Helen Vita
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Helen Vita

Wohlbeh�tetes M�dchen gef�hrdet abendl�ndische Kultur

Helen Vita ist die Meisterin des frivolen Chansons in Deutschland. Sie war im Jahr 1965 erfolgreichste Chansons�ngerin in Deutschland. Von 1963 bis 1966 ver�ffentlichte Helen Vita vier Alben mit dem Obertitel �Freche Chansons�. Ihre Platten verkauften sich, obwohl sie als jugendgef�hrdend galten. Helen Vita war Bestandteil der Sexwelle, die Deutschland ab Mitte der 60er Jahre erfasste. Sie bildete das intellektuelle Gegenst�ck zu den Vulg�rproduktionen, die sich damals in hunderttausenden Auflagen verkauften. 1966/67 waren Produktion und Verkauf ihrer Plaffen kurzfristig verboten.

von W�lz Studer

In den 50er Jahren deckte das deutsche Musikgesch�ft die unerf�llten geografischen Sehns�chte (Italienschlager etc.) des Massenpublikums ab. Ende der 50er Jahre standen die rebellischen Gef�hle der Teenager im Zentrum des gesch�ftlichen Interesses (Teenyidole � la Kraus/Conny/Herold). Diese �ra ging sp�testens 1963 zu Ende. Die Fachleute ahnten, dass die bisherigen Idole ihren Zenit �berschritten hatten. Neue Leute tauchten auf wie Manuela oder Drafi. Noch war aber nicht klar, wohin sich der musikalische Massengeschmack entwickeln w�rde. In dieser Situation entdeckten findige Musikmanager die unerf�llten erotischen und sexuellen Sehns�chte der Deutschen. Bereits 1962 enterte eine Retorten-Gruppe namens "Schock-Kings" mit der nicht jugendfreien Nummer �Lady Chatterley" die deutschen Charts. 1964 hielten sich Peter Lauch und seine Regenpfeifer monatelang hoch in den Hitlisten mit dem Titel "Das kommt vom Rudern, das kommt vom Segeln". Der Song geriet auf den Index, verkaufte sich aber �ber eine Million mal. Nun zog auch das Filmgesch�ft nach. 1965 bildeten "Western, Agenten- und Sexfilme" den Hauptharst der insgesamt 56 Filme, die in Deutschland entstanden sind. 1967 machten Sexfilme mehr als ein Viertel aller deutschen Filmproduktionen aus. Darunter befand sich auch der erste der legend�ren �Oswalt Kolle�-Filme.

Schlager und Filme mit platten M�nnerfantasien versprachen das gro�e Gesch�ft. Diese Musik und diese Bilder wurden vornehmlich heimlich konsumiert. Die Bildungsdeutschen distanzierten sich von dieser Unkultur, obwohl sie sie in schwachen Stunden vermutlich selber konsumierten. Das Bildungsb�rgertum sprach offiziell vom Untergang der abendl�ndischen Kultur. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass die erfolgreichen Vertreter der Sex-Masche in keine Musik-Enzyklop�die Aufnahme gefunden haben, ja dass generell kaum biografisches Material �ber Leute wie Lauch, Laya Raki oder die Schock-Kings zu finden ist.

In der bigotten Atmosph�re zwischen �ffentlicher Ablehnung und heimlichem Konsum fanden die frivolen, aber intelligenten Chansons der Helen Vita einen guten N�hrboden. Die S�ngerin ver�ffentlichte im November 1963 auf Vogue die erste Langspielplatte mit dem Titel "Freche Chansons aus dem alten Frankreich". Die Vita war zu dieser Zeit eine gefragte Filmschauspielerin und Kabarettistin.

