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Heinz Keßler war die DDR in Person

Leitender Redakteur Geschichte

Unbeugsam bis zuletzt: Noch mit über 90 Jahren behauptete Heinz Keßler, dass die Nationale Volksarmee der DDR (NVA) niemals einen Krieg geführt habe. Auf diese Weise stilisierte sich der dritte und letzte Verteidigungsminister der SED-Diktatur zum Pazifisten – erstaunlich für einen Mann, der fast ein halbes Jahrhundert lang Uniform getragen hat. Dabei unterschlug Keßler allerdings, dass die NVA, besonders die ihr seit Herbst 1961 unterstellten Grenztruppen der DDR, 28 Jahre lang einen steten, unerklärten Krieg gegen die eigene Bevölkerung führte. Denn die „pioniertechnischen Anlagen an der Staatsgrenze der DDR“ waren immer nach innen gerichtet, sie dienten nie der Verteidigung gegen äußere Feinde oder potenzielle Eindringlinge. Mehr als Tausend Menschen fielen diesem nie erklärten, aber dauerhaften Konflikt zum Opfer. Jetzt ist Heinz Keßler, im Alter von 97 Jahren, in Berlin gestorben. Damit schließt sich ein Kreis, denn wie wohl kein anderer NVA-Offizier personifizierte er die gesamte Geschichte der DDR.

Geboren am 26. Januar 1920 im industriell geprägten Schlesien, zog seine kommunistisch gesinnte Familie 1923 ins gleichfalls von Industriearbeitern dominierte Chemnitz um. Keßler wurde schon als Kind im Sinne der KPD politisch geprägt. Er absolvierte die Volksschule und begann 1934 mit einer Ausbildung zum Maschinenschlosser, bevor er 1940 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Als Infanterist nahm er am Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion teil und nutzte die erste Gelegenheit, um am 15. Juli 1941 zur Roten Armee überzulaufen. Das NSRegime reagierte darauf, indem Keßlers Mutter in Sippenhaft genommen und ins KZ Ravensbrück gesperrt wurde. Der junge Kommunist stieg auf der sowjetischen Seite der Front rasch auf: Er wurde als Propagandist ausgebildet und gehörte zur künftigen Elite des geplanten Sowjetdeutschlands. Unmittelbar nach der Kapitulation der Wehrmacht kehrte er nach Berlin zurück und übernahm erste politische Aufgaben, vor allem als Jugendfunktionär. Er war gerade einmal 25 Jahre alt. Im Juni 1945 traf er seine Mutter wieder, die das KZ überlebt hatte.

Die Karriere Keßlers verlief von nun an in vorgezeichneten Bahnen: Er wurde Mitbegründer der kommunistischen Jugendorganisation FDJ und stieg unmittelbar nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED im April 1946 zum Mitglied des Parteivorstandes auf – damit gehörte er bereits zu den 80 wichtigsten Parteifunktionären. 1956 wurde Keßler einer der Stellvertreter des ersten Verteidigungsministers der DDR, Willi Stoph. Von nun an bis knapp ein Jahr vor dem Ende der NVA 1990 war er der zweite, in den letzten gut vier Jahren sogar der erste Mann der ostdeutschen Streitkräfte – mitverantwortlich für alles, was die „bewaffneten Organe der DDR“ taten.

Den Zusammenbruch der DDR erlebte Keßler in Untersuchungshaft, denn er wurde am 24. Januar 1990, zwei Tage vor seinem 70. Geburtstag, festgenommen. Der erste, leicht zu beweisende Vorwurf: Verschwendung auf Kosten des Volksvermögens. Nach einigen Wochen kam er wieder frei, um allerdings schon 1991 erneut verhaftet zu werden – wegen Flucht- und Verdunklungsgefahr. Der Vorwurf im Prozess gegen die DDR-Staatsführung lautete auf Totschlag wegen einiger der Toten der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer. Nachdem Erich Honecker aus gesundheitlichen Gründen ins chilenische Exil ausreisen durfte und der Angeklagte Willi Stoph wegen Verhandlungsunfähigkeit aus dem Verfahren ausgeschieden war, blieb Keßler als ranghöchster Angeklagter übrig. Er erhielt siebeneinhalb Jahre Haft, die er auch fast vollständig absaß: Im Frühjahr 1998 wurde er aus Gesundheitsgründen ein halbes Jahr vorzeitig aus der Haft entlassen.

In den folgenden 19 Jahren profilierte er sich als überzeugter Verteidiger der SED-Diktatur – nicht anders als etwa Margot Honecker. Die direkte Nachfolgerin der SED, die Linkspartei, war Keßler zu moderat, weshalb er der sektiererischen DKP beitrat. 2011 kandidierte er für sie sogar bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, natürlich erfolglos. Bei Auftritten und in Publikationen versuchte er, die NVA zur „Friedensarmee“ zu stilisieren, und fand bei Veteranen dafür Anerkennung. Noch Ende 2016 erschien unter seinem Namen und dem seines langjährigen Gefolgsmanns und NVA-Stabschefs Fritz Streletz eine Neuauflage des Buches „Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben“. Der Titel fasst die Lebenslüge von Heinz Keßler prägnant zusammen.

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