Gerlach, Hellmuth v. – Kulturstiftung
Biographie

Gerlach, Hellmuth v.

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Publizist, Politiker
* 2. Februar 1866 in Mönchmotschelnitz, Kr. Wohlau/Schlesien
† 1. August 1935 in Paris

Hellmuth v. Gerlach war der Sohn des wohlhabenden schlesischen Gutsbesitzers Karl v. Gerlach und dessen bürgerlicher Ehefrau Welly geb. Peyer. Der Großvater mütterlicherseits war ein Selfmademan: Aus einer Landarbeiterfamilie stammend, hatte er sich so beachtliche landwirtschaftliche Kenntnisse angeeignet, dass er Ehrendoktor und Akademiemitglied geworden ist. Gerlach vermutet, dass es dem bürgerlichen Erbe dieses Großvaters zu verdanken sei, dass aus ihm so ein miserabler Junker geworden ist.

Der Kreis Wohlau-Guhrau-Steinau (zu dem das Rittergut gehörte) wird als besonders konservativ beschrieben: Selbst die Kandidatur eines Freikonservativen habe man dort als „ungeheuren Frevel“ (Gilbert) empfunden. Dazu kam, dass die Landarbeiterlöhne die niedrigsten weit und breit gewesen sind. Hellmut v. Gerlach vermutet, dass diese regionale Spezifik sein späteres soziales Engagement befördert habe. Im Elternhaus – von dem Jungen eher als preußische Kaserne denn als romantischer Landsitz empfunden – ging von der kränkelnden Mutter wenig Zuneigung aus. Der dominante Vater wird als nüchtern, protestantisch, antisemitisch und preußisch-emotionslos beschrieben.

Standesgemäß wird der Junge zu Hause unterrichtet – zunächst vom Dorfschulmeister, dann von einem ehemaligen „Achtundvierziger“, der den poltischen Horizont seines Zöglings weitet, ihn mit klassischer deutscher Literatur vertraut macht und Fremdsprachen lehrt. In dem stockkonservativen Elternhaus erscheint er als Störenfried und wird auf Betrieben Frau v. Gerlachs entlassen. Den Jungen schickt man auf das Gymnasium nach Wohlau. Die Jahre bis zum Abitur wird er rückblickend als die ödesten seines Lebens bezeichnen. Das nun folgende Jura-Studium war kein Neigungsstudium. Hellmuth v. Gerlach hätte lieber Romanistik studiert. Um so beachtlicher, dass er sein Studium (Studienorte: Genf, Straßburg, Leipzig, Berlin) nach nur drei Jahren 1887 mit dem Referendarexamen abschließen und in den preußischen Staatsdienst eintreten kann.

In der Studentenzeit beginnt sich v. Gerlach politisch und publizistisch zu betätigen: Er tritt in einen nationalen „Verein deutscher Studenten“ ein, der sich politische Diskussionen zum Gegenstand des Vereinslebens erkoren hat. In diese Zeit fällt die persönliche Begegnung mit Adolf Stöcker, dessen Idee vom christlichen Sozialismus v. Gerlach so nachhaltig beeinflusst hat, dass er 1887 nach bestandenem Assessorexamen aus dem Staatsdienst ausscheidet, der „Christlich-Sozialen Partei“ beitritt, um Stöckers Wahlkampfleiter und schließlich Redakteur von dessen Zeitung Das Volk zu werden. Eine enge Beziehung entsteht auch zu Friedrich Naumann. Dieser, Pfarrer von Beruf und erfahren in Sozialarbeit, entwickelt unter dem Einfluss Max Webers eigene liberale Ideen, die ihn der christlich-sozialen Bewegung entfremden. V. Gerlach überzeugt Naumanns sozialreformerisch-liberale Orientierung, und er wird Mitbegründer des „Nationalsozialen Vereins“. Dieser Schritt vom Konservatismus zum Liberalismus führt zum Bruch mit Stöcker und zum Ende der Redakteurstätigkeit in dessen Parteiorgan. Auch dem „Verein deutscher Studenten“ entfremdet sich v. Gerlach dermaßen, dass er als Kritiker des Korpsstudententums aus dem Verband ausgeschlossen wird. (Über diese Zeit der politischen Umorientierung hat sich v. Gerlach in Von Rechts nach Links geäußert.)