Karriere bei Kabarett und Film

Helen Vita kam am 7. August 1928 in Hohenschwanstein als Helen Vita Elisabeth Reichel zur Welt. Ihre Eltern waren beide klassische Musiker. Vater Anton spielte Geige und Mutter Jelena Cello. Das Paar geh�rte in den 30er Jahren zum Ensemble des G�rtnerplatz-Theaters in M�nchen, wo Peter Kreuder Intendant war. Wegen Anti-Nazi-Spr�chen wurde die Familie 1938 in das Heimatland des Vaters, in die Schweiz ausgewiesen. Die Familie lebte in Genf, wo die talentierte Tochter das Konservatorium besuchte. Nach Kriegsende spielte Helen Vita Theater in Paris und wirkte dort auch gleich in einem Film (Torrents, 1946) mit. Ihre Mutter, die inzwischen von Anton Reichel geschieden war, zitierte die Tochter in die Schweiz zur�ck. Mutti sorgte sich um ihre Tochter, die unbeaufsichtigt im fernen Paris lebte. Helen Vita �bersiedelte nach Z�rich, wo sie am Schauspielhaus 1948 unter Bert Brecht in einer Auff�hrung mitwirkte. Ab 1950 begann sie Kabarett zu machen. Sie war Mitglied des renommierten Schweizer Kabaretts "Cafe Federal". Fast gleichzeitig wurde sie f�r den Film entdeckt. Im Schweizer Film �Palace Hotel" (1952) hatte sie ihre erste Rolle in einem deutschsprachigen Film inne. Hier wirkte unter anderen auch Lys Assia mit. Kurze Zeit sp�ter zog Helen Vita nach M�nchen um, wo sie in der "Kleinen Freiheit" ebenfalls Kabarett machte. Auch hier �bernahm sie immer wieder Ausfl�ge ins Filmgesch�ft. Als Lore Schulz, der Dame mit dem offenherzigem Dekolletee im Film "08/15", wurde sie 1954/55 einem breiten Publikum ein Begriff. Der Film war derart erfolgreich, dass davon sogar ein zweiter Teil (08/15 in der Heimat) gedreht wurde.

Bis 1961 geh�rte Helen Vita zum festen Personal des deutschen Unterhaltungsfilms. Sie stand neben Caterina Valente (Bonjour Kathrin), Heidi Br�hl (Ferien auf dem Immenhof), Peter Kraus (Alle lieben Peter) oder Fred Bertelmann (Robert und Bertram) vor der Kamera. In der Zeit von 1946 bis 1961 spielte Helen Vita in rund 30 Filmen mit. Danach sind noch knapp 20 Filme mit ihr gedreht worden. Diese Filme sind qualitativ h�her zu bewerten. Denn in den 70er Jahren geriet Helen Vita in den Kreis um Rainer Werner Fassbinder, mit dem sie ab Mitte der 70er Jahre einige Filme drehte, u.a. Lili Marlen (1981). Zuletzt wirkte Helen Vita 1997 im Streifen "Drei M�dels von der Tankstelle" mit.

...und schlie�lich die Schallplattenkarriere

Helen Vita hatte das literarische und frivole Chanson Mitte der 40er Jahre in Paris kennengelernt. Anfang der 50er Jahre sang sie regelm��ig als Kabarettistin auf der B�hne. Sie sch�tzte vor allem die Titel von Kurt Tucholsky oder Friedrich Holl�nder. Ab 1963 erschienen Langspielplatten mit Helen Vita. Im September 1963 kam bei der Deutschen Grammophon Gesellschaft ein Album mit dem Titel "Literarische Kleinkunst: In der Bar zum Krokodil" heraus. Darauf singt Helen Vita Lieder von Autoren wie Tucholsky, Beda oder anderen. Im Winter 1963 ver�ffentlichte die Deutsche Vogue das erste von vier A1ben der Serie "Freche Chansons". Das Werk tr�gt den Titel "Freche Chansons aus dem alten Frankreich". Begleitet wird die K�nstlerin vom Orchester Raymond Legrand. Die Scheibe schlug ein. Ab Februar war sie in der deutschen Langspielplatten-Hitparade klassiert, wo sie im Juni und Juli als Spitzenklassierung einen sechsten Rang erreichte. In der Jahres-Top-50 der deutschen Album-Charts des Jahres 1964 ist "Freche Chansons aus dem alten Frankreich" auf dem dritten Platz verzeichnet.

