Der Corporal wunderte sich. Warum schickte die Army einen gestandenen Brigadegeneral und stellvertretenden Divisionskommandeur, um einen feisten deutschen Pharmavertreter festzunehmen? Als ein solcher erschien dem amerikanischen Unteroffizier nämlich der übergewichtige Mann, den Brigadier Robert Stack und sein militärischer Begleittrupp an einer Straße nahe dem österreichischen Dorf Radstadt in Gewahrsam nahmen. Im Kofferraum seines Wagens fand der Corporal einen reichhaltigen Vorrat an Medikamenten: Ampullen zum Spritzen oder zum Schlucken sowie Tausende Tabletten verschiedener Sorten.
Es war der Abend des 7. Mai 1945. Mehr oder minder freiwillig begab sich Hermann Göring, einst der zweite Mann des Dritten Reiches und seit dem 29. Juni 1941 der offiziell designierte „Führernachfolger“, in US-Gewahrsam. Die Situation war verworren: Die Wehrmacht kapitulierte gerade, aber war Hitler wirklich tot?
Göring, offensichtlich aufgeputscht, erzählte den Amerikanern wilde Geschichten. Der „Führer“ habe ihn zwei Wochen zuvor abgesetzt und zum Tode verurteilt. Er sei daraufhin in Berchtesgaden von SS-Leuten festgenommen worden und sollte erschossen werden. Soldaten seiner eigenen Luftwaffe hätten ihn aber „herausgehauen“. Nun wolle er mit dem alliierten Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower sprechen – „von Marschall zu Marschall“.
Stack ließ sich nur auf eine unverdächtige Plauderei ein. Dann befahl er, dass Göring am folgenden Tag unter Bewachung, aber in seinem eigenen Wagen nach Kitzbühel gebracht werde – in das luxuriöse „Grand Hotel“, das der 36. US-Infanteriedivision als Hauptquartier diente, deren stellvertretender Kommandant der Brigadier war. Stacks Chef, Major General John Dahlquist, empfing den prominenten Nazi und plauderte vor der Kamera eines Kriegsberichterstatters mit ihm – eine Geste, für die er viel Kritik in der amerikanischen Öffentlichkeit einstecken musste.
Dahlquist, der fließend Deutsch sprach, schickte den Dolmetscher weg – auch Stack beherrschte die Sprache leidlich. Was die drei beim Lunch besprachen, ist nicht überliefert. Wahrscheinlich war es etwa das Gleiche, was Göring schon zuvor erzählt hatte: seine Sicht auf das Kriegsende und seine künftige Rolle in Deutschland.
Doch schon vor diesem Gespräch war Dahlquist klar, dass Göring für ihn mindestens eine Nummer zu groß war. Sollte sich doch sein Vorgesetzter um ihn kümmern, der Drei-Sterne-General Alexander M. Patch. Also wurde der prominente Gefangene per Kurierflugzeug, einer einmotorigen Piper Cub, nach Augsburg weitergeflogen, zum Hauptquartier der 7. US-Armee.
Auch Patch fühlte sich überfordert. Er ließ Göring zunächst in der NS-Mustersiedlung Bärenkeller am Nordrand von Augsburg internieren und organisierte einen Pressetermin mit alliierten Kriegsberichterstattern am 11. Mai 1945 – das musste sein, denn die Nachricht über Görings Auftauchen hatte es am 10. Mai 1945 auf die Titelseiten vieler amerikanischer Zeitungen geschafft. Beim Pressetermin dabei war Klaus Mann, US-Offizier und Sohn des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann.
Schauplatz der „kuriosen Veranstaltung“, so berichtete Mann seinem Vater, war eine abgelegene Villa in Augsburg, genauer: ihr Garten. Etwa 20 bis 30 amerikanische, französische und englische Reporter sowie einige hohe Offiziere drängelten sich neugierig um den Gefangenen. Klaus Mann selbst durfte als Deutschland-Sonderkorrespondent der Soldatenzeitung „The Stars and Stripes“ teilnehmen.
