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Zweiter Weltkrieg Heinrich Müller

Die bizarre Karriere des toten Gestapo-Chefs

Seit 1945 wurde nach Heinrich Müller gefahndet. Man wähnte den SS-General in der UdSSR, in Albanien, in Südamerika. Jetzt wurde sein Grab in Berlin entdeckt – auf einem jüdischen Friedhof.
Heinrich Müller (r.) im Kreis der SS-Führungsriege 1939. Die übrigen Herrschaften sind (v. l.): Franz Josef Huber, Arthur Nebe, Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich Heinrich Müller (r.) im Kreis der SS-Führungsriege 1939. Die übrigen Herrschaften sind (v. l.): Franz Josef Huber, Arthur Nebe, Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich
Heinrich Müller (r.) im Kreis der SS-Führungsriege 1939. Die anderen Männer sind (v. l.): Franz Josef Huber, Arthur Nebe, Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich
Quelle: picture-alliance / United Archiv

In den letzten Tagen des Dritten Reiches soll sich folgende Geschichte zugetragen haben: In der Nacht vom 29. auf den 30. April, wenige Stunden bevor Adolf Hitler seinem Leben ein Ende setzte, erreichte ein hochrangiger SS-Offizier eines der letzten Flugzeuge, die Berlin noch verlassen konnten. Er erreichte wohlbehalten die Schweiz, im Gepäck hatte er zahlreiche Geheimdokumente.

Diese sollen beweisen, dass zum Beispiel das Massaker an 33.000 Juden in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew 1941 nicht von deutschen Einsatzgruppen, sondern von ukrainischen Partisanen verübt wurde. Auch soll die Zahl „nur“ bei 3000 gelegen haben. Deutsche Sonderkommandos hätten die Täter daraufhin hingerichtet. Der Gewährsmann, der solche Informationen aus der Schlacht um Berlin rettete, soll auch über dem Münsteraner Kardinal und NS-Gegner Clemens August von Galen seine schützende Hand gehalten haben. Der Name dieser obskuren Gestalt: Heinrich Müller.

„Gestapo-Müller“, wie er zur besseren Abgrenzung von Namensvettern genannt wurde, war von 1939 bis 1945 Chef der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), zuletzt im Rang eines SS-Gruppenführers und Generalleutnants der Polizei. Als Leiter des Amtes IV im Reichssicherheitshauptamt war er Vorgesetzter von Adolf Eichmann und einer der Hauptverantwortlichen für die nationalsozialistischen Verbrechen. Der Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz, Rudolf Höß, charakterisierte Müller als „eiskalten Vollstrecker“ aller Befehle von seinem SS-Reichsführer Heinrich Himmler.

Aber was das „Musterbild eines gefühlsrohen, persönlich von dem, was er tat, völlig unberührten Polizeifunktionärs“ (so der Historiker Robert Wistrich) zu einer wirklich schillernden Figur machte, war sein Abgang. Sicher ist, dass er noch am 29. April im Bunker der Reichskanzlei gesehen wurde. Dann verliert sich seine Spur oder besser: Dann begann Müller eine neue Karriere. Vor allem als Kronzeuge für die bizarrsten Geschichtsfälschungen wird er seitdem in neonazistischen Kreisen herumgereicht.

Spuren im Standesamt in Berlin-Mitte

Doch damit dürfte jetzt Schluss sein. „Müller hat das Kriegsende nicht überlebt. Seine Leiche wurde 1945 auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Mitte in einem Massengrab beigesetzt“, zitiert „Bild“ den Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, Johannes Tuchel. Der verweist auf neue Funde in Archiven. Danach wurde Müllers Leiche im August 1945 in einem provisorischen Massengrab unweit des Reichsluftfahrtministeriums gefunden und anhand seiner Uniform und seines Dienstausweises eindeutig identifiziert. Sein Tod wurde 1945 auch vom Standesamt Berlin-Mitte beurkundet, sagte Tuchel zu „Bild“. Als Grablage wurde der Jüdische Friedhof angegeben.