Bei den frechen Chansons handelt es sich um frivole franz�sische Nummern, die ins Deutsche �bertragen wurden. Helen Vita tourt mit dem Programm der "Frechen Chansons" nun unentwegt durch das deutschsprachige Europa. Als Mittdrei�igerin und Mutter von zwei S�hnen - Helen Vita hat in den 50er Jahren den Schweizer Komponisten Walter Baumgartner geheiratet - hat sie endlich ihre Berufung gefunden. Die Frau, die in der Star-Revue bereits in den 50er Jahren als eine "Mischung aus Lebenshunger und Phlegma, Naivit�t und Raffinesse, Frivolit�t und herzhaftem Humor" dargestellt wurde, erreicht den H�hepunkt des Erfolges. Im Dezember 1964 gibt die Vogue das Album "Noch frechere Chansons aus dem alten Frankreich" heraus. Auch diese Langrille erreicht die Albumcharts und steigt im Mai 65 bis auf Platz f�nf. In der Jahresabrechnung ist das Album auf Platz sieben verzeichnet. Der Erfolg auf dem Plattenmarkt tr�gt Helen Vita 1965 den Titel der erfolgreichsten Chansons�ngerin Deutschlands ein, vor Hildegard Knef und Francoise Hardy (!). 1966 erreicht sie in dieser Kategorie Platz zwei, hinter Hildegard Knef, aber vor Mireille Mathieu.

In den beiden Jahren 65 und 66 wird Helen Vita jeweils mit dem "Preis der deutschen Schallplattenkritik" ausgezeichnet.

Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Auszeichnungen und des kommerziellen Erfolges erregten die frechen Werke von Helen Vita Ansto�. Anst�ndige B�rger distanzieren sich von den Programmen der K�nstlerin. Noch geschieht nichts. Ihre Platten werden verkauft und in den Charts verzeichnet.

Im November 1965 ver�ffentlicht Vogue das dritte Album von Helen Vita. Es tr�gt den Titel "Die frechsten Chansons aus dem alten Frankreich". Als Produzent zeichnet Hans R. Beierlein. Auch diese Scheibe klassiert sich in den Charts.

Vita ger�t auf den Index

Die Situation eskaliert im Jahr 1966. Im Sp�tsommer erscheint "Die allerfrechsten Chansons aus dem alten Frankreich" das vierte und wie es sich zeigen sollte auch das letzte A1bum der Serie "Freche Chansons". Es erreicht die Charts.

In den Album-Charts wird auf Platz 30 jedoch kein Titel genannt. Es steht dort einzig folgender Verweis: "Ver�ffentlichungs-Angaben der auf dieser Position platzierten Langspielplatte siehe Musikmarkt Heft 9/66 vom 15. September, Seite 1.

An der genannten Stelle liest man: "Nach den Bestimmungen des Jugendschutz-Gesetzes ist es Musikmarkt nicht m�glich, jugendgef�hrdende Schallplatten-Ver�ffentlichungen f�r den Fall, dass sie Positionen in den Hit-Paraden-Plakaten erreichen, mit Titel-, Interpreten- und Firmenangaben auszudrucken... Dies ist bei der vorliegenden Ausgabe des Musikmarktes und seiner Hit-Paraden-Plakate vom 15. September erstmals geschehen.

Die Position 30 der Langspielplatten-Hit-Parade weist aufgrund der Verkaufsergebnisse in der Bundesrepublik die erfolgreiche "Golden 12"-Langspielplatte mit dem Titel "Die allerfrechsten Chansons aus dem alten Frankreich", Interpretin Helen Vita, Bestellnummer: Golden 12-LP 2501, aus".

Helen Vita als Gef�hrdung der abendl�ndischen Kultur

Die Alben der Helen Vita stehen zwar auf dem Index, aber sie d�rfen weiterhin verkauft werden an Erwachsene. Im Dezember 1966 erwirkt das Amtsgericht in K�ln einen Stopp von Produktion und Verkauf von Helen Vita-Platten. Begr�ndet wird das Urteil damit, dass der Inhalt der Helen Vita-Werke eine Gef�hrdung der abendl�ndischen Kultur darstelle. Anfangs '67 konfisziert die Polizei in den Gesch�ften Platten von Helen Vita. Erst nach monatelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen werden im Oktober 1967 die Alben von Helen Vita wieder zum Verkauf an �ber 21-J�hrige freigegeben.

