Amnesty Journal Deutschland 27. März 2024

Bläser for future

Eine Jazzkapelle mit vielen Musiker*innen auf einer Open-Air-Bühne, hinter ihnen hängt ein Plakat mit der Aufschrift "Ein bisschen Zeit haben wir ja noch".

Die Jazzband Brigade Futur III: "Es ist spät in Europa, es ist spät auf der Welt/Und die Leute in Europa, die zählen ihr Geld".

Mit detailverliebten und tanzbaren Bigbandsounds bringt die Brigade Futur III Gesellschaftskritik zurück in den Jazz.

Von Thomas Winkler

Ab und zu ist das Kleine Latinum hilfreich. "Privatisierung kommt von privare", doziert der verstorbene Politiker Hermann Scheer, "privare ist ein lateinisches Wort, das heißt: berauben." Unter dem Redeausschnitt mit antikapitalistischer Botschaft liegt ein schmusiger Rhythmus, der auch zu einem 70er-Jahre-Softporno passen würde. Das hier ist schließlich kein Proseminar, sondern das neue Album der Brigade Futur III.

Die Brigade Futur III ist eigentlich eine Jazzband. Benjamin Weidekamp, Elia Rediger, Jérôme Bugnon und Michael Haves spielen mit Klängen, mit denen Duke Ellington oder Count Basie einst den Jazz zur Massenunterhaltung machten. Die vier Musiker, die sich in Berlin gefunden haben, arbeiten am liebsten im großen Bigbandformat, ihre Bläserarrangements sind raffiniert, der Groove ist jederzeit tanzbar, auf der Bühne tragen sie gern einheitliche Anzüge.

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Es soll ja noch Menschen geben, die beim Stichwort Jazz an in sich gekehrte Musiker*innen und verrauchte Kellerclubs denken. Doch fast so alt wie das ­Nikotinverbot in der Gastronomie ist der Ausbruch des Jazz aus seinem Elfenbeinturm. Seit er sich nicht mehr in Klischees gefallen muss, verleibt er sich die Geschichte der populären Musik ein, während er politische und gesellschaftliche Relevanz zurückgewinnt. Was alles möglich ist auf diesem neuen, sehr weiten Feld, das demonstriert hierzulande kaum jemand so fantasievoll und detailverliebt wie die Brigade Futur III.

Banken müssen gerettet werden, das Klima geht baden, die Demokratie funktioniert nicht mehr, bald ist alles KI, Teenager kleben sich auf die Straße, und in Japan gehen sie nicht mal mehr aus ihrem Zimmer.

Auf dem neuen Werk "Ein bisschen Zeit haben wir ja noch", das wieder in Zusammenarbeit mit der Leipziger Big Band Spielvereinigung Sued entstanden ist, verliert sich die Brigade mal in polyrhythmisch vertrackten Exkursionen in die Jazzvergangenheit, dann legt sie einen Breitbandsound mit der Macht der 18-köpfigen Big-Band-Besetzung auf, macht Abstecher in den Rap und schreckt auch nicht vor Lärm oder kleinen Witzen aus der Neuen Musik zurück – anstrengend darf ruhig auch mal sein. Denn was in der Welt gerade los ist, das ist, untypisch für den Jazz, ausdrücklich auch Thema bei der Brigade Futur III.

Banken müssen gerettet werden, das Klima geht baden, die Demokratie funktioniert nicht mehr, bald ist alles KI, Teenager kleben sich auf die Straße, und in Japan gehen sie nicht mal mehr aus ihrem Zimmer: All das findet Raum auf "Ein bisschen Zeit haben wir ja noch". Im Stück "Europa", das sich auf Hanns Dieter Hüschs "Volkslied" bezieht, säuft erst der 1980er-Jahre-Hit "The Final Countdown" von Europe ab, bevor über einem nur scheinbar harmlosen Volksfestbeat die EU aufs Sterbebett begleitet wird: "Es ist spät in Europa, es ist spät auf der Welt / Und die Leute in Europa, die zählen ihr Geld."

Dass man für einen politischen Kommentar nicht unbedingt Worte braucht, zeigt die Brigade mit drei über das Album verteilten kurzen Instrumentals. "Kipppunkt 1" bis "Kipppunkt 3" bringen die Selbstvergessenheit einer Menschheit, die den Ernst der Lage nicht wahrhaben will, auf den musikalischen (Kipp-)Punkt.

Brigade Futur III: "Ein bisschen Zeit haben wir ja noch" (WhyPlayJazz)

Thomas Winkler ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

WEITERE MUSIKEMPFEHLUNGEN

Trauerarbeit mit Gitarre

von Thomas Winkler

Die Hölle kennt keine Sorgen, keine Vergangenheit, sie ist nur ein Hinweisschild an einer Abzweigung, ein Pfad in die Verzweiflung. Das behaupten Sleater-Kinney in "Hell", dem Song, mit dem ihr neues Album "Little Rope" beginnt. Das Stück ist aber auch anders lesbar: als Bestandsaufnahme einer Welt, die scheinbar blind in den Abgrund zu stolpern scheint, oder als Rückschau auf eine persönliche Agonie. Souverän die Spannung zwischen dem Privaten und dem Politischen auszubalancieren, war schon immer eine große Stärke der Band aus dem Nordwesten der USA. In den frühen 90er Jahren eine zentrale Gründungsinstanz der Riot-Grrrl-Szene, sind Sleater-Kinney mittlerweile zum Duo aus Corin Tucker und Carrie Brownstein geschrumpft. 

Während sie in ihren Anfangstagen mit scharfkantigen Gitarren gegen das Patriarchat anspielten und auf ihrem letzten Album "Path of Wellness" die Pandemie, Umweltkatastrophen und "Black Lives Matter" thematisierten, verarbeiten die beiden Musikerinnen, die heute in Portland leben, auf "Little Rope" zuvorderst persönliche Verluste. 2022 kamen Brownsteins Mutter und Stiefvater bei einem Autounfall ums Leben, die Aufnahme der neuen Songs wurde zur Trauer­arbeit. Das gemeinsame Schreiben, Komponieren und Arrangieren mit Tucker "fühlte sich an wie Beten", erzählte Brownstein in Interviews. Mehr noch als die Worte, die vor allem Tucker singt, konnte sie ihrer Trauer und Wut mit ihrem Instrument Ausdruck verleihen. Die harschen Gitarren führen den Sound zurück in die Vergangenheit, als Sleater-Kinney den Sechssaiter dem männlichen Monopol entrissen. Heute sind die Riffs von Brownstein und Tucker immer noch kraftvoll, All-Girl-Bands allerdings keine Sensation mehr. Frauen beherrschen das Popgeschäft, auch ein Verdienst von Sleater-Kinney, die deshalb nun ganz selbstverständlich das Private ins Zentrum ihres Schaffens rücken können – und damit doch universell bleiben.

Sleater-Kinney: "Little Rope" (Concord/Universal)

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