„Enttäuschenderweise fand ich ihn viel weniger unförmig als erwartet, ein knapp mittelgroßer Mann mit Bauch und Doppelkinn, aber ganz ohne monströse Züge“, schrieb Klaus an Thomas Mann: „Man kann nicht einmal sagen, dass er besonders unsympathisch wirkte, eher im Gegenteil.“ Dennoch stellte Klaus Mann, der Deutschland schon im März 1933 verlassen hatte, fest: „Eine gewisse Brutalität ist seiner Miene freilich anzumerken; auch hat der Blick oft ein recht böses Glitzern.“ Zugleich wunderte er sich: „Aber die Stimme klingt angenehm, markig und hell, wenngleich ein wenig fett, und das Gesicht erscheint nicht schlecht geschnitten.“
Mit Häme merkte Mann an: „Dem großen Herrn war etwas unbehaglich; sein Lachen klang forciert, auch fiel auf, dass er das Schnupftuch oft zur Stirne führte. Er schwitzte, obwohl er doch im Schatten saß.“ Göring bat den Übersetzer, den Reportern klarzumachen, dass Hitler und er schon seit geraumer Weile total verkracht miteinander gewesen seien. „,Völlig auseinander!‘, betonte er mit erhobenem Zeigefinger. ,Ich bitte, dies zu unterstreichen! Es ist wichtig!‘“
Angeblich wusste Göring über die Verbrechen des NS-Regimes gar nichts – zumindest versuchte er, das den Journalisten vorzugaukeln. Von den Konzentrationslagern habe er nichts geahnt, zumindest nicht, was dort geschah: „Wären solche Abscheulichkeiten mir bekannt gewesen, ich hätte protestiert, hätte durchgegriffen!“, zitierte Klaus Mann Göring. Zu dieser Zeit wusste der Emigrant noch nicht, dass es Göring war, der am 31. Juli 1941 Reinhard Heydrich schriftlich mit der „Endlösung der Judenfrage“ beauftragt hatte.
Auch zur drängendsten Frage der alliierten Medien äußerte Göring sich – der Emigrant selbst hatte sie ihm auf Deutsch gestellt: „Ist Hitler tot?“ Die Antwort kam prompt und mit Nachdruck: „Ja! Hitler ist tot. Unbedingt! Kein Zweifel!“ Klaus Manns Fazit: „Dies also war das Göring-Interview im Frühlingsgarten. Kurios, nicht wahr?“
Wenige Tage später, nach dem 15., aber vor dem 19. Mai 1945, entstanden in Augsburg einige bislang unbekannte Fotos. Sie stammen aus dem privaten Album von Hans Wallenberg, der zu dieser Zeit als deutscher Emigrant beim Nachrichtendienst der US Army diente, mit der besonderen Aufgabe der psychologischen Kriegsführung. Sein Nachlass liegt im Unternehmensarchiv des Verlages Axel Springer, in dem auch WELT erscheint.
Wallenberg war dabei, als Göring, nun in einer schmucklosen Wehrmachtsuniform ohne Rangabzeichen statt seiner hellgrauen Luxusrobe als „Reichsmarschall“, in Augsburg-Bärenkeller abgeholt wurde. Der massige Mann quälte sich in das Militärfahrzeug – und bot der Kamera sein gewaltiges Hinterteil dar. Die Fahrt ging ins streng geheime „Camp Ashcan“ (Lager Ascheimer) in Bad Mondorf im Südosten Luxemburgs. In diesem komfortablen Verhörzentrum, für das US-Truppen das erste Haus am Platze, das „Palace Hotel“, beschlagnahmt hatten, wurden bis Mitte August 1945 insgesamt 86 hochrangige Funktionäre und Generäle des Dritten Reiches interniert. Primus inter pares war Hermann Göring – er saß nicht zufällig auf dem einzigen Gruppenfoto der Insassen in der Mitte vorne.
In Camp Ashcan legte Göring sich die Strategie zurecht, mit der er ab Oktober 1945 vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg auftreten wollte. Kurz zusammengefasst, fühlte er sich als legitimer Anführer des deutschen Volkes und zu Unrecht angeklagt. Obwohl er seine seit 1923 währende, mal stärkere und mal schwächere Morphinsucht im amerikanischen Gewahrsam durch einen kalten Entzug überwunden hatte (seine Bewacher im „Palace Hotel“ hatten ihm seinen Drogenvorrat abgenommen), hielt er an den Illusionen fest, die er sowohl den Generälen Stack und Dahlquist wie den Kriegsberichterstattern hatte unterjubeln wollen.
Immer noch hielt sich Hermann Göring für den legitimen Nachfolger Hitlers. Zumindest erwartete er, dass die Deutschen es so sehen würden. In Nürnberg brachte er diese Illusion auf die Formel, das deutsche Volk werde ihm Statuen setzen – „große in den Parks und kleine in jedem Wohnzimmer“. Es kam bekanntlich anders: In der Nacht vor seiner Hinrichtung vergiftete er sich am 15. Oktober 1946.
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