingt es auf nur so wenig Seiten eine beeindruckende emotionale Tiefe aufzubauen und die Leser:innen mit auf eine Reise an die Ufer des Yssykköl zu nehmen. Während der Hauptteil des Buches aus Willis Sicht erzählt wird, kommt auch Aisuluu in kurzen Kapiteln an mehreren Stellen zu Wort.

Die Stimme der weiblichen Protagonistin, die für Willi unzertrennlich mit der romantischen Vorstellung eines naturnahen Lebens in Kirgistan verbunden ist, verleiht der Erzählung Tiefe und gewährt den Leser:innen eine zweite Perspektive auf die Geschehnisse. Aisuluus Einblicke in die kirgisische Lebensrealität kontrastieren Willis Träumereien und fast wünscht man sich, Hösli hätte ihr noch mehr Raum gegeben.

Kein klassischer Reisebericht

Generell liest sich Höslis Schreibstil etwas ungewohnt: Kurze, abgehackte Sätze, sich nicht immer klar erschließende Gedanken- und Themensprünge. An manchen Stellen erzeugt der Autor damit den Anschein, man nehme direkt an Willis ungefilterter Gedankenwelt teil. Dieser Eindruck wird von der scheinbar grenzenlosen Faszination des Protagonisten für die titelgebenden Aprikosen noch verstärkt. Höslis stellenweise obsessiv anmutende Schilderungen geben den Lesenden das Gefühl, zusammen mit Willi unter einem seiner heißgeliebten Aprikosenbäume zu stehen: „Direkt von den Zweigen schiebe ich mir die süssreifen Aprikosen in den Mund, ihr Saft bannt alles aus dem Garten. Der klebrige Aprikosenmatsch zwischen den Zehen. Ich halte meinen Bauch, er ist zufrieden. Sattgenascht an Aprikosen. Das Blut schwimmt im Zuckersaft.“

„Mit Aprikosen“ ist kein klassischer Reisebericht – die Flaschenpost birgt keine Insider-Tipps zu den besten Badeplätzen am Yssykköl. Vielmehr bietet der Debütroman einen intimen Einblick in die Gedanken eines 30-jährigen Mannes, der selbst noch nicht ganz weiß, wo und mit wem er sein Leben verbringen möchte und den die Leser:innen dabei begleiten dürfen, wie er Antworten auf diese Fragen findet. Selbsttherapie im Aprikosenhain sozusagen.

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Oliver Hösli: Mit Aprikosen. Eine Flaschenpost. 144 Seiten, Edition Monhardt, ISBN 978-3-9817789-7-7, März 2022.

Maximilian Rau, Redakteur für Novastan

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