Interessant an der Sache ist der sp�te Zeitpunkt, zu dem gegen die Werke von Helen Vita vorgegangen wird. Noch 1965 lehnte ein Gericht in Frankfurt ab, die Platten der Vita zu konfiszieren. Ein m�glicher Grund ist der, dass die Werke von Vita als Literatur betrachtet wurden, solange sie bei Vogue unter Vertrag war. Als sie 1966 zu Golden 12 wechselte, dem Label, bei dem auch Peter Lauch (Das kommt vom Rudern) unter Vertrag stand, setzten die Gerichte offenbar die eher literarisch angehauchten Werke der Helen Vita auf die gleiche Ebene wie die Trivialwerke eines Peter Lauch und damit auch auf den Index.

Ende 1966 wird bekannt, dass die Albumserie "Freche Chansons" die bestverkaufte bisher �berhaupt in Deutschland ist. Dennoch hat die Masche mit Sex und Frivolit�ten ihren H�hepunkt �berschritten. Die Beatbands gehen das Thema direkter und musikalisch weniger verstaubt an. Helen Vita kehrt zum Film zur�ck und dreht einige Sexfilme und findet sp�ter zum seri�sen Gesch�ft zur�ck. Sie tourt mit eigenen Programmen und im Trio mit Brigitte Mira und Evelyn K�nneke als "Drei alte Schachteln". Zum 70. Geburtstag stellt sie das Programm �Die Alte singt ja immer noch" vor. 1986 wird sie f�r ihre Arbeit mit dem deutschen Kleinkunstpreis ausgezeichnet.

Helen Vita: Erste deutsche Album-K�nstlerin

Helen Vita geht als erste deutsche Album-K�nstlerin in die Popgeschichte ein. Anfang der 60er Jahre wurden mehr Singles als LP's verkauft. Das Publikum zahlte die h�heren Scheiben f�r die Langrille einzig bei Musicals und Operetten widerspruchslos. Die aktuellen Pop-K�nstler machten ihre Ums�tze mit Singles. Ohne Singles ging im Schallplattengesch�ft in den fr�hen 60er Jahren gar nichts. Die Erste, die zeigte, das so etwas geht, war Helen Vita. Sie hat, soweit mir bekannt, nur eine Single ver�ffentlicht und dennoch m�chtig Platten verkauft. Neben ihren vier Alben zum Thema "Freche Chansons" sind in den 60er Jahren auch diverse kabarettistische A1ben erschienen.

Helen Vita wird wohl auch die einzige deutsche K�nstlerin bleiben, die je in einer Hitparade klassiert war, ohne dass ihr Name aufgef�hrt war.

Erste Album-K�nstlerin und einzige indexierte Hitparadenklassierung, zwei Besonderheiten in der deutschen Popgeschichte, die der eigenwilligen und wohl auch etwas exaltierten Dame gerecht werden.

Helen Vita verstarb am 16. Februar 2001 in einem Berliner Krankenhaus.

Discographie

LPs

Vogue

18001
(1963)
Freche Chansons aus dem alten Frankreich
18002
(1964)
Noch frechere Chansons aus dem alten Frankreich
19001
(1965)
Die frechsten Chansons aus dem alten Frankreich

Golden 12

2501
(1966)
Die allerfrechsten Chansons aus dem alten Frankreich
34 058
(1963)
in der Bar zum Krokodil Helen Vita singt 4 Chansons von Beda/Fitz Tucholsky, Gilbert und Hannes

Polydor

237 806
(1965)
Wir sind s�ss, aber doof (Helen Vita und Edith Hanke)

aus: memory - Magazin f�r Freunde deutscher Oldies, Nr. 69 (1. August 2004)