Eine neuerliche Arbeit als Redakteur bei der Zeit ist nur von kurzer Dauer, so dass v. Gerlach beschließt, sich um ein Reichstagsmandat zu bewerben. Dass er in Vorbereitung dieser Kandidatur eine Zeitung erwirbt, ist ungewöhnlich, wenngleich aufgrund elterlichen Vermögens nicht unwahrscheinlich; die Kandidatur 1898 bleibt dennoch erfolglos. Also übernimmt v. Gerlach im gleichen Jahr die Chefredaktion der BerlinerWelt am Montag. Seine journalistischen Fähigkeiten hat er später noch in den Dienst des Handelsvertragsvereins und der Berliner Zeitung gestellt. Aber ungeachtet dessen bemüht sich v. Gerlach weiter um ein Reichstagsmandat, das er schließlich 1903 für die „Freisinnige Vereinigung“ (in der der „Nationalsoziale Verein“ Naumanns aufgegangen war) gewinnen kann.

In die Zeit als Abgeordneter fallen die Heirat mit Hedwig Wiesel und publizistische Arbeit für Naumanns 1894 gegründetes christlich-soziales Wochenblatt Die Hilfe. Aufsätze aus dieser Zeit liest man ob ihrer klaren Sprache und Argumentationsstruktur noch heute mit Interesse und Gewinn – wie beispielsweise Vom deutschen Antisemitismus (Jahrbuch der Hilfe 1904, 141ff.), einen Essay in Briefform, der nicht nur v. Gerlachs Abkehr vom Antisemitismus, sondern auch dessen historische und insbesondere wirtschaftliche Wurzeln aufdeckt. Bei dieser Gelegenheit setzt sich v. Gerlach auch mit seinem vormaligen Idol Stöcker und den deutschen Studentenvereinen auseinander, die er des Antisemitismus bezichtigt. Zugleich glaubt der Aufsatzschreiber im Antisemitismus der frühen 1890er Jahre auch eine oder gar die Begründung für den Misserfolg seiner Reichstagskandidatur 1893 zu finden: Das Jahr 1893 bezeichne die „parlamentarische Sonnenhöhe des Antisemitismus, wie 1880 seine geistige dargestellt hatte.“ (Ebd. 155) Mit Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse entlarvten sich – so v. Gerlach – die Antisemiten in den „Volksvertretungen“ als parlamentarisch absolut unfruchtbare Schwätzer. Sie hätten ihren politischen Einfluss verloren: „Mit dem Antisemitismus als politischem Faktor ist es bei uns wirklich aus.“ (Ebd.) Er sollte eines anderen belehrt werden.

Nach nur einer Legislatur endet v. Gerlachs Karriere als Parlamentarier. Als Publizist setzt er sich leidenschaftlich für eine Reform des Parlamentarismus und für Völkerverständigung ein. Der Erste Weltkrieg erscheint dem überzeugten Pazifisten und Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft als Katastrophe. Der Mitbegründer der DDP nutzt seine kurzzeitige Funktion als Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium dazu, für eine Aussöhnung mit Polen zu wirken. Das und sein Eintreten für die Erfüllung des Versailler Vertrags machen ihn zur Zielscheibe reaktionärer Drohungen. Davon unbeirrt, setzt er sein Engagement in der Weltfriedensbewegung fort. Von der DDP führt ihn sein Weg 1930 in die „Radikaldemokratische Partei“. 1931 verlässt er aus politischen Gründen die Redaktion der Welt am Montag und schreibt danach (auch aus pekuniären Gründen, denn er ist Opfer der Inflation) für verschiedene Blätter. Um so mutiger ist es, 1932 für den inhaftierten Carl von Ossietzky die Leitung der Weltbühne zu übernehmen und sich an die Spitze der Petenten für dessen Auszeichnung mit dem Nobelpreis zu stellen. Am 9. Februar 1933 wird v. Gerlach der Reisepass entzogen, am 25.8. die Staatsbürgerschaft aberkannt. Im französischen Exil setzt v. Gerlach sein antinazistisches Engagement im Rahmen der Volksfrontbewegung fort. Er stirbt in Paris am 1. August 1935.

Lit.: Gerlach, Hellmut v., Von Rechts nach Links, hrsg. v. Emil Ludwig, Zürich 1937.Ders.: Erinnerungen eines Junkers. Berlin o.J.Ders., Vom deutschen Antisemitismus, in: Patria! Jahrbuch der Hilfe 1904, S. 141-156. – W. Benz/ H. Graml (Hrsg.), Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, S. 103f.Ruth Greuner, Wandlungen eines Aufrechten, Berlin: Der Morgen 1965. – S.U. Gilbert, Hellmut v. Gerlach. Stationen eines deutschen Liberalen vom Kaiserreich zum Dritten Reich, Frankfurt/ Main 1984. – B.C. Padtberg, Geschichte des deutschen Liberalismus, Sankt Augustin: COMDOC 1988 Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. https://www. bautz.de/bbkl/g/gerlach_h_g.shtml.

Elke Mehnert