Das Ende der Großen Koalition 1930: Die Selbstaufgabe der Demokratie | Vorwärts
Geschichte

Das Ende der Großen Koalition 1930: Die Selbstaufgabe der Demokratie

Am 27. März 1930 zerbricht die Große Koalition zwischen SPD und DVP. Den Ausschlag gibt der Streit über eine Beitragserhöhung für die Arbeitslosenversicherung. Doch schon von Anfang an waren die Differenzen zwischen den Koalitionspartnern groß.
von Klaus Wettig · 27. März 2020

Endlich ein Wahlsieg am 2. Mai 1928: Mit 29,8 Prozent steigert sich die SPD deutlich um 4,9 Prozent. Ihre wichtigsten Partner in der Weimarer Koalition, das Zentrum und die DDP, kommen auf 12,1 bzw. 4,9 Prozent. Deshalb muss es eine Große Koalition werden, für die Gustav Stresemann mit der zunächst republikfeindlichen rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) auch bereitsteht. Stresemann möchte seine Aussöhnungspolitik mit Frankreich fortsetzen, was auch die Zustimmung der SPD findet, und die gestärkte SPD kann die Mehrheiten im Reichstag liefern.

Die Sozialdemokraten waren seit 1924 Opposition im Reichstag. 1925 hatten sie durch den plötzlichen Tod von Friedrich Ebert auch den Reichspräsidenten verloren. Bei der Neuwahl waren ihre Kandidaten gescheitert und mit Hindenburg der Kandidat einer Rechtskoalition zum neuen Reichspräsidenten gewählt worden. Die Republik war damit deutlich nach rechts gerückt, wenngleich der kaisertreue neue Reichspräsident in seiner ersten Amtszeit auf dem Boden der Reichsverfassung blieb.

Zahlreiche Hürden für die Regierungsbildung

Die Koalitionsverhandlungen verlaufen zäh, da ein Ausgleich zwischen gewerkschaftsnahen Positionen der SPD und den wirtschaftsnahen Vorstellungen der rechtsliberalen DVP gefunden werden musste. Schließlich will die Bayerische Volkspartei (BVP) ihre Sonderinteressen beachtet wissen. Auf ihre Beteiligung in der Koalition wollte das koalitionsfreundliche Zentrum nicht verzichten, um die Einheit des politischen Katholizismus zu wahren. Gustav Stresemann, der seine erfolgreiche Außenpolitik fortsetzen will, und der sozialdemokratische Ko-Vorsitzende Hermann Müller, der schon 1920 und 1924 Reichskanzler gewesen war, hätten schnell zum Abschluss kommen können, doch die zu überwindenden Hürden sind zahlreich.

Da die inhaltlichen Differenzen nicht schnell genug ausgeräumt werden können, einigen sich Hermann Müller und Gustav Stresemann zunächst auf ein „Kabinett der Persönlichkeiten“, dem das Zentrum widerwillig zustimmt. Nur einen „Verbindungsmann“ entsendet es als Minister in die neue Regierung. Trotz dieser schwachen Grundlage startet die Regierung am 4. Juli und erlangte ein Vertrauensvotum für die Regierungserklärung.

Die deutschnationale Opposition höhnt in der Hugenberg-Presse über die Regierungserklärung: „32 Seiten Kompromiss“, während für die SPD Carl Severing erklärt: „Wir haben die Absicht, vier Jahre Ferien zu machen, Ferien von Regierungskrisen, Programmentwürfen und Richtlinienberatung, um in den Ferien davon vier Jahre praktische Arbeit zum Aufbau der Republik zu leisten.“

Die Rechten retten die Große Koalition

Zu dieser ruhigen Aufbauarbeit kommt es jedoch nicht. Die wirtschafts- und sozialpolitischen Interessen von SPD und DVP schaffen immer wieder neue Konflikte. Dem auf Ausgleich bedachten DVP-Führer Gustav Stresemann erschwert die Fraktion das Regierungsgeschäft, indem sie als Interessenpartei der Großindustrie Kompromisse mit der SPD blockiert. In der Sozialdemokratie erschwert der linke Flügel Kompromisse, die sie als Verrat der proletarischen Klasseninteressen bekämpfen.