Damit endet die Suche nach einem der meistgesuchten NS-Verbrecher. Wie wenige verkörperte Müller, 1900 als Sohn eines katholischen Polizeibeamten in München geboren, den Typus des skrupellosen Schreibtischtäters. Im Ersten Weltkrieg diente er noch kurz als Unteroffizier und trat anschließend in den bayerischen Polizeidienst ein. Dort machte er sich bei der Politischen Polizei bald als Spezialist für kommunistische Aktivitäten einen Namen. Seine Arbeit für den demokratischen Staat erledigte Müller offenbar so gut, dass ihm die örtliche NSDAP nach 1933 lange die Mitgliedschaft verweigerte und ihn sogar feindlicher Umtriebe verdächtigte.

Aber Müller fand einen anderen Weg, sich mit dem Regime zu arrangieren. Er wurde früh Mitglied der SS und machte im Gefolge Himmlers und seines Polizeichefs Reinhard Heydrich schnell Karriere. Beide protegierten den gedrungenen Mann mit den ausdruckslosen Gesichtszügen, der seine Arbeit hochprofessionell und ohne Murren erledigte und auch delikate Aufgaben zu vollster Zufriedenheit löste. So organisierte er 1939 den vermeintlichen Überfall polnischer Soldaten auf den Sender Gleiwitz, eine Aktion, mit der Hitler den Überfall auf Polen begründete. Von da an gehörte Müller zu den führenden Männern des SS-Terrorapparats.

Zahlreiche Befehle belegen seine Verantwortung für den Holocaust. So unterschrieb er Anfang 1943 den Todesbefehl für 45.000 Juden in Auschwitz. Auch ordnete er 1944 die Erschießung britischer Offiziere an, denen die Flucht aus einem Gefangenenlager bei Breslau gelungen war. „Er machte den Massenmord zu einem routinemäßigen Verwaltungsakt“, urteilt der britische Historiker Robert Wistrich.

Verschwörungstheorien und Desinformation

Die Jagd auf diesen Schreibtischtäter wurde nach 1945 zu einer grotesken Spionagegeschichte, die um die Welt ging. Zeugen wollten ihn in Albanien, Rumänien, Südafrika oder Südamerika gesehen haben. US-Geheimdienste hätten sich beizeiten seiner Mitarbeit versichert, hieß es. Oder sowjetische Spezialisten hätten ihn nach Moskau gebracht, nachdem er 1945 gerade noch rechtzeitig die Seiten gewechselt hätte. Müller halte sich unter dem Namen Amin Rashad verborgen, halte aber Kontakt mit seinen Angehörigen. Oder seine Scheinexistenz werde vom KGB zur Desinformation im Kalten Krieg genutzt.

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Da passte es gut, dass 1963, kurz nach dem Eichmann-Prozess in Jerusalem, auf dem Friedhof an der Lilienthalstraße in Berlin-Kreuzberg Müllers vermeintliches Grab gefunden wurde. Dass die forensische Untersuchung des Inhalts dies aber widerlegte, bereicherte die Nachkriegskarriere Müllers nur um eine weitere Volte.

Das dürfte sich nach Tuchels Funden erledigt haben. Als Quelle rechtsradikaler Verschwörungstheorien hat Müller ausgedient. Dafür wird er als weiteres Beispiel in die Geschichte eingehen, wie sowjetische und DDR-Behörden sich der braunen Vergangenheit bedient haben. Denn Ost-Berliner Stellen waren bei der Suche nach Müller verschlossen. Kaum denkbar, dass der Eintrag im Standesamt Berlin-Mitte den systematischen Recherchen der Staatssicherheit nach verwertbarem NS-Material entgangen ist. Dennoch ließ man ihn liegen, wo er war.

Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, kommentiert denn auch: „Dass einer der brutalsten Nazi-Sadisten auf einem jüdischen Friedhof begraben ist, das ist eine geschmacklose Ungeheuerlichkeit.“ Damit werde das Andenken der Opfer mit Füßen getreten.

Jüdischer Friedhof in der Großen Hamburger Straße in Berlin-Mitte. Hier soll Heinrich Müller 1945 in einem Massengrab beerdigt worden sein
Jüdischer Friedhof in der Großen Hamburger Straße in Berlin-Mitte. Hier soll Heinrich Müller 1945 in einem Massengrab beerdigt worden sein
Quelle: picture-alliance

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