Trotz permanenten Streits startet die Regierungsarbeit, wenn die Panzerkreuzerdebatte ihr nicht ein schnelles Ende angedroht hätte. Die SPD hatte den Wahlkampf gegen die Regierungspläne geführt, einen Panzerkreuzer zu bauen. Nachdem die SPD-Minister im Kabinett für die Fortsetzung dieser Regierungspläne gestimmt haben, zwingt die Reichstagsfraktion sie zur Nein-Stimme im Reichstag. Trotzdem findet die Regierungsvorlage im Reichstag eine eigene Mehrheit. Die politische Rechte rettet die Große Koalition, für die SPD bleib die politische Blamage. Erst der Parteitag in Magdeburg 1929 schafft nach heftigen Debatten Klarheit: Die SPD will an der Regierung festhalten.

Sozialpolitische Differenzen überwuchern außenpolitische Erfolge

Obwohl die Große Koalition außenpolitisch erfolgreich arbeitet, dank Stresemanns Geschick zu Erfolgen bei der Reduzierung der Reparationslasten kommt, und als neues Völkerbundsmitglied in den Kreis der anerkannten Staaten zurückkehrt, überwuchern die wirtschafts- und sozialpolitischen Differenzen diese erfolgreiche Regierungsarbeit.

Der Industrieflügel der DVP drängt auf eine grundsätzliche Korrektur der von der SPD bestimmten Wirtschafts- und Sozialpolitik. Hier geht es um mehr als kosmetische Korrektur. Dem großindustriellen Einfluss passt die ganze Richtung nicht, die trotz wechselnder Regierungen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Weimarer Republik beeinflusst.

Als durch den politischen Tod Gustav Stresemann am 3. Oktober 1929 die DVP ihre strategische Führung verliert, ist das Koalitionsende abzusehen. Die beginnende Weltwirtschaftskrise verschärft zudem die Differenzen über das Regierungshandeln. Zwar kann die Koalition im Kampf für den Young-Plan, der dem Deutschen Reich Erleichterungen verschafft, die ultrarechte und ultralinke Opposition besiegen, doch der Sieg im Volksentscheid am 22. Dezember bleibt der letzte Regierungserfolg.

Die Koalition zerbricht an der Arbeitslosenversicherung

Nun verschärft sich in der explosionsartig anwachsenden Weltwirtschaftskrise der Kampf im die „richtigen“ Entscheidungen. Eine Beitragserhöhung für die Arbeitslosenversicherung um 0,5 Prozent, die der in Bedrängnis geratenen Versicherung helfen soll, lehnt die DVP ab. Sie sieht in der Ablehnung eine Chance, die ungeliebte Versicherung darüber zu Fall zu bringen.

Alle Beschwörungen in der SPD-Reichstagsfraktion, ein Einlenken zu erreichen, helfen nichts. Auch die Mahnung des Fraktionsvorsitzenden Rudolf Breitscheid verfehlt ihre Wirkung: „… dann kommt wirklich eine Krise des Parlamentarismus… Dann könnten wir eine Art Beamtenkabinett erhalten, das an sich vielleicht schon die verschleierte Diktatur wäre…“

Die Regierung der Großen Koalition wird nicht im Reichstag gestürzt, sondern Reichskanzler Hermann Müller tritt am 27. März zurück. Es folgen die Regierungen nach Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung unter Heinrich Brüning.

Die Wende in der deutschen Politik deutet sich schon am 9. Dezember 1929 in Thüringen an, als die bürgerlichen Parteien den Nationalsozialisten Dr. Wilhelm Frick als Kultus- und Polizeiminister akzeptierten. Am 14. September 1930 zieht die NSDAP mit 107 Mandaten in den Reichstag ein, nur die SPD kann dagegen noch 143 Mandate setzen. Die Marginalisierung der demokratischen Parteien und der Demokratie beginnt